Diese Entwicklung wird sich weiter fortsetzen, explodierende Kosten für Miete und Energie, wegbrechender Neubau von Sozialwohnungen und steigende Einkommensarmut sorgen dafür, dass immer mehr Menschen auf der Straße leben müssen.
Hinter den Zahlen verbergen sich Menschen, die in Armut gedrückt wurden, deren Leben irgendwann einmal ins Schlingern kam und die nun dem mörderischen Leben auf der Straße ausgesetzt sind.
Falls sie darüber reden und ihre persönliche Geschichte erzählen wollen, hört ihnen niemand zu. Für ihre Mitmenschen sind sie nur lästig mit ihrer Bettelei, dazu stören sie das Stadtbild und vergraulen die Kunden in den Kaufmeilen.
Für die Politik gibt es sie meistens gar nicht, kommen sie doch angeblich täglich aus anderen Orten in die Stadt und wenn man etwas zu viel für sie tut, werden immer mehr von ihnen angezogen.
Da sie sich nicht wehren oder gar Forderungen stellen, braucht man sich sozialpolitisch erst gar nicht aus dem Fenster zu lehnen. Wird das Problem zu sichtbar, ist es eines für den Einsatz von Polizei und Ordnungskräften.
Im Folgenden wird versucht, sich den obdach- und wohnungslosen Menschen in der Großstadt einmal zu nähern.
Als obdachlos werden Personen bezeichnet, die weder einen festen Wohnsitz noch eine Unterkunft haben. Sie übernachten auf der Straße, also in Parks, Bushaltestellen oder U-Bahnstationen. Wohnungslos sind dagegen Menschen ohne Mietvertrag.
Ursache von Obdachlosigkeit
Als Ursache von Obdachlosigkeit werden immer zuerst individuelle Gründe und Schicksalsschläge genannt. Dabei ist es vor allem der stetig privatisierte Wohnungsmarkt selbst, der die Menschen aus den Wohnungen wirft und sie auf der Straße leben lässt.
In den letzten 40 Jahren haben sich die vormals gemeinnützigen kommunalen Unternehmen in ihrer Geschäftsführung und den Mietpreisen den profitorientierten Konzernen immer mehr angenähert, auch bedingt durch das Ende der Wohnungsgemeinnützigkeit 1989 und die massiven staatlichen Kürzungen. Die damalige Abschaffung der Steuerbegünstigungen für gemeinnützige Wohnungsunternehmen durch die CDU/FDP-Regierung, ließ die Wohnkosten in die Höhe schießen. Mit dem Verlust der Gemeinnützigkeit fiel auch die Gewinnbeschränkung der kommunalen Wohnungsgesellschaften weg und öffnete der Privatisierung ihrer Bestände Tür und Tor.
Als dann die SPD/Grüne-Bundesregierung schließlich die Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften steuerlich freistellte, nahm der öffentliche Ausverkauf erst richtig Fahrt auf.
Die Einführung der Schuldenbremse 2009 durch die große Koalition erhöhte den Spardruck bei den Städten und die kommunalen Wohnungsgesellschaften mussten die Überschüsse an die kaputt gesparten Kommunen abführen. Aber um diese Überschüsse zu erwirtschaften, erhöhten die vormals gemeinnützigen Wohnungsunternehmen die Mieten vielfach so stark, dass auch sie selbst zu den schlimmsten Mietpreistreibern wurden.
Sage und schreibe wurden insgesamt rund 1,1 Millionen Wohnungen aus dem Bundes-, Landes- und kommunalen Wohnungsbesitz in privates Eigentum überführt. Lächerliche 2,3 Prozent der rund 23 Millionen Mietwohnungen sind heute noch in kommunalem Eigentum. Damit können die Kommunen im Gegensatz zu früher, nicht mehr regulierend in den Wohnungsmarkt eingreifen, sie haben kaum noch Möglichkeiten, leistbare Wohnungen in ausreichender Zahl vorzuhalten und dämpfend auf die Mietpreise einzuwirken.
Was den Städten bleibt, ist die individuelle Not etwas abzufedern, aber auch die Wohnraumsicherungsmaßnahmen haben unter den Sparmaßnahmen gelitten. Beihilfen werden nur noch als Darlehen gewährt und in allen Kommunen stöhnt man über die hohen Unterkunftskosten die bei Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) übernommen werden müssen. Diese Zuschüsse halten schon lange nicht mehr mit der Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt Schritt. Immer mehr Menschen im Transferleistungsbezug bekommen von der Öffentlichen Hand weniger Geld für die Miete, als sie tatsächlich bezahlen müssen und rutschen in die Überschuldung, die ein direkter Schritt in die Zwangsräumung sein kann.
Wenn die Schulden zu groß geworden sind, die Klage gegen eine Räumung vergeblich war, greift in den großen Städten der früher noch funktionierende Räumungsvollstreckungsschutz immer seltener. Die Menschen werden zunehmend schneller geräumt.
Die Studie „Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems“ deckte vor einiger Zeit den Skandal der massenhaften Zwangsräumungen am Beispiel von Berlin auf, wo es noch nicht einmal ein umfassendes Berichtswesen bzw. Statistiken dazu gibt. Sie zeigt auf, dass der Sozialstaat auf diesem Feld nicht nur hilflos, sondern sogar nutzlos ist und er das Wohnungsproblem noch verschärft. Obwohl der Staat eigentlich das Ziel hat, Zwangsräumungen zu verhindern und Miet- und Energiekosten der Menschen, die staatliche Hilfe erhalten, zu übernehmen, um die Wohnungslosigkeit zu verhindern, werden die Anträge dafür in den finanzschwachen Bezirken zu 85 Prozent abgelehnt.
Obwohl die Kommune offiziell verpflichtet ist, wohnungslose Personen unterzubringen, ist das in der Praxis immer öfter gar nicht möglich, weil die Wohnheime oder vorgehaltenen Wohnungen, die zur kurzfristigen Unterbringung gedacht sind, mit dauerhaft dort wohnenden Menschen belegt sind. Auch hier wittern Geschäftemacher schnelles Geld und bieten den Kommunen Plätze in ihren privatwirtschaftlich betriebenen Wohnheimen an – sie können sich ihre Bewohner selbst aussuchen und eben auch ihnen die Aufnahme verweigern.
Den Weg aus dieser Situation heraus können staatliche Stellen kaum noch bieten, da es auch mittlerweile eine geänderte Wohnungsvergabepraxis gibt. In der Regel verlangen die Wohnungsunternehmen eine Schufa-Auskunft, nehmen keine Mieter mit früheren Mietschulden oder die das Insolvenzverfahren durchlaufen und achten auch auf frühere gute oder schlechte Meldeadressen.
Es ist schon paradox, dass gerade von Menschen, die wegen Mietschulden wohnungslos geworden sind, als Voraussetzung für ein neues Mietverhältnis der Nachweis über ein mietschuldenfreies Vorleben verlangt wird.
Auch die Jobcenter tragen ihr Scherflein zur Misere der Zwangsräumungen bei. Sie treiben die Mieten in die Höhe, indem sie Umzüge in günstigere Wohnungen erzwingen und der Vermieter für die frei gewordene Wohnung einen neuen Mietvertrag mit höherer Miete abschließen kann.
Eine bisherige Annahme wird durch die Berliner Studie belegt: Dort, wo die Wohnungsnachfrage stark ansteigt, nimmt auch die Räumungsneigung der Vermieter zu, weil es immer attraktiver wird, nach der Räumung vom neuen Mieter eine viel höhere Miete zu verlangen. Deutlich wurde auch, dass das staatliche Hilfesystem Diskriminierung und Isolation der Hilfesuchenden noch befördert, da die einen vom Verwaltungspersonal in den Ämtern der Kommune alleingelassen werden und keine Unterstützung erfahren, die anderen werden willkürlich bevorzugt. Da läuft dann der gleiche Ausleseprozess wie auf dem Wohnungsmarkt selbst ab.
Immer häufiger werden den rat- und hilfesuchenden Menschen Rechte verwehrt, damit der Antragsteller erst gar nicht in verwaltungsrechtliche Verfahren kommt, keine Rechtsmittel einlegen kann, unter dem Existenzminimum leben muss, immer in der Gefahr lebt, Wohnung und Arbeitsplatz zu verlieren und kaum noch Unterstützung findet, seine Rechte einzufordern. Obwohl der Bundesgerichtshof (BGH) kürzlich noch klargestellt hat, dass Sozialleistungsträger umfassend über alle infrage kommenden Leistungsansprüche beraten müssen und wenn nicht, ihnen Amtshaftung droht. In der Praxis gibt es die Beratungs- und Auskunftspflicht der Behörden und Sozialversicherungsträger überhaupt nicht mehr, schon gar nicht für arme Menschen.
Das staatliche Hilfesystem läuft nur bei einem entspannten Wohnungsmarkt rund, eben nur dann, solange die Vermieter mit den Wohnungen auf die einkommensschwachen Menschen angewiesen sind.
Erschreckende Steigerung der Zahl der Menschen ohne Wohnung
Die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, weil sie keine Wohnung finden und bezahlen können, ist enorm gestiegen.
Dem Verlust der Wohnung geht meistens die Zwangsräumung voraus, dafür braucht es einen Vollstreckungsauftrag, um die säumige Miete eintreiben zu können.
Bis 2019 wurden nur die Zahlen der Vollstreckungsaufträge, nicht die der tatsächlich durchgeführten Zwangsräumungen statistisch registriert. Insofern liegt keine unmittelbare Vergleichbarkeit vor. Die Zahl der Zwangsvollstreckungsaufträge lag in den vergangenen Jahren beständig bei über 50.000. 2018 gab es mindestens 54.000 Anträge auf Zwangsräumung und mindestens 53.600 in 2017. Bayern hatte diese Statistik nie erhoben. Deswegen lag die bundesweite Zahl tatsächlich noch darüber.
Seit Ende 2019 erhebt die Bundesregierung über die Länder die Zahlen durchgeführter Zwangsräumungen, diese liegen nun erstmalig für das Jahr 2020 vor, außer für Hamburg und Schleswig-Holstein. Mit Abstand die meisten Zwangsräumungen gab es 2020 in Nordrhein-Westfalen mit über 9.000. Sachsen belegt in der Negativstatistik Platz zwei mit 2.949 durchgeführten Räumungen. Dort wurden mehr Zwangsräumungen durchgeführt als etwa in Bayern (2.867) oder Niedersachsen (2.607) und das bei deutlich weniger Einwohnern.
Obwohl immer wieder versichert wurde, dass niemand in der Pandemie seine Wohnung verlieren sollte, wurden im Jahr 2020 mindestens 30.000 Haushalte geräumt. Das waren 82 pro Tag. Auch weil der Kündigungsschutz, den es im ersten Lockdown für Mieter mit Zahlungsverzug gab, nach der Intervention der Immobilienlobby, nicht verlängert wurde.
Mehr als 263.000 Menschen in Deutschland hatten nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zum Stichtag 31.01.2022 keine eigene Wohnung mit Mietvertrag, davon waren etwa 50.000 obdachlos. 2018 wurden noch 237.000 wohnungslose Personen gezählt. Die meisten Menschen ohne eigene Wohnung sind alleinstehend. Zwei Drittel der wohnungslosen Menschen 2022 sind Männer, ein Drittel Frauen, rund jeder dritte hat keine deutsche Staatsbürgerschaft. Für die Gruppe wohnungsloser anerkannter Geflüchteter sind keine entsprechenden soziodemografischen Daten verfügbar. Schätzungen besagen, dass es etwa 20.000 wohnungslose Kinder oder minderjährige Jugendliche gibt.
Keine homogene Gruppe in der Großstadt
Wie groß die Gruppe der Menschen ohne Wohnung in einer Großstadt wie Dortmund ist, kann niemand genau benennen. Wegen der hohen Dunkelziffer lässt sich mit verschiedenen Zahlen ein grober Überblick verschaffen. Die offizielle Zahl ergab für das Jahr 2018, dass 1.411 Betroffene zu der Gruppe gehören, das sind 3-mal so viele, wie im Vorjahr. In Dortmund hatten am 20.05.2019 genau 1.103 Menschen eine postalische Adresse, die einige Wohlfahrtsverbände einrichten, damit die obdachlosen Menschen auch offiziell erreichbar sind, da sonst der Teufelskreis von keiner Wohnung (Adresse) – keine Arbeit – kein Einkommen nicht zu durchbrechen ist.
Die letzte Erhebung zum Stichtag am 30.06 2020 ergab 1.666 Menschen ohne Wohnung in Dortmund, ohne diejenigen, die in einem Provisorium leben. Darunter gibt es z.B.
- den ehemaligen Arbeiter, der dem Strukturwandel zum Opfer gefallen ist, der nach der Arbeit auch die Familie und dann noch die Wohnung verloren hat,
- psychisch Erkrankte, die z.B. nach stationärer Behandlung nicht in das Programm „Betreutes Wohnen“ kommen und mit ihrer Situation alleine gelassen werden,
- Drogenkonsumenten, die durch die Beschaffungskriminalität ständig dem Druck der polizeilichen Verfolgung ausgesetzt sind und zwischen dem Leben im Gefängnis und dem auf der Straße pendeln,
- ehemalige jugendliche Straffällige, ohne notwendige Unterstützung und Möglichkeit für einen Neustart, auch weil sie keine Jugendhilfe mehr erwarten können und auf sich allein gestellt sind,
- eine unbekannte Anzahl aus dem Elternhaus oder Heimen ausgerückter Jugendliche, die rund um den Bahnhof leben und die irgendwann den Kontakt zu den Hilfsstrukturen verloren haben. Viele von ihnen gibt es offiziell gar nicht und von anderen weiß man nur, dass sie in ihren wenigen Lebensjahren die reinsten Horrorerfahrungen gemacht haben. Die Straßenszene mit ihren bunten Subkulturen kann dabei eine große Faszination ausüben und als eine Art Gegenentwurf zum Leben der Eltern, das den gesellschaftlichen Normen entspricht, besonderes Interesse weckt,
- Menschen ohne Papiere, die zugewandert sind, keine Aufenthaltserlaubnis bekommen, von Abschiebung bzw. Ausweisung bedroht sind und untertauchen
und
die an Personen zunehmende Gruppe der zugewanderten, meist sich illegal aufhaltenden Männer aus Osteuropa, die sich als Tagelöhner verdingen. Mittlerweile gibt es regelrechte Kolonien, wie z.B. im Dortmunder Hafengebiet, in denen vor allem Menschen aus den östlichen Nachbarländern unter Plastikplanen hausen und auf dem Stundenlöhnermarkt immer weniger konkurrenzfähig sind, da sie aus gesundheitlichen Gründen eigentlich gar nicht mehr in der Lage sind zu arbeiten.
Abwärtsspirale
Auf der Straße werden die Menschen ohne Wohnung aber meistens als homogene Gruppe wahrgenommen und mit den gleichen Merkmalen stigmatisiert, obwohl sie kaum Gemeinsamkeiten haben. Gemeinsam ist vielen von ihnen jedoch der Auslöser für den Verlust der Wohnung, ein Bruch in der Biografie, Tod oder Trennung von einem nahestehenden Menschen, Unfall oder Krankheit, Überschuldung, Aufleben von traumatischen Kindheitserlebnissen oder manchmal auch einfach der totale Ausstieg mit dem Bruch aller Konventionen.
Die Abwärtsspirale durchlaufen die Menschen dann meistens innerhalb weniger Tage und scheinbar automatisch. So schnell, wie der rollende Stein die Gosse hinunter rast, so unerreichbar, doch zumindest gähnend langsam kann der eventuelle Gang durch die Aufwärtsspirale wieder sein. Die Chancen für die Eingliederung in die Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahren erheblich verschlechtert, die Hilfsangebote ausgedünnt, das Personal eingespart, immer mehr Menschen auf der Straße werden sich selbst überlassen.
Alltag zwischen Überlebenskampf und Diskriminierung
Der Alltag auf der Straße ist bei weitem nicht so idyllisch, wie es vielen Menschen aus der Perspektive ihres gutbürgerlichen Lebens erscheint. Der schlafende Mensch zeigt nicht den Faulpelz, der sich zu jeder Tages- und Nachtzeit ausruhen kann, sondern ist jemand mit chronischem Schlafmangel, weil er nicht zur Ruhe kommt oder kommen darf. Der Tagesablauf ist äußerst stressig. Die Überlebensfragen, wo kann ich übernachten, wo kann ich betteln, wo das Toilettengeschäft erledigen, wo mich reinigen und pflegen, wo kann ich mich sicher aufhalten, wo kann ich mich halbwegs trocken und warm unterstellen, bekomme ich die Entzündung in den Griff, wird sich das Laufen noch mehr verschlechtern und wie lange werde ich das überhaupt noch aushalten können.
Für die Bewältigung des Alltags müssen alle zur Verfügung stehenden Kräfte aufgebracht werden.
Auch für den Umgang mit staatlichen und karitativen Stellen ist das anstrengende Unterwerfungsritual unabdingbar, wenn man überhaupt angehört werden soll. Erwarten können diese Menschen mit Glück, aufs Neue verwahrt und verwaltet zu werden. Dass auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird, haben sie schon lange Zeit nicht mehr erlebt, erleben aber immer die Unterstellung, dass ihnen die Mitwirkungswilligkeit fehlen würde.
24 Stunden am Tag durchleben sie die Situation, wie auf einer offenen Bühne zu stehen, auf der jeder sie begaffen kann, es wird aber nicht an ihnen hoch-, sondern nur heruntergeschaut, alles von sich müssen sie zeigen, ohne Rückzugsmöglichkeit, Privatheit, Würde und Selbstwert.
Hinzu kommt, dass je länger das Leben auf der Straße andauert, desto mehr gehen die individuellen Fähigkeiten des einzelnen Menschen auch verloren, auf die man früher so stolz war und die eine Persönlichkeit erst ausmachen. Die Menschen, die auf der Straße leben, erzählen gern mit einem Schmunzeln im Gesicht, was sie früher so gut konnten und so gerne gemacht haben und beteuern mit einer versteinerten Mine, dass das schon lange vorbei ist und dass es nicht mehr geht.
Da ist es kein Wunder, dass Alkohol und Drogen etwas Entlastung bringen, sie sind schon ewig in ihrer Wirkung bekannt und gehörten doch beide schon in früheren Zeiten zu den einzigen Mitteln der Bewältigungsstrategie für die Probleme. Aber diese Mittel wirken schon lange nicht mehr und lassen es zu, dass die negativen Gefühle wie Misstrauen, Angst, Verzweiflung, Panik, Hoffnungslosigkeit, Abschottung, Frustration und der Dauerstress sie immer wieder runterziehen in die unerträglichen Dauerdepressionen.
Körperliche und seelische Folgen des Lebens auf der Straße
Der gesundheitliche Zustand wohnungsloser, insbesondere obdachloser Menschen, ist häufig schlecht. Physische und psychische Extrembelastungen beim Leben auf der Straße schwächen das Immunsystem und können tödlich sein. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung hat diese Bevölkerungsgruppe ein 3 bis 4-fach erhöhtes Risiko, vorzeitig zu versterben, ihr durchschnittliches Sterbealter liegt zwischen 42 und 52 Jahren.
Neben vielfältigen psychiatrischen und somatischen Erkrankungen sind die Menschen Hitze, Kälte und Nässe ausgesetzt. Falsche oder nicht ausreichende Ernährung, regelmäßiger Alkohol- und Drogenkonsum mit temporär durchgeführtem kaltem Entzug schwächen den Körper und die eingeschränkte Körperpflege löst Infektionen und Parasitenbefall aus.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht davon aus, dass
- mindestens 75 % der wohnungslosen Menschen aktuell an einer behandlungsbedürftigen psychiatrischen Störung leiden.
- die häufigsten somatischen Diagnosen Erkrankungen des Atmungssystems (6–14 %) und des Kreislaufsystems (7–20 %), Verletzungen und Vergiftungen (5–15 %) sowie Infektionen und parasitäre Erkrankungen (10–16 %) sind.
- aufgrund vielfältiger Barrieren, wie fehlende Krankenversicherung, das Gefühl nicht willkommen zu sein, fehlende Krankheitswahrnehmung, eingeschränkte Kooperationsfähigkeit zur Meidung des Regelversorgungssystems führen und sie sich nur an medizinische Hilfsangebote außerhalb der Regelversorgung wenden können.
- bei der Obduktion von 207 wohnungslosen Menschen in Hamburg die häufigste Todesursache eine Intoxikation (25 %), gefolgt von Herz- und Gefäßerkrankungen (17 %), Infektionen (überwiegend Pneumonien: 15 %), Suiziden (9 %), Unfällen (7 %) und gastrointestinalen Erkrankungen (6 %) war.
- die Menschen häufig erst in akuten (somatischen) Krisen medizinische Hilfe suchen oder motiviert sind zur Behandlung ihrer psychiatrischen Probleme. In einer kanadischen Studie wurden 73 wohnungslose Menschen in ihrer Obdachloseneinrichtung psychiatrisch mit betreut. Nach 6 Monaten hatte sich der Gesundheitszustand bei 35 % verbessert und 49 % der psychiatrisch Versorgten hatten eine Wohnung.
- von 232 Menschen aus München, die Hilfe in Wohnungsloseneinrichtungen bekommen, 75 % aktuell an einer behandlungsbedürftigen psychiatrischen Störung litten. Bei 74 % fand sich aktuell oder früher eine substanzinduzierte Störung und 55 % der Befragten hatten mindestens eine Persönlichkeitsstörung.
- wenn Vorerkrankungen der wohnungslosen Menschen erhoben werden, weitere Gesundheitsprobleme in den Vordergrund treten. So gaben 6 % der Berliner Patienten eine neurologische Vorerkrankung an, insbesondere Epilepsie, 5 % eine virale Hepatitis, 1 % eine HIV-Infektion. In Nordrhein-Westfalen zeigte sich bei rund 13 % der Patienten eine virale Hepatitis.
- bei systematischen Gesundheitsuntersuchungen sich das Erkrankungsspektrum erweitert. So fand man bei 82 % der obdachlosen Menschen Zahnerkrankungen, bei 63 % Augenerkrankungen (inklusive Fehlsichtigkeit), bei 56 % Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei je 43 % Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems und der Leber und bei je einem Drittel Haut-, Nerven-, Magen-Darm- und Atemwegserkrankungen.
- die geringe Nutzung der ambulanten Versorgung erhebliche gesundheitliche Folgen hat. In Boston gaben 73 % der Menschen, die auf der Straße leben an, mindestens einen unerfüllten medizinischen Bedarf zu haben. Am häufigsten genannt wurden: zahnärztliche Versorgung (41 %), passende Brille (41 %), verschreibungspflichtige Medikamente (36 %), medizinische beziehungsweise chirurgische Versorgung (32 %) und psychiatrische Versorgung (21 %). Selbst in Kanada, dort haben aller obdachlosen Menschen eine Krankenversicherung, ist zum Beispiel die Behandlung kardiovaskulärer Risikofaktoren deutlich schlechter als bei Menschen mit Wohnung
und dass in akuten Notfällen sie vermehrt die Notaufnahmen von Krankenhäusern aufsuchen, weil sie dort nicht abgewiesen werden dürfen.
Die mangelhafte medizinische Versorgung der Menschen auf der Straße ist international ein bekanntes Phänomen. In Großbritannien wird im Durchschnitt 8-mal so viel Geld für die stationäre Versorgung eines obdachlosen Menschen aufgewendet wie für die stationäre Versorgung eines 18- bis 64-Jährigen mit Wohnung. Die Patienten der Hamburger Schwerpunktpraxen für Wohnungslose gaben an, dass sie in den 6 Monaten vor der Konsultation eher in einem Krankenhaus als bei niedergelassenen Ärzten behandelt worden seien, der größte Teil von ihnen hatte keine medizinische Hilfe in Anspruch genommen.
Das Leben auf der Straße macht nicht nur krank, es ist auch zunehmend gefährlicher geworden.
Permanente Angst, Opfer von Gewalt zu werden
Die Menschen, die in der Großstadt auf der Straße leben, müssen sich ständig davor fürchten, Opfer von Gewalt zu werden. Die tag-täglichen Anfeindungen können leicht eskalieren und indirekte Gewalt ausarten.
Die älteren Menschen ohne Wohnung berichten immer wieder, dass früher die Mehrheitsgesellschaft ihnen gegenüber mehr mit einer ignorierenden Toleranz, in der Regel nicht aggressiv entgegentrat und in der letzten Zeit die körperliche Gewalt gegen sie erheblich zugenommen hat, sie ständig verängstigt sind und sie sich besser schützen müssen. Die körperlichen Übergriffe sind häufiger geworden und auch von anderen wohnungslosen Menschen geht mehr Gewalt aus, die schnell eskalieren kann. Als Schutz hat sich der Aufenthalt in kleinsten Gruppen bewährt oder der gutmütige Begleithund muss zur Abschreckung dienen.
Unter der Überschrift: „Jugendliche überfallen schlafenden Obdachlosen – sie wollten sein Geld“, ist im August 2020 in der örtlichen Presse zu lesen, dass das Opfer der beiden Jugendlichen sein Nachtlager im Bereich der Kurfürstenstraße am Hauptbahnhof Dort- mund aufgeschlagen hatte. Zur Tatzeit, kurz vor 3 Uhr schlief er bereits im Eingang der Postfiliale. Die 16-Jährigen hatten es auf 10 Euro aus einem Pappbecher abgesehen. Damit nicht genug: Die jungen Täter zogen eine Waffe und bedrohten ihn damit. Sie konnten unerkannt entkommen.
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Im Februar 2021 meldete die Presse, dass vier Männer in Dortmund einen obdachlosen Mann ausgeraubt und schwer verletzt haben. Einer der Täter fragte ihn gegen Mitternacht nach einer Zigarette, die ihm dieser auch aushändigte. Ein zweiter Mann schlug dann unvermittelt mit einem Gegenstand auf den Kopf des Wehrlosen ein. Die Täter nahmen einen Becher mit Bargeld an sich, der etwa 20 Euro enthielt, dann gingen sie davon. Der 41-Jährige wurde mit Verletzungen am Kopf und im Gesicht ins Krankenhaus gebracht.
Gejagt von Polizei und Ordnungskräften
Die Menschen auf der Straße erleben hautnah die Ausgrenzung im öffentlichen Raum und Ausgrenzung auf der Straße selbst. Der öffentliche Raum verengt sich für sie immer mehr. Wer gezwungen ist, im Freien zu schlafen, wird aber immer wieder von warmen und relativ geschützten Plätzen vertrieben, weil man ihn dort nicht sehen will, aus Angst vor Geschäftsschädigung, insbesondere im Innenstadtbereich.
Die Stadt Dortmund ist sehr daran interessiert, dass innerhalb des Walls bzw. rund um die Konsummeile Hellweg Armut nicht sichtbar wird. Auch hier geht es um Vertreibung, damit die Konsumenten ohne schlechtes Gewissen die Kassen der Geschäftsleute klingeln lassen. Damit dies ungestört gewährleistet ist, kommt es immer wieder vor, dass Obdachlose mit einem Bußgeld überzogen werden. So geschehen, als ein Mann an einem Kiosk am Wall übernachtete und von Mitarbeitern des Ordnungsamtes aufgeweckt wurde. Man verpasste ihm ein Knöllchen wegen „Lagern und Campieren“ in Höhe von 20 Euro, zu überweisen innerhalb von 7 Werktagen. Geht das Geld bei der Stadt nicht ein, droht dem Mann eine Ersatzfreiheitsstrafe.
Dass dieses skandalöse Vorgehen nichts Neues ist, zeigen Zahlen aus dem Jahr 2017, in dem Jahr hat die Stadt Dortmund insgesamt 407 Verstöße gegen „Lagern, Campieren und Übernachten auf öffentlichen Plätzen“ ausgesprochen.
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Das folgende aktuelle Beispiel zeigt, dass sich am Vorgehen der Stadt Dortmund nichts geändert hat: Seit Mitte Februar 2021 ist der Stadt Dortmund bekannt, dass obdachlose Menschen ein Lager an der Sporthalle Nord in der Nähe eines Städtischen Kindergartens eingerichtet haben. Der Bereich, in dem das Lager errichtet wurde, befindet sich nicht im öffentlichen Raum, daher konnte das Ordnungsamt keine weiteren Maßnahmen wie Platzverweise aussprechen oder gar eine Räumung durchsetzen, weil Maßnahmen nur über die Ausübung des Hausrechts (z.B. Hausverbote) durchgesetzt werden können. Da die Durchsetzung von Hausverboten Polizeisache ist, wurde diese um Amtshilfe gebeten und sie sprach den dort angetroffenen campierenden Leuten Platzverweise aus. Die Entsorgung Dortmund wurde beauftragt die Folien, Matratzen, Decken und teilweise auch Lebensmittel als Müll zu verbringen.
Die Maßnahme war jedoch nicht nachhaltig, schon einen Tag später wurden dort 3 Personen schlafend angetroffen. Die Stadt Dortmund forderte die Polizei erneut auf, Platzverweise inklusive Anzeigen auszusprechen und veranlasste, dort eine Absperrung durch Bauzäune anzubringen, um eine weitere Nutzung der Fläche zu verhindern.
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Beim Umgang mit den „Problemgruppen“ klebt die Stadt Dortmund seit Jahrzehnten immer an dem gleichen Konzept, das eigentlich gar keins ist, denn mit ihren Ordnungskräften und der Polizei die marginalisierten, kriminalisierten und stigmatisierten Menschen immer nur zu vertreiben und ständig in Bewegung zu halten, jegliches Niederlassen und Ausruhen zu verhindern, ist schlicht nur widerwärtig.
Nach dem Leben auf der Straße nennt man die namenlosen Menschen nach ihrem Tod die „Unbedachten“
In der Großstadt ist es schon eine alte Tradition, dass der Oberbürgermeister 3-mal im Jahr bei einer schlichten Zeremonie und wechselseitig in evangelischen und katholischen Kirchen die Namen der verstorbenen Unbedachten, mitsamt ihres Todesalters verliest. Es sind die Namen der eigentlich Namenlosen, die von der Stadt Dortmund bestattet werden.
Sie werden als Unbedachte bezeichnet, weil niemand sie kennt, niemand sie vermisst, niemand sie betrauert, niemand eine Grabrede hält, niemand ihre Leistungen würdigt und die schließlich als Niemand gehen, ohne Spuren zu hinterlassen.