Verlogene Abtreibungsdebatte

 In Allgemein

Ungeborenes Leben verdient unseren Respekt — geborenes auch. Abtreiben oder nicht? Die Entscheidung ist so vielschichtig und so schwerwiegend in ihren Folgen, dass eigentlich mehr Information nötig wäre. Und was verordnet der Staat als „Lösung“ für dieses Dilemma: weniger Informationen seitens geeigneter Arztpraxen. In der Abtreibungsfrage stehen sich zwei Fronten unversöhnlich gegenüber: Die „Mein-Bauch-gehört-mir“-Fraktion degradiert das ungeborene Kind gern zum „Ding“, um die seelische Verarbeitung seiner Tötung durch die Mutter — nur scheinbar — zu erleichtern; „Lebensschützer“ dagegen erzwingen eine Geburt und verursachen damit mitunter für beide Seiten schwere Traumata. Überforderte Eltern stehen Kindern gegenüber, die ihr Leben lang unter dem Gefühl leiden, besser nicht geboren worden zu sein. Um eine verantwortbare Entscheidung zu treffen, müssen Schwangere das Ungeborene als menschliches Leben ernst nehmen — und die Gesellschaft muss der Entscheidung betroffener Frauen vertrauen. Birgit Assel

Zurzeit gibt es wieder eine große Debatte um den Paragrafen 219 a des deutschen Strafgesetzbuchs. Anfang des Jahres hatten sich die Regierungsparteien auf den Kompromiss geeinigt, dass Ärzte, die in ihrer Praxis auch Abtreibungen vornehmen, diese Information zwar auf ihrer Webseite publizieren, jedoch keinerlei weitergehende Informationen bereitstellen dürfen. Dabei ist es ein Segen, dass Frauen heute medizinisch begleitet werden, wenn sie sich für einen Abbruch der Schwangerschaft entscheiden und nicht — wie früher — zu irgendwelchen „Engelmachern“ gehen oder es selbst mit „Stricknadeln“ oder „Mutterkorn“ versuchen und dabei sogar ihr Leben gefährden müssen.

Die verlogene Debatte in den politischen Parteien

In meiner traumatherapeutischen Praxis begleite ich Menschen, die damals so einen Abtreibungsversuch überlebt haben, davon aber lange Zeit nichts wussten. Stattdessen haben sie Symptome entwickelt, für die sie keine Erklärung hatten. Für Menschen, die eine Abtreibung überlebt haben, die ungewollt und ungeliebt das Licht der Welt erblickt haben, beginnt ihre Traumabiografie schon sehr früh. Und es folgen sehr wahrscheinlich weitere Traumatisierungen, es sei denn, die Frau „verliebt“ sich nach der Geburt doch noch in das ungewollte Kind — was leider nur selten der Fall ist. Diese Kinder tragen die Bürde, das Leben ihrer Mutter „versaut“ zu haben, sie fühlen sich immer als „zu viel“ und leben mit dem Gefühl, am besten nicht geboren worden zu sein.

Der Paragraph 218 stellt einen Schwangerschaftsabbruch auch heute noch unter Strafe. Das kann nicht sein – schließlich geht es darum, wie sich das Leben zweier Menschen weiter entwickeln wird, das der Frau und das des Kindes. Ein Kind, das ungewollt und ungeliebt auf die Welt gebracht wird, leidet darunter sein ganzes Leben. Auch wenn das Kind nach der Geburt zur Adoption frei gegeben wird oder in einer „Babyklappe“ landet, ist es für den Rest seines Lebens schwer traumatisiert.

Da heißt es immer so schön: Das ungeborene Leben muss geschützt werden, doch es wird nicht gesagt, wovor!

Die AFD und die CDU/CSU führen hier eine moralisch verlogene Debatte und haben dabei überhaupt nicht die Frau und das ungeborene Lebewesen im Blick. Und die Jusos, die Paragraf 218 ganz und damit auch die Fristenregelung abschaffen wollen, wissen offensichtlich auch nicht genau, worüber sie da reden: Ein Kind wird nach dem vierten Schwangerschaftsmonat geboren — einfach „abtreiben“ ist dann nicht mehr möglich. Im vierten Monat ist dieser kleine Mensch eine Handvoll Leben, mit allem, was zu einem Menschen dazugehört.

Dieses kleine lebende Wesen bekommt dann eine Todesspritze direkt in sein kleines Herz; danach wird die Geburt eingeleitet. Aufgrund der vielen pränatalen Untersuchungen werden immer öfter Frauen zu einer Abtreibung genötigt, weil nicht eindeutig gesagt werden kann, ob das Kind auch wirklich gesund ist (1). Schon im Jahr 1999 schrieb Zeit-Online über „Die stille Selektion“.

Die Frauen bekommen dann vielleicht folgende Sätze zu hören: „Es kann sein, dass Ihr Kind ein Leben lang ein Pflegefall ist, dass es nie selbstständig wird, wollen Sie das wirklich? Es werden viele Behandlungskosten auf Sie zukommen, die die Krankenkassen nicht bezahlen, so dass Sie auch finanziell in Not geraten können. Überlegen Sie sich gut, ob Sie so ein Risiko eingehen wollen!“ (2).

Was mich an dieser Debatte um die Paragraphen 218 und 219 a irritiert, ist, dass über Frauen gesprochen wird, doch nicht mit ihnen. Wie verlogen ist das alles!

Das Recht auf Selbstbestimmung einer Frau für oder gegen ein Kind

Für mich ist klar, dass eine Frau selbst darüber bestimmen muss, ob sie ein Kind zur Welt bringen möchte oder nicht. Doch wie die Debatten inzwischen laufen, ist erschreckend. So sprach etwa Stefan Schulz in dem „Aufwachen Podcast 356“ (3) immer wieder von der Gebärmutter, als sei diese ein irgendwie geartetes Organ im Körper der Frau, in dem sich — wie auch immer das passiert ist — etwas „einnistet“, das irgendwann einmal ein neuer Mensch werden soll.

Die Frau scheint — so hört es sich bei Schulz an — nichts mit ihrer Gebärmutter zu tun zu haben. Und da dieses „komische“ Ding im Körper der Frau anscheinend eigenständig „handelt“, ohne Absprache mit dem Gesamtorganismus, kann dieses Organ auch so behandelt werden: Nee, nee so war das nicht geplant! Was du da eigenständig entschieden hast, wollen wir als Ganzes aber nicht haben. Das machen wir einfach weg, wie Kopfschmerzen mit einem Aspirin. — Doch so einfach ist das nicht und ich kenne keine Frau, die sich leichten Herzens für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat.

Überhaupt nicht mit in die Betrachtung einbezogen wird, wie sehr der Körper einer Frau sich verändert, bevor sie überhaupt weiß, dass sie schwanger ist. Und diese Veränderung geht nicht spurlos an ihrer Psyche vorbei. Sie wird von Schwangerschaftshormonen überflutet, sie kommt in Gefühlszustände, die ihr vorher unbekannt waren. Die meisten Frauen, die ungewollt schwanger sind, wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen: Da ist viel Verzweiflung, gepaart mit Schuld- und Schamgefühlen. Sie fühlen sich überfordert, sie fühlen sich ihrem Körper ausgeliefert, der in ihren Augen anscheinend etwas entschieden hat, ohne das mit ihnen abzustimmen.

Frauen in solch einer Situation brauchen Hilfe — und zwar wirkliche Hilfe. Sie müssen das Recht haben, über ihren Körper zu bestimmen; schließlich sind sie es, die ihren Körper diesem neuen Leben zur Verfügung stellen müssen. Keine Frau lässt bedenkenlos ein Kind abtreiben, einfach so …; es ist ein schwerer körperlicher Eingriff, der wiederum auch nicht ohne Folgen für die Psyche bleibt.

Eine Abtreibung bleibt nicht ohne psychische Folgen

Ich kenne Frauen, die sich in einer Notlage für eine Abtreibung entschieden haben und später Kinder bekommen haben. Dieses abgetriebene Kind kann oftmals nicht vergessen werden und belastet auch die Kinder, die später geboren werden. So sagte eine Frau zu mir: Ich muss immer noch oft daran denken, als ich zum ersten Mal schwanger war und mich gegen dieses Kind entschieden habe. Heute habe ich zwei lebende Kinder und muss immer daran denken, dass es eigentlich drei wären. Dieser Gedanke lässt mich nicht los. Vielleicht wäre es ja doch möglich für mich gewesen, dieses Kind zur Welt zu bringen, vielleicht hätte ich es doch geschafft. Ja, mein Leben wäre dann anders verlaufen und rational weiß ich auch, dass ich damals die richtige Entscheidung getroffen habe. Doch gefühlsmäßig hänge ich fest, ich kann einfach nicht loslassen.

Die Schuldgefühle belasten die Beziehung zu ihren geborenen Kindern, die nichts davon wissen, dass ihre Mutter ein Kind abgetrieben hat. Sie fühlt sich ihnen gegenüber schuldig.

Für Stefan Schulz existiert noch kein Mensch vor der 12. Schwangerschaftswoche, also kann er auch noch kein Recht auf Leben haben. Was für eine arrogante Haltung dem Leben gegenüber. Dabei vergisst er die Frauen, die in dieser frühen Zeit eine Fehlgeburt erleiden und sehr wohl ihr Ungeborenes als ein Menschenleben wahrgenommen haben.

Es geht nicht um ein Recht auf Leben, das Leben ist einfach schon da. Es geht hier auch nicht um das Recht des Ungeborenen, das auch vor der 12. Woche schon als eigenständiges kleines Menschenwesen existiert, mit ganz einzigartigen Merkmalen und Eigenschaften, sondern es geht um das Recht der Frau einzuschätzen, ob sie sich in der Lage sieht, diesem kleinen Menschen ein würdiges Willkommen und Leben hier auf diesem Planeten zu ermöglichen.

Eine fatale Debatte ist, dass wir uns um das Ungeborene sorgen, doch nicht um die Frau, die sich gegen eine Schwangerschaft entschieden hat. Wenn ein Mensch nicht geboren wird, dann kann er sich schwerlich Gedanken machen, warum er nicht geboren werden durfte, warum seine Mutter ihn nicht wollte oder gar wütend sein, dass er einfach so abgetrieben wurde.

Frauen, die sich für eine Abtreibung entscheiden, brauchen psychologische Hilfe ohne eine moralische Debatte

Es muss um die Gefühle der Frau gehen, die sich für so einen Eingriff entscheidet. Es braucht psychologische Hilfe, um eine Abtreibung gut zu verarbeiten, damit sie auch psychisch integriert werden kann. Ist das nicht der Fall, dann wird eine Abtreibung traumatisch erlebt: Im Körper der Frau passiert etwas, auf das sie keinen Einfluss hat und sie muss jetzt entscheiden, ob sie das Kind will oder nicht. Entscheidet sich die Frau für einen Abbruch, muss sie sich Ärzten anvertrauen, die diesen Eingriff vornehmen, und liefert sich wieder aus. Nach dem Abbruch fällt ihr Hormonspiegel rasant ab — und auch das macht etwas mit der Frau. Es ist doch völlig ignorant zu behaupten, eine Abtreibung ist wie eine „verspätete Verhütung“ — eine Aussage von Stefan Schulz in dem besagten Podcast.

Es ist gut und richtig, dass eine ungewollte Schwangerschaft rechtzeitig abgebrochen werden kann und damit sichergestellt wird, dass das kleine Wesen sich nicht mehr weiter entwickeln kann.

Das ist noch nicht lange so. In meiner Generation gibt es viele Menschen, die eine versuchte Abtreibung im Mutterleib überlebt haben, weil diese unprofessionell durchgeführt worden war. In meiner Arbeit zeigt sich, dass diese kleinen Menschenwesen in einen frühen Todeskampf verwickelt waren: Sie sollten nicht sein, sind aber dennoch geblieben. Dieser frühe Todeskampf hat Auswirkungen auf ihr ganzes Leben. Genauso ist es vorgekommen, dass bei einer Zwillingsschwangerschaft ein Kind im Bauch getötet wurde und das andere überlebt hat, was fatale Auswirkungen auf das überlebende Kind hat.

Es ist verrückt, so lapidar über ungeborenes und geborenes Leben zu sprechen, ohne ein Bewusstsein dafür zu haben, wann Psyche und Leben überhaupt anfangen. Aus der pränatalen Forschung und Psychologie wissen wir heute, dass unsere Vorstellungen nicht mit der Realität übereinstimmen. Ein acht Wochen altes Kind im Mutterbauch ist ein reines Gefühlswesen, doch um das zu realisieren, müssen wir uns mit dieser Forschung beschäftigen. Einfacher ist es natürlich, von einer „schwangeren Gebärmutter“ zu sprechen und das Ungeborene zu einem „Objekt“ zu machen, was sich da einfach — ohne zu fragen — eingenistet hat.

Für eine Frau, die sich für einen Abbruch entscheidet, ist das die einzige Lösung; sie macht das „Ding“ in ihrem Bauch zu einem Objekt, dass sie loshaben will. Anders kann sie nicht damit umgehen. Nicht weil es keine andere Möglichkeit gibt, sondern weil ihr das so suggeriert wird und sie es sich selbst auch so suggeriert.

Wie anders wäre es, wenn die Frau darüber aufgeklärt wird, dass es eben kein „Ding“ in ihrem Körper ist, sondern ein kleiner Mensch, der für lange Zeit auf die totale Fürsorge von ihr angewiesen ist, um sich gut in dieser Welt entfalten zu können? So hätte sie die Möglichkeit, in vollem Bewusstsein zu entscheiden: Das kann ich in meiner derzeitigen Situation nicht gewährleisten. Ich entscheide mich ganz bewusst, dieses Kind nicht zur Welt zu bringen, um es davor zu schützen, ungewollt und ungeliebt sein Leben verbringen zu müssen. Dann ist ein Abschied in Liebe möglich und die Frau weiß genau, dass sie für sich und ihr Kind die richtige Entscheidung getroffen hat.

Dazu gehören auch die normalen Trauergefühle jeder Frau, die sich gegen ein Kind entschieden hat. Diese Gefühle müssen dann nicht verdrängt und abgespalten werden, sondern bekommen einen angemessenen Raum im Leben der Frau. Sie wird diese Entscheidung dann auch nicht mehr vor anderen Menschen verheimlichen müssen und auch nicht vor den später geborenen Kindern. Sie hat eine ganz bewusste Entscheidung für das Kind und für sich getroffen.

In meiner Praxis hole ich solche Trauerprozesse mit Frauen nach, die viele Jahre später mit Schuld- und Schamgefühlen überflutet werden und mit mir zum ersten Mal in ihrem Leben über die Abtreibung sprechen können. Die Gründe für eine Abtreibung sind vielseitig, manchmal sogar nicht einmal selbstbestimmt. Da hat der Vater des Kindes gedroht: Wenn du dieses Kind bekommst, verlasse ich dich. Oder Eltern haben bei ihren Töchtern, die sehr jung ungewollt schwanger wurden, auf eine Abtreibung bestanden.

Was Frauen brauchen, wenn sie ungewollt schwanger wurden, können nur sie selbst wissen und niemand anders. Als Mutter von zwei Kindern und inzwischen Oma von Zwillingen ärgere ich mich maßlos über Menschen, die meinen, über Abtreibungen reden zu können, als sei das mal einfach so eine leichte Entscheidung. Sie machen damit die Frau und ihr ungeborenes Kind zu einem Objekt und brüsten sich aber mit der „Selbstbestimmung der Frau“ und deren Recht auf eine Abtreibung. Auch die Verantwortung der Männer spielt in dieser Debatte anscheinend überhaupt keine Rolle, doch schließlich gehören immer zwei dazu, wenn ein neues Leben entsteht.

Frauen zu kriminalisieren, wenn sie sich gegen eine Schwangerschaft entscheiden, ist in meinen Augen menschenverachtend — sowohl der Frau als auch dem Ungeborenen gegenüber.

Quellen und Anmerkungen:

(1) Hey, Monika (2012). Mein gläserner Bauch. München: Deutsche Verlagsanstalt.
(2) Ruppert, Franz (2014). Frühes Trauma — Schwangerschaft, Geburt und erste Lebensjahre. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
(3) https://www.youtube.com/watch?v=1swMh5moYN0 , Min. 22:10

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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