Vertafelung und Angstgesellschaft

 In Christine Wicht, Politik (Inland)

Scherl:
Berlin 1924
Speisung für arme Kinder in Berlin.
1051-24

Stefan Selke ist Soziologiprofessor an der Hochschule Furtwangen mit dem Lehrgebiet “Gesellschaftlicher Wandel”. Er befasst sich seit Jahren mit der Armut in Deutschland, hat Suppenküchen, Kleiderkammern, Tafelausgabestellen besucht, mit Betroffenen gesprochen und über seine Erfahrungen ein Buch mit dem Titel „Schamland – Die Armut mitten unter uns“ geschrieben. Christine Wicht interviewte ihn zu sozialen Situation in Deutschland. Dabei geht Selkes Analyse über die Kritik an der „Arbeitsteilung“ zwischen Hartz IV, Lohndumping betreibender Wirtschaft und Almosensystem hinaus. Zu hinterfragen ist die dahinterliegende, entsolidarisierende Philosophie des „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Unsere „Angst- und Kontrollgesellschaft“ markiert den Übergang zu einem negativen Bild vom Menschen, der angeblich nur durch Druck, Überwachung und Unterwerfung zu bändigen ist.

Herr Professor Selke, Sie engagieren sich für ein würdiges Leben für Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger, deren Geld nicht zum Leben reicht. Waren Sie schon einmal arbeitslos?

Ich war in meinem Leben zweimal arbeitslos, völlig überraschend für mich, denn ich hatte studiert und mit gutem Ergebnis promoviert. Das erste Mal dauerte die Arbeitslosigkeit neun Monate, das zweite Mal ein Jahr. Das war lange genug, um zu erfahren, wie es sich „fast ganz unten“ anfühlt: die Panik, die eigene Familie nicht mehr „ernähren“ zu können, das Problem mit einem eigenen Rollenbild als Mann und überhaupt das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Das alles war zermürbend. Ich hatte es schlicht nicht erwartet. Aber Leben ist eben nicht, was man erwartet, sondern was passiert.
Viel mehr als die zweimalige Arbeitslosigkeit hat mich aber ein Unfall geprägt, der mich für sechs Jahre aus dem Leben gerissen hat und mit dessen Folgen ich heute noch umgehen muss. Auch das hat mir sehr deutlich gezeigt, dass wir ständig auf dünnem Eis leben. Nur wollen das die meisten von uns einfach nicht wahrhaben. Aus diesen eher düsteren Lebensphasen leitet sich mein Wunsch ab, Privilegien, die ich heute habe, sinnvoll einzusetzen.

Nach vorherrschender neoliberaler Ideologie ist jeder seines Glückes Schmied. Treffen denn Schicksalsschläge wie Krankheit, Unfall, Scheidung, Jobverlust usw. nicht jeden gleich schwer?

Höchstens in der Art und Weise, wie überraschen die Krise in die Routine einbricht. Aber wer über mehr Ressourcen verfügt, hat auch mehr Möglichkeiten, mit Krisen umzugehen und die Folgen abzumildern. Es ist einfach ein Mythos, dass „Glück“ machbar ist. Erfolg ist nach wie vor auch eine Frage der Herkunft. Das trifft gerade in Deutschland zu, einem Land, das sich immer noch durch große Bildungsungleichheit auszeichnet. Auf dem Weg zum Glück gibt es viele Weggabelungen und Abzweigungen – und manche davon sind noch nicht einmal ordentlich markiert. Wenn man aber die „richtige“ Herkunft hat, nimmt man schon automatisch die richtige Abzweigung, die zum Erfolg führt.
Für mich galt immer: Umwege erhöhen die Ortskenntnisse. Ich musste mich erst verlaufen und dann den Weg wieder finden. Ich bin ein typisches Arbeiterkind, das sich mühsam und gegen Widerstände – gerade auch in der eigenen Familie – voran arbeiten musste (ich vermeide bewusst die Bezeichnung „nach oben“, denn das ist ein mir unbekannter gesellschaftlicher Ort). Noch heute widert mich die Arroganz derjenigen an, die meinen, Erfolg wäre für sie selbstverständlich. Das verletzt mein Gerechtigkeitsgefühl an empfindlicher Stelle. Ich hege ein tiefes Misstrauen gegenüber denjenigen, die meinen, dass ihnen einfach Status und Macht gebühren, weil sie aus bestimmten gesellschaftlichen Kreisen kommen.

Sind Ihnen bei Ihren Tafelrecherchen auch Tafelnutzer begegnet, die genau aus diesen vermeintlich abgesicherten gesellschaftlichen Kreisen kommen?

Es gibt unter den Tafelnutzern schon diejenigen, die „abgestürzt“ sind. Meist sind es ehemals Selbständige, die nicht oder nicht ausreichend in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Oder Ehefrauen von Selbständigen, die sich die eigene Rente auszahlen ließen. Da hat man sich dann zu dieser Zeit lieber eine neue Wohnzimmereinrichtung gekauft. Es gibt unter den Tafelnutzern auch Angehörige des akademischen Prekariats, die aufgrund ihrer „perforierten Biografie“ (was für ein Euphemismus!) immer wieder Phasen der Arbeitslosigkeit durchstehen müssen. Aber letztlich sind das nicht die Menschen, die Sie mit „abgesicherten gesellschaftlichen Kreisen“ meinen. Die stehen bei Tafeln auf der anderen Seite oder betrachten die Tafeln als ein „zeitgemäßes Erfolgsmodell“. Wenn ich – was durch meinen Beruf schon mal passieren kann – mit diesen Kreisen in Berührung komme, dann erstaunt mich immer wieder die Realitätsferne dieser Menschen. Mir kommt es so vor, dass vieles von dem, was gerade in diesem Land passiert, für diesen Personenkreis lediglich Kulisse ist. Man staunt ein wenig und kehrt dann zum ‚business as usual’ zurück. Und um mit dem schlechten Gewissen über den eigenen Wohlstand umgehen zu können, gibt es ja die Tafeln. Eine Art moderner Ablasshandel.

Ablass ist ja eine Art Gnadenakt. Wenn man es so sieht, leben Tafelnutzer von der Gnade der Gesellschaft. Empfinden die Tafelnutzer dies ebenso?

Nicht alle. Aber der große Skandal ist gerade der, dass es neben dem Hartz-IV-Milieu auch eine Art „Tafel-Milieu“ gibt, in dem die dauerhafte Nutzung von Tafeln schon so etwas wie eine Normalität geworden ist. Wir haben für unsere groß angelegte Tafelstudie, den „Tafel-Monitor“ rund 150 Personen in fast allen Bundesländern nach ihren Einstellungen im Rahmen einer qualitativen Studie befragt. Herausgekommen sind drei Typen von Tafelnnutzern. Der „Integrierte“ findet an Tafeln überhaupt nichts Skandalöses, er ist es gewohnt, von seinem Umfeld und auch von den Behörden und Kommunen immer wieder zur Nutzung der Tafel aufgerufen oder ermahnt zu werden. Die Tafelnutzung ist ein soziales Muster der Lebensbewältigung in diesem Milieu. Der eigentliche Skandal wird dann dort sichtbar, wo Personen dieser Gruppe glauben ein „Recht“ auf die Unterstützung durch Tafeln zu haben und versuchen dieses verbal einzuklagen – etwa wenn es wie in letzter Zeit häufiger Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln gibt. Die Nutzung von Tafeln wird in diesem Milieu schon als funktionales Äquivalent zu einem Rechtsanspruch auf Sozialleistungen empfunden. Für die Tafeln mag dies ein charmantes Gefühl sein, gebraucht zu werden. Sozialpolitisch ist es ein Totalversagen.

Wie verkraften die Tafelnutzer diese permanente Erniedrigung?

Wie gesagt, die „Integrierten“ verkraften es, indem sie sich in der Parallelwelt einrichten, etwas, was von den Tafeln ja durchaus gefördert wird. Die anderen Nutzertypen fühlen sich in unterschiedlichen Abstufungen beschämt. Für sie ist die Tafelnutzung ein Bruch mit den eigenen Normalitätsvorstellungen. Sie verkraften es damit, dass sie eine „Augen-zu-und-durch“-Mentalität entwickeln oder sich einreden, dass die Abhängigkeit von den Tafeln nur von kurzer Dauer ist. Leider stimmt das oft nicht und nach einiger Zeit muss sich diese Nutzergruppe eingestehen, dass auch sie zu den „Stammkunden“ der Tafeln gehören, obwohl sie genau das verhindern wollen. Das Resultat sind resignative Gefühle und Selbstabwertungen, denn die Tafeln sind ein radikal ehrliches soziales Spiegelbild, dem man nicht ausweichen kann. Wenn immer mehr Menschen auf diese Weise von der Gesellschaft ausgeschlossen und stigmatisiert werden, bedeutet das letztlich auch eine Gefahr für die Demokratie.

Es gibt zwei Seiten, die Tafelnutzer und die Tafelbetreiber. Das sind ja offensichtlich unterschiedliche Welten. Beobachten Sie eine Solidarität der Tafelnutzer gegen die Tafelbewegung?

Wir sprechen in unserer Tafelstudie von einem „doppelt strukturierten Erfahrungsraum“ der Tafeln. Für die Helfer ist das Engagement bei Tafeln ein Teil ihres bürgerlichen Lebensprogramms. Für die anderen, die Tafeln nutzen müssen, sind Tafeln Teil des Überlebensprogramms. Diese grundlegende Asymmetrie lässt sich auch nicht weglächeln oder wegreden. Es gibt aber unter denen, die mittels Tafeln über die Runde kommen, keine nennenswerten Solidarisierungseffekte, höchstens lokale und situative Reziprokitätshandlungen, d.h. man unterstützt sich hier und da gegenseitig bei den Dingen des Alltags. Alle Versuche, die Tafelnutzer zu politisieren und damit gegen die flächendeckende Existenz der Tafeln in Deutschland zu skandalisieren sind bislang fehlgeschlagen. Vielleicht hat das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“ eine notwendige Gegenöffentlichkeit geschaffen, aber im dem Spiel „David gegen Goliath“ gibt es nur einen Gewinner: den Lobbyverband der Bundestafeln, der hervorragend mit der Wirtschaft und der Politik vernetzt ist. Kritik scheint da überflüssig zu sein, manche Tafelhelfer empfinden Kritik an ihrer Arbeit sogar als „ehrverletztend“. Wie unehrenhaft es hingegen ist, in einem reichen Land wie Deutschland Tafeln nutzen zu müssen, das wird so nicht gesehen oder ausgesprochen.

Sie haben das wachsende Misstrauen in der Gesellschaft angesprochen. Können Sie genauer erklären was Sie damit meinen?

Wir leben – nicht nur bezogen auf das Thema Tafeln – in einer Angst- und Kontrollgesellschaft. Da wir wissen oder spüren, dass wir die großen äußeren Risiken (Klima, Finanzmarkt, Terrorismus etc.) nicht bewältigen können, konzentrieren sich immer mehr Menschen und Institutionen auf innere Risiken. Und dazu gehört auch, misstrauisch gegenüber Mitmenschen zu sein. Arbeitgeber überwachen ihre Angestellten, der Staat überwacht seine Bürger und jeder ist prinzipiell unter Generalverdacht, wenn es darum geht, Leistungen können „erschlichen“ werden. Wir haben das humanistische positive Menschenbild längst hinter uns gelassen und sind durch die Imprägnierung mit neoliberalen und neosozialen Ideen längst zu einem negativen Menschenbild übergegangen, das darauf setzt, dass nur durch Kontrolle und Zwang ein Sozialwesen funktionieren kann. Das ist aber ein Teufelskreis, der darauf hinausläuft, erst die Phänomene zu erzeugen, die dann dieses negative Menschenbild legitimieren.

Sie kritisieren den Begriff „sozial schwach“. Warum?

Ich kenne nur arme Menschen. Die meisten sind nicht sozial schwach, sondern sozial äußerst kompetent. Warum sollte auch jemand, der arm ist, ein soziales Defizit haben? Diese Bezeichnung passt viel besser für diejenigen, die das Sozialwesen ruinieren, die schlechte Löhne zahlen, Arbeit outsourcen, Belegschaften entlassen, Milliarden verspekulieren, Großprojekte in den Sand setzen, Steueroasen nutzen usf. Die wirklich sozial schwachen sitzen oben und nicht unten – deswegen kritisiere ich die unreflektierte Nutzung dieses Begriffs.

Stefan Selke ist Soziologiprofessor an der Hochschule Furtwangen mit dem Lehrgebiet “Gesellschaftlicher Wandel”. Stefan Selke befasst sich seit Jahren mit der Armut in Deutschland, hat Suppenküchen, Kleiderkammern, Tafelausgabestellen besucht, mit Betroffenen gesprochen und über seine Erfahrungen ein Buch mit dem Titel „Schamland – Die Armut mitten unter uns“ geschrieben.

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