Warum ich bleiben möchte

 In FEATURED, Politik (Ausland)

Einem in Moskau lebenden deutschen Journalisten ist sein Gastgeberland trotz angespannter politischer Lage ans Herz gewachsen. Exklusivauszug aus „Mein Weg nach Russland“. Als Deutscher in Russland zu leben und auch nach Beginn der Kriegshandlungen Anfang 2022 dort auszuharren — geht das überhaupt, „nach allem, was geschehen ist“? Ulrich Heyden erzählt in seinem neuen Buch „Mein Weg nach Russland“ davon, wie er sich in dieses große Land verliebte und warum er ihm trotz aller Anfeindungen aus Deutschland treu bleiben will. Nicht nur sind die Menschen dort außergewöhnlich herzlich — sie behandeln ihn auch fair, trotz deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine und trotz der Verbrechen der deutschen Wehrmacht in den 40er-Jahren. Dies ist für den Autor aber nicht mit der Selbstverpflichtung verbunden, Russland vor jeder Kritik zu verschonen. Durch das „Übersehen“ der Schattenseiten würde sich alternativer Journalismus nach seiner Meinung nur unglaubwürdig machen. Ulrich Heyden

 

Manch Leser wird vielleicht sagen, dass ich zu wenig Positives aus Russland berichtet habe. Diesen Lesern möchte ich sagen : Ich halte nichts davon, Negatives, das es in Russland gibt, zu verschweigen, weil darüber zu berichten der Propagandamaschine des Westens nützen könne. Ich bin der Meinung, dass man sich mit solch einem Herangehen eben auf das Niveau der westlichen Propaganda begibt, welche versucht, die Menschen zum Schwarz-Weiß-Denken zu erziehen. Mit sturer Gegenpropaganda stößt man auch die Menschen vor den Kopf, die sich gerne vielfältig informieren, Informationen vergleichen und selbst Schlüsse ziehen wollen, anstatt alles vorgekaut zu bekommen.

Über Russland aus der Position der „totalen Verteidigung“ zu berichten, indem man immer stur das Gegenteil von dem behauptet, was die großen deutschen Medien gerade über Russland verbreiten, trägt nicht zu Aufklärung und zu einem nachhaltigen Stimmungswandel bei. Die „totale Verteidigung“ kann Stimmungen mobilisieren, sie kann aber auch Menschen, die sich umfassend informieren wollen, abschrecken.

Die Bilder der Russland-Totalverteidiger sind mir zu einfach. Wenn der Westen sagt, Russland sei homophob, wird dagegengehalten, dass es in Moskau tolle Klubs für Homosexuelle gibt. Wenn gesagt wird, in Russland gebe es keine Pressefreiheit, wird dagegengehalten, sie hätten in einem zentralen Moskauer Buchladen gerade die oppositionelle Nowaja Gaseta gekauft. Wenn gesagt wird, in Russland gäbe es keine Demokratie, wird erklärt, Russland sei demokratischer als Deutschland, weil in Russland der Präsident direkt gewählt wird.

Alles zu verteidigen, was in Russland passiert, ist nicht überzeugend angesichts der Tatsache, dass die russische Führung seit 2014 gar nicht mehr um das Prädikat eines demokratischen Landes „wie im Westen“ buhlt. An erster Stelle stehen in Russland heute Werte wie nationale Sicherheit, die Auseinandersetzung mit der westlichen Propaganda, das Hochhalten „traditioneller Werte“ wie der Schutz der Familie und die Ablehnung von Freiräumen für sexuelle Minderheiten.

Näher an der Realität als mancher deutsche Russland-Totalverteidiger ist der Kreml-nahe Politologe Sergej Markow, wenn er schreibt:

„Russland ist ein offenes Land mit einem mäßig autoritären plebiszitären Regime persönlicher Macht. Das heißt, auf einer Skala von Demokratie-Autoritarismus ist Russland der Demokratie sehr viel näher, und die Ukraine ist dem Totalitarismus sehr viel näher.“ (1)

Ich lese täglich russische Zeitungen, den Kommersant, die Nesawisimaja Gaseta, Moskowski Komsomolez und Komsomolskaja Prawda. In den ersten drei genannten Zeitungen finde ich täglich kritische Artikel, etwa zu der mangelnden Kontrolle der Gasherde in den Mehrfamilienhäusern im Moskauer Umland, weshalb es dort häufig zu Explosionen kommt, wobei ganze Hauseingänge einbrechen.

Ich lese in diesen Zeitungen Artikel zum Pfusch beim Bau von Neubauwohnungen. Dort finde ich auch Artikel zur sinkenden Zahl russischer Wissenschaftler, zum konstanten Mangel an russischen Facharbeitern und zum Einsatz von Arbeitsmigranten aus Mittelasien als billige, aber schlecht ausgebildete Ersatzarbeitskräfte.

All diese Themen haben etwas mit der von russischen Linken kritisierten russischen Finanz- und Wirtschaftspolitik zu tun, die sich nach ihrer Meinung zu sehr an den Interessen des Großkapitals orientiert.

Es zeugt von einer schreienden Ignoranz, wenn man selbst in deutschen Medien, die für die Mittelschicht und die Intellektuellen schreiben, nichts über die russische Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik findet und kein Wort über das „Moscow Economic Forum“, das seit 2013 jedes Jahr in der Moskauer Universität eine internationale Expertenkonferenz veranstaltet, auf der die russische Wirtschafts- und Finanzpolitik aus links-patriotischer Sicht kritisiert wird.

Gründe für Kritik gibt es viele: Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Russland sehr weit auseinander. Die Kaufkraft der einfachen Leute sinkt durch Preissteigerungen, die über der offiziell angegebenen Inflation liegen. Das Wohlstandsgefälle zwischen den Großstädten, Kleinstädten und Dörfern ist groß.

Was diese Problematik im russischen Leben konkret bedeutet und welche Bemühungen die russische Regierung unternimmt, um die Armut zu bekämpfen, darüber schreiben „Russland-Experten“ und Moskau-Korrespondenten fast nie. Über das 2007 eingeführte „Mutter-Kapital“ beispielsweise — ein Festbetrag von 5.700 Euro für das erste und 1.800 Euro für das zweite Kind — wird in den großen deutschen Medien so gut wie nicht berichtet.

Für die meisten deutschen Journalisten werden soziale Fragen in Russland erst interessant, wenn sich soziale Unruhe andeutet und man wieder „Stoff“ hat, eine Geschichte über den „absehbaren Sturz des Regimes“ zu schreiben.

Ich meine, wer Russland schätzt, sollte sich vor Kritik nicht scheuen. Kritik ist wie Hefe in einem guten Teig. Aber natürlich muss man — gerade als Ausländer — den richtigen Ton und den richtigen Anlass finden, um Kritik vorzubringen. Zudem läuft man in die Irre, wenn man Russland stur nach deutschen Maßstäben misst. Manches, was auf den westlichen Betrachter im russischen Alltag unverständlich wirkt, hat aus russischer Sicht einen Sinn und entspricht den russischen Sitten. Wer sich in Russland bewegt, sollte sich für Hintergründe interessieren, anstatt Unverständliches gleich negativ einzuordnen.

In Russland leben, obwohl es schwierig ist?

Manch einer wird sich fragen : Wenn das Leben in Russland so schwierig ist, wie ich es beschrieben habe, warum komme ich dann nicht zurück nach Deutschland ? Hier meine Antwort: weil Russland inzwischen Teil meiner Identität ist.

Erst war es Abenteuerlust und Neugier. Jetzt fühle ich mich als Teil dieses Landes. Mich fesseln alle Entwicklungen in Russland, egal ob positiv oder negativ. Ich verfolge sie, kommentiere sie und wünsche mir eine gute Entwicklung.

Seit 2015 bin ich fest mit einer Russin verbunden. Wir haben keine Kinder, aber über meine Frau wurde ich Teil einer russischen Familie, was meinen Einblick in das russische Leben noch einmal vergrößerte. Ich erfuhr, wie die Familie den Übergang vom realen Sozialismus in den wilden Kapitalismus erlebte. Meine Schwiegereltern sprachen nicht gerne über diese Zeit, aber das wenige, was sie erzählten, machte mir noch einmal klar, warum die Russen die Stabilität so sehr lieben und warum Wladimir Putin nach wie vor populär ist.

Meine Schwiegereltern kamen aus Arbeiterfamilien. In der Sowjetzeit machten sie eine Ausbildung als Ingenieure und arbeiteten ihr ganzes Erwerbsleben in einem Forschungsinstitut der Luftfahrtindustrie. In dem Institut wurden elektronische Messungen bei Testflügen von Flugzeugen überwacht und ausgewertet. Mein Schwiegervater wartete die Datenverarbeitungsmaschinen, meine Schwiegermutter war mit der Auswertung beschäftigt.

Als die beiden ihre Gehälter Ende der 1980er-Jahre nur noch unregelmäßig bekamen — der sowjetische Staat hatte kein Geld mehr —, begann mein Schwiegervater während der Arbeitszeit mit seinem gelben Lada 2101 als Taxifahrer zu arbeiten. Die Wache am Betriebstor drückte ein Auge zu. Und meine Schwiegermutter nähte Zelte für Marktstände. Denn in Russland schossen Anfang der 1990er-Jahre überall Freiluftmärkte aus dem Boden. Es entstand eine neue Klasse von Händlern, die Versorgungslücken mit billiger Ware schloss.

Gegen Ende der 1980er-Jahre leerten sich in den damals noch staatlichen Lebensmittelläden die Regale. Um den Grundbedarf der Menschen zu sichern, gab der sowjetische Staat Lebensmittelkarten für Zucker, Hülsenfrüchte, Fleisch und Zigaretten aus. Die Übergangszeit vom Sozialismus zum Kapitalismus ist für meine Schwiegereltern mit schmerzlichen Erinnerungen verbunden. Sie waren keine Parteimitglieder und hatten ihren eigenen Kopf gehabt, doch dass große Teile des Staatseigentums ab 1991 in die Hände von Neureichen kam, die gegenüber dem einfachen Volk keinerlei Verpflichtungen übernahmen, hat vor allem meinen Schwiegervater verbittert.

Dass ich als ausgebildeter Metallflugzeugbauer ausgerechnet in einer Familie landete, die Jahrzehnte in der Luftfahrtindustrie gearbeitet hatte, war ein Zufall. Man empfing mich mit offenen Armen. Ich fühlte mich in dieser Familie schnell heimisch, denn ich wurde als Mensch angenommen. Dass ich Deutscher war, spielte keine besondere Rolle.
Nach Deutschland zurückkehren?

Ich denke manchmal daran, nach Deutschland zurückzukehren. Aber eine Rückkehr nach Deutschland würde bedeuten, dass ich nicht mehr meiner Lieblingsbeschäftigung — aus erster Hand über die Ereignisse in Russland zu berichten — nachgehen kann. Von dem Tag an, an dem ich dieses Land verlassen habe, würde mein Wissen über Russland vergilben. Ich merke das schon nach einer Woche Abwesenheit von Moskau. Ich möchte nicht zu dem Kreis der deutschen „Russland-Experten“ gehören, die ihre Thesen nicht in Gesprächen mit Menschen in Russland überprüfen können.

Die Russen sind mir ans Herz gewachsen. Sie ermuntern mich täglich, mehr Emotion zu zeigen und sich nicht in der Einsamkeit zu verkriechen. In Russland finde ich Emotionalität, die ich im Nordwesten Deutschlands, wo ich herkomme, oft vermisst habe.

Mir gefällt, dass die Russen das Leben genießen wollen. Und zwar nicht überübermorgen, sondern heute. Was sich allerdings noch ändern muss, ist die Qualität im Arbeitsprozess. Die Qualitätskontrolle müsste verbessert und die Löhne erhöht werden.

Ich bewundere die Großherzigkeit der Russen. Sie begegnen uns Deutschen ohne Hass, obwohl wir Waffen in die Ukraine liefern und obwohl unsere Vorfahren zusammen mit den damaligen Verbündeten 27 Millionen Sowjetbürger getötet haben.

Russen haben oft eine raue Schale. Aber sie sind mitfühlsam. Im Haushalt werden Knochen nicht einfach in den Müll geworfen, sondern sie werden an einer bestimmten Stelle zwischen den Wohnhäusern für herrenlose Hunde ausgelegt. Auch abgetragene Kleidung wird nicht achtlos im Müll entsorgt, sondern an einer sichtbaren Stelle neben den Müllcontainer gelegt.

Russen sind hilfsbereit. Als ich mir im Winter 1993 — kurz nach meiner Ankunft in Moskau — auf einem nicht gestreuten Weg ein Bein gebrochen hatte und eine Weile auf Krücken durch Moskau lief, halfen mir Leute, Taxen anzuhalten. In der U-Bahn standen Passagiere wortlos auf, um einen Platz für mich frei zu machen. Ich fühlte mich fast wie ein Afghanistan-Kriegsveteran.

Als Journalist in Russland ist man oft erschöpft. Aber es gibt genug Möglichkeiten, die Seele baumeln zu lassen. Ein Spaziergang durch die Moskauer Altstadt oder eine Fahrt in das Moskauer Umland bringen die Welt wieder ins Lot.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist aus Auszug aus „Mein Weg nach Russland – Erinnerungen eines Reporters“ erschienen 2024 im Promediea Verlag.

Hier können Sie das Buch bestellen: Promedia Verlag

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