Volksabstimmung und Demokratie: Der Demos betritt die Bühne

 In Politik (Ausland)
Autor Costas Douzinas

Autor Costas Douzinas

Es ist gut, nicht nur über “die Griechen” zu sprechen, sondern auch diese selbst zu Wort kommen zu lassen. Ein kompetenter Ansprechpartner ist Costas Douzinas, Direktor des Birkbeck Institutes for the Humanities der Universität London und Autor des Buchs “Philosophie und Widerstand in der Krise” (Laika-Verlag). “Das Referendum trägt die Lehren der demokratischen Platzbesetzungen ins Herz der Politik”, so Douzinas. “Es steht viel auf dem Spiel: das Schicksal Griechenlands, die Zukunft der Europäischen Union und die Demokratie.” Dieser Beitrag wurde von Rosemarie Nünning aus dem Englischen übersetzt. (Costas Douzinas)

Ein Mann sucht das australische Konsulat in Athen auf, um ein Arbeitsvisum zu beantragen. „Warum wollen Sie Griechenland verlassen?“, fragt der Konsul. „Ich fürchte, Griechenland könnte den Euro verlassen“, antwortet der Mann. „Keine Sorge“, antwortet der Konsul, „gestern habe ich mit meinem deutschen Kollegen darüber gesprochen, der mir versichert hat, dass Griechenland in der Eurozone bleibt.“ „Das ist der zweite Grund, warum ich auswandern möchte.“

Diese Geschichte ist Ausdruck des unlösbaren Dilemmas, mit dem die Griechen konfrontiert sind: auf der einen Seite die Fortsetzung der katastrophalen Sparpolitik, die das Land zerstört hat, auf der anderen Seite der Grexit, der auf unabsehbar lange Zeit Druck auf den Lebensstandard einer Bevölkerung ausüben wird, deren Einkommen bereits halbiert ist. Wenn Ministerpräsident Alexis Tsipras am Sonntagmorgen ankündigen wird, dass er der Bevölkerung die letzten Vorschläge der Europäer und des IWF zur Abstimmung vorlegen will, wird es darum gehen, diese typische Aporie (Ausweglosigkeit) in eine besser handhabbare Frage zu verwandeln: Steht die Bevölkerung hinter der Regierung und deren Ablehnung der schlimmsten Auswirkungen der Sparpolitik, und wird sie sich gleichzeitig zu dem Verbleib in der Eurozone bekennen? Viel steht auf dem Spiel: Neben dem Schicksal Griechenlands geht es auch um die Europäische Union und die Demokratie.

Der Kontext für dieses Referendum ist das Verhalten der europäischen Partner in den vergangenen Monaten. Die Syriza-Regierung wurde mit einem eindeutigen Auftrag gewählt, nämlich die Sparpolitik zu beenden. Diese Politik wurde an zwei Fronten umgesetzt, der haushaltspolitischen Sparsamkeit und der Abwertung des griechischen Euro. Zur Sanierung des Haushalts wurden die öffentlichen Ausgaben gesenkt, wesentliche Staatsbetriebe privatisiert und die Steuereinnahmen erhöht. Eine große Anzahl Staatsbediensteter wurde entlassen, Sozialleistungen drastisch abgebaut, wobei insbesondere das Gesundheitswesen die Grundbedürfnisse nicht mehr erfüllen kann. Die sozialen Folgen sind bestens dokumentiert und müssen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Nach der Logik der Gläubiger soll ein Haushaltsüberschuss erwirtschaftet werden, der nicht dazu dienen soll, die stagnierende Ökonomie wieder anzukurbeln, sondern die ausufernden Schulden zu bezahlen. Die früheren Regierungen hatten sich dazu verpflichtet, jährliche Überschüsse von bis zu 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in den nächsten sieben Jahren zu erzeugen, etwas, das keine Regierung seit Ceaușescus Rumänien je versucht noch erreicht hat.

Die interne Währungsabwertung wurde erzielt durch die wiederholte Senkung der Löhne im Privatsektor und die Abschaffung eines Großteils der Arbeitsschutzgesetze wie das Recht auf Tarifverhandlungen. Gleichzeitig hat die wiederholte Anhebung der Steuern, einschließlich der regressiven Steuern auf Immobilien, dazu geführt, dass die Ökonomie beispiellos ausgeblutet ist. Die Verelendung der arbeitenden Menschen, so lautet das Argument des IWF, soll zur Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit beitragen und das Wirtschaftswachstum anregen. Stattdessen ist das Projekt erbärmlich gescheitert. Die Wirtschaftsleistung ist um 26 Prozent gesunken, die Arbeitslosigkeit auf 27 Prozent gestiegen, die Jugendarbeitslosigkeit stieg auf 60 Prozent und über 3 Millionen Menschen leben an oder unterhalb der Armutsgrenze. Vor ein paar Jahren gab der IWF zu, dass er die nachteiligen Effekte der Sparpolitik auf die Wirtschaft unterschätzt habe, er habe den sog. fiskalischen Multiplikator nur auf ein Drittel so hoch eingeschätzt wie er dann tatsächlich war.

Ein europäischer Coup

Vor diesem Hintergrund haben die Griechen im Januar 2015 die Syriza-Regierung gewählt und ihr den Auftrag mitgegeben, eine politische Umkehr einzuleiten. Es folgte eine Zeit der Verhandlungen. Es waren aber keine echten Verhandlungen. Angesichts des großen Machtgefälles zwischen den beiden Parteien und der Kluft zwischen den jeweiligen Ideologien waren diese Gespräche extrem asymmetrisch. Ich habe diese „Verhandlungen“ als europäischen Coup (https://www.opendemocracy.net/can-europe-make-it/costas-douzinas/very-european-coup) bezeichnet, den Versuch, einen „Regimewechsel“ mithilfe von Banken statt Panzern zu erzwingen. Wirtschaftlich gesehen geht es für die Kreditgeber um nicht sehr viel, weil die griechische Ökonomie nur 2 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht, was den Zusammenbruch der Beziehungen nicht wirklich rechtfertigt. Das Vorbeugeprinzip der Risikotheorie, wie sie in die europäische DNA eingeschrieben ist, fordert, dass die unabsehbaren Folgen eines Grexits für die europäische und die Weltwirtschaft vermieden werden sollten. Der Zusammenbruch von Lehman Brothers verursachte bereits eine schwere Krise, allein die Erwägung eines Grexits ist noch sehr viel gefährlicher. Die Bedrohung, die angeblich von einem Erfolg Syrizas und einem laut IWF wirtschaftlich unrentablen Haircut für die griechischen Schulden ausgeht, ist eine politische, keine ökonomische. Die europäischen Eliten fürchten, dass die Ablehnung der Sparpolitik vonseiten der griechischen Bevölkerung und der Regierung auf ganz Südeuropa übergreifen könnte. Das Ergebnis der Kommunalwahlen in Spanien, das schottische Votum gegen Austeritätspolitik und die guten Umfragewerte für Sinn Féin in Irland zeigen, dass die von der Sparpolitik Betroffenen sich zu wehren beginnen. Die Syriza-Regierung steht an der Spitze des Angriffs auf das neoliberale Mantra, das da lautet „There is no alternative“. Selbst begrenzter Erfolg würde beweisen, dass nur der schon verloren hat, der nicht kämpft.

Die Furcht vor der politischen Ansteckung ist die einzig plausible Erklärung für das Vorgehen der Europäer und des IWF. Das Ziel ist klar: entweder Sturz der Regierung, wenn sie die harten Bedingungen nicht akzeptiert, oder eine so schwere Demütigung, dass Partei und Regierung auseinanderbrechen. Es gibt viele Anzeichen für diesen Versuch des „Regimewechsels“. Jedes Mal, wenn die griechische Regierung den Führungspersonen Europas einen politischen Vorschlag vorlegt, um das langfristige Problem der tragfähigen Schuldenbelastung zu lösen, wurde sie aufgefordert zu den Technokraten zu gehen und die Kosten kalkulieren zu lassen. Kamen die Griechen mit einem detaillierten Kostenplan zurück, griffen die Gläubiger den politischen Rahmen an. Der IWF besteht auf der internen Währungsabwertung und fordert dabei einen Schulden-Schnitt, um ihn zu realisieren. Die Europäer sind hinsichtlich des demokratischen Mandats etwas sensibler, aber keinesfalls bereit, über eine Schuldenerleichterung zu verhandeln. Gefangen zwischen der Scylla beständig wachsender Verschuldung, bei der alte mit neuen Krediten abbezahlt werden, und der Charybdis eskalierender Sparpolitik, blieb Syriza nichts mehr zu verhandeln.

Die letzten Züge dieses Spiels sind charakteristisch für eine Sackgasse. Am Donnerstag, den 18. Juni, als Ministerpräsident Tsipras in Russland weilte, veröffentlichte Reuters die Äußerung eines Direktoriumsmitglieds der EZB, wonach die Großbanken am folgenden Montag nicht öffnen würden. Das war ein deutliches Signal an die Bevölkerung, ihre Ersparnisse am Freitag abzuheben, somit eine sich selbst erfüllende, fast schon kriminell zu nennenden Warnung. Ich saß mit führenden Mitgliedern von Syriza zu Tisch in Athen, als die Nachricht durchkam. Ich war überrascht und begeistert angesichts ihrer ruhigen, gelassenen Reaktion. Sie entschieden sich dafür, Reuters’ Nachricht nicht hochzuspielen und die fortgesetzten Angriffe herunterzuspielen. Am Freitagmorgen gab es keinen Run auf die Banken und das Bankensystem war nicht bedroht, auch wenn es im Vergleich zum Wochenanfang vermehrt zu Geldabhebungen kam.

Am 25. Juni legte Griechenland erneut gründlich kalkulierte Vorschläge vor. Sie stellten eine wesentliche Abkehr von dem Syriza-Manifesto dar. Sie kamen der Position der Gläubiger entgegen, indem sie deren Forderungen nach Senkung der öffentlichen Ausgaben und Erhöhung des Steueraufkommens auf 7,9 Milliarden Euro akzeptierten. Andererseits sollte die Last auf gerechtere Weise verteilt werden: 70 Prozent der neuen Steuern sollte der reichere Teil der Gesellschaft durch Erhöhung der Körperschaftssteuer von 26 auf 29 Prozent tragen und durch die Einführung einer Einmalsteuer von 12 Prozent für Unternehmen, deren Profit über einer halben Million Euro liegt. Zum ersten Mal wurden die Vorschläge von den Gläubigern begrüßt, die diese für eine gute Ausgangsposition hielten. Unmittelbar danach jedoch wiesen die Gläubiger zurück, was sie nur wenige Stunden zuvor als Grundlage für ein Abkommen bezeichnet hatten. Vier Tage vor Auslaufen des derzeitigen Finanzierungsprogramms erhöhten die Gläubiger die Summe, mit der die Ökonomie weiter ausgeblutet werden soll, auf über 11 Milliarden Euro und sie forderten, dass der Löwenanteil der neuen Forderungen den Ärmeren aufgebürdet werden sollte.

Präsentiert wurde dieser abschließende Vorschlag nach dem Motto „Friss oder stirb!“. Angela Merkel nannte ihn „großzügig“, während Donald Tusk, Präsident des Europarats, sagte: „Das Spiel ist aus.“ Es zeichnete sich ab, dass die „Verhandlungen“ nur dann zu einem Ergebnis kommen würden, wenn die griechische Regierung die Erpressung akzeptiert und ihre Ideologie, ihre Versprechungen an die Bevölkerung und die Hoffnungen, die sie den Griechen wie den Europäern gab, aufgibt. In diesem Kontext ruft Tsipras das Referendum aus und fordert die Bevölkerung auf, darüber zu entscheiden, ob sie die Position der Gläubiger akzeptieren will oder nicht.

Der eingefrorene Tango zwischen Demokratie und Kapitalismus

Der Nachkriegskompromiss zwischen Kapitalismus und Demokratie äußerte sich auf höchst autoritäre Weise in der Gründung der Europäischen Union. Kapitalismus und Demokratie verfolgen unterschiedliche Prinzipien bei der Verteilung des Sozialprodukts. Wolfgang Streeck schrieb in seinem Buch “Gekaufte Zeit”, dass auf dem Markt und im bürgerlichen Recht die Verteilung nach Marktentscheidungen und Eigentumstiteln erfolgt, einschließlich Schuldverschreibungen, und sich in Preisen ausdrückt. Wer auf dem Markt scheitert, wird das Ziel von Philanthropie oder – bei dem Versuch des Widerstands – von polizeilicher Unterdrückung. Soziale Gerechtigkeit ist auf der anderen Seite bestimmt von Kulturnormen und Kollektivvorstellungen von Gerechtigkeit, Anständigkeit und Solidarität. Sie sorgt dafür, dass jede und jeder einen Mindestlebensstandard genießen kann und Bürger- wie Menschenrechte unabhängig von individueller Wirtschaftsleistung oder Produktivität gelten. Soziale Gerechtigkeit äußert sich in Entscheidungen formeller und informeller Institutionen wie auch in Wahlen. Sie ist das Korrektiv zum marktgesteuerten Verteilungssystem.

Syriza hat deutlich gemacht, dass die Zukunft Griechenlands in der Eurozone und in der EU liegt. Die Verhandlungsposition der Regierung, die mit dem Mandat ihrer Wählerschaft bewaffnet war, stellt einen verzweifelten Versuch dar, die Kohabitation von Demokratie und Kapitalismus trotz der Feindseligkeit des Neoliberalismus gegenüber Wahlen beizubehalten. Der Spätkapitalismus beruht auf der Neutralisierung der Demokratie. Technokraten fällen alle wesentlichen politischen Entscheidungen, während die Bankiers und das Finanzkapital als Wählerblock erscheinen, der mit der Bevölkerung um die knappen Ressourcen konkurriert.
Der griechische Vorschlag könnte die politische Landschaft grundlegend verändern. „Volksabstimmung“ gilt auf den Fluren der Brüsseler Bürokratie als ein schmutziges Wort. Die Eliten wurden traumatisiert durch Niederlagen gegen die Bevölkerungen in Frankreich, den Niederlanden, Irland und Polen, unter anderen, und sie kippten im Jahr 2012 Papandreous Vorschlag für ein Referendum. Die europäischen Eliten, die sich seit 1989 für unangreifbar hielten, spüren die Wut der Bevölkerung und können sie nicht begreifen. Der Vorschlag von Tsipras versetzt sie erneut in Furcht, weil jetzt das Volk die politische Bühne betritt. Das Referendum wird zu einer Begegnung mit dem Widerstand der griechischen Bevölkerung gegen die Sparpolitik und der Bewegung, die im Jahr 2011 mit der Besetzung des Syntagmaplatzes begann. Es rückt die Bevölkerung in den Mittelpunkt der Politik und es kündigt einen institutionellen Rahmen an, in dem direkte Demokratie zu einem ständigen Begleiter ihres repräsentativen Teils wird.

Auf dem Syntagma und auf vielen anderen Plätzen der Welt fand ein erstaunliches Experiment statt. Die Syntagma-Multitude imitierte und unterlief zugleich das Prinzip der Repräsentation und der Staatsorganisation. Auf täglichen Versammlungen und mit einem ausgefeilten Netzwerk von Arbeitsgruppen bot Syntagma einen Mikrokosmos des zukünftigen demokratischen Staats, der strikt dem Axiom der Gleichheit unterstellt ist. Die Syntagma-Multitude stellte keine leidende und unterdrückte Bevölkerung dar. Es handelte sich um aktive und kreative Leute, die sich in radikaler Demokratie übten und das Schicksal in die eigene Hand nahmen. Der Sieg Syrizas und der radikale Wandel in der griechischen Politik ging von Syntagma aus.

Das Referendum trägt die Lehren der Platzbesetzungen in das Herz der Politik. Die Bevölkerung wird aufgefordert, unmittelbar über ihre Zukunft zu entscheiden. Über Syriza und die griechische Opposition wird in den nächsten Tagen das Urteil gefällt werden. In einer Diskussion mit dem britischen Guardian und in verschiedenen Interviews wurde ich gefragt, ob „Griechenland gerettet werden kann“. Die Kurzatmigkeit der Berichterstattung erweckt den Eindruck einer nahenden Apokalypse. Für die Medien mag das nützlich sein, mit der Realität hat das nichts zu tun. Die Sonne wird auch morgen wieder über der Akropolis scheinen, die Eule von Athen wird mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnen, wie Hegel schrieb. Trotz all der Schwarzseher bleibt die Bevölkerung ruhig, stoisch, sich der Bedeutung des historischen Moments bewusst. Die Hellenen sind sehr viel ausdauernder als die meisten Zweifler.

Das Referendum stellt aber auch die europäischen Eliten vor ein großes Dilemma: Respektieren sie die Entscheidungen der Bürger oder sind die Forderungen der Bankiers, Finanziers und ihrer Freunde in Politik und Medien die Bibel des neuen Europas? Das griechische Volk gibt der Europäischen Union die Gelegenheit, ihre Verpflichtung auf die Werte der Aufklärung – Gleichheit, Freiheit, Solidarität – und die Prinzipien der eigenen Gründung zu bekräftigen. Auf wundersame Weise gibt uns der Geburtsort der Demokratie die Gelegenheit, sich neu auf ihre Ideale im 21. Jahrhundert zu verpflichten.

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