Was ist Glück? (1/5)

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche

„Glückwunsch!“ oder „Ein glückliches neues Jahr!“ Wie oft hören wir das, ohne dass sich der Wünschende viel dabei denkt. Aber kaum etwas ist lohnenswerter als über Glück nachzudenken. Liegt es in äußeren Dingen, wie viele Ratgeber suggerieren („Mein Haus, mein Auto, meine Frau/mein Mann“)? Bedeutete Glück, Ziele zu erreichen – oder ist es gerade der Prozess, die Anstrengung, die glücklich macht, bevor sich am Ziel dann ein Gefühl der Leere einstellt? Der Autor macht sich in seiner mehrteiligen Serie, die wir ab heute immer Dienstags veröffentlichen, auf die Suche nach dem Glück – gleichsam stellvertretend für die Leserinnen und Leser, für die es als aufmerksame Beobachter der politischen Weltlage ja nicht immer leicht ist, nicht in Missmut zu versinken.  Holger Wohlfahrt

Die Silvesterfrage

Vor einigen Wochen, pünktlich zum Jahresende, war es wieder so weit: Wünsche des Glückes überschwemmten mein virtuelles genauso wie mein reales Postfach. Auch die mir vollkommen unbekannte Kassiererin im Supermarkt, die schon etwas bekanntere Nachbarin im großstädtischen Treppenhaus, Familie, Freunde, Bekannte – von allen wurde ich überhäuft mit Glück-Wünschen für das neue Jahr. Natürlich revanchierte ich mich brav und verteilte meine Wünsche ebenso großzügig wie unbedacht. Doch was wünscht eigentlich, wer Glück wünscht?

Auf einer kleinen Silvesterparty beschloss ich, der Sache nachzugehen. „Was meinst du damit?“, fragte ich einen alten Freund mit ratlosem Gesicht, nachdem er mir mit viel Pathos seine Glückwünsche fürs neue Jahr entgegengebracht hatte. Während seine Frau einen Lachkrampf bekam, blickte er mich fassungslos und auch ein wenig entrüstet an. „Mein Gott, das sagt man halt so. Ist eine nette Geste. Schon mal davon gehört?“ Also nichts als eine formalisierte Höflichkeitsform?

Nicht, dass ich etwas gegen standardisierte Floskeln einzuwenden hätte. Sie sind eine Art Gegenmodell dessen, was der französische Philosoph Rene Girard als „mimetische Rivalität“ bezeichnete. Damit meinte er, dass Menschen in Konflikten kriegerische Handlungen der Gegner nachahmen, dabei aber oft den eigentlichen Grund des Konflikts vergessen. Das formelle Reden in Floskeln der Höflichkeit kann durchaus als eine friedliche Variante dieses mimetischen Handelns bezeichnet werden. Man ahmt sich nach, ohne zu überlegen, warum genau man das tut und was man damit bezweckt.

Aber so leicht ist es dann doch nicht. Zumindest mein Kumpel schien doch ganz genau zu wissen, was er mir da wünschte. Und so ergänzte er rasch: „Naja, ich wünsche dir halt Gesundheit und Erfolg fürs Neue Jahr.“

Glück, Gesundheit, Erfolg? Was denn nun? Sind das nicht verschiedene Kategorien? Ich merkte, dass ich anfing, ihm auf die Nerven zu gehen. Dennoch bohrte ich nach.
„Ich wünsche dir das nötige Glück, um gesund und erfolgreich zu sein“, meinte er schließlich. „Und wenn du gesund und erfolgreich bist, bist du auch glücklich“.

Das heißt also, man braucht äußeres Glück um inneres Glück erlangen zu können?
Doch mit dieser Frage ließ er mich alleine. Es war ihm, vielleicht verständlicher Weise, nun endgültig zu dumm geworden. Stattdessen widmete er sich so etwas Profanem wie dem Feuerwerk der Nachbarschaft, dessen Schönheit ihm trotz aller ökologischen Bedenken wohl einen unmittelbaren Moment des Glücks bescherte.

Doch ich blieb hartnäckig. Fast jeder Gast der Feier wurde nun von mir befragt. Rasch stellte sich heraus, dass fast alle mir das wünschten, was im Englischen als „good luck“ und im Französischen als „bonne chance“ bezeichnet wird: eine Wohlgesonnenheit der Glücksgöttin Fortuna auf dem Lebensweg durch das neue Jahr. Ein Party-Gast präzisierte: „Ich wünsche dir, dass du im Lotto gewinnst, dass du beim Überqueren einer Straße von dem alkoholisierten Autofahrer, der auf dich zurast wie durch ein Wunder nicht erwischt wirst und ich wünsche dir, dass die nächste Grippewelle zufällig an dir vorbei geht.“

Ich beschloss sofort, die offerierten Glückwünsche abzulehnen. Wer kennt sie nicht, die Geschichten der unglücklichen Lotto-Millionäre?

Und ja, es gibt sie auch, die Berichte von Menschen, die Unfälle hatten, krank wurden und doch genau in der Tragik ihres persönlichen Schicksals lernten, sich auf das Wesentliche im Leben zu besinnen oder sich einer zentralen Aufgabe zu widmen (nämlich dem Gesundwerden bzw. dem Akzeptieren der Krankheit) und sich plötzlich als grundlegend zufrieden oder absurder Weise sogar als glücklich bezeichneten.

Außerdem habe ich nur allzu oft erlebt, dass gerade diejenigen, die von Fortuna offenkundig vernachlässigt wurden, als besonders inspirierende, empathische und angenehme Menschen in Erscheinung traten. Kein Wunder, sie haben wahre Abgründe erlebt, wissen aus eigener Erfahrung, was es heißt, Leid zu erfahren. Sie können sich umso besser in andere Menschen und deren Leiden versetzen. Sie können wahrhaft mitfühlen. Vielleicht sind es gerade diejenigen, die vom Glück verlassen scheinen, die das Leben auf Erden erträglicher machen. Vielleicht sind sie es, deren äußeres Unglück dazu beiträgt, inneres Glück zu empfinden.

Auch äußeres Glück scheint nicht zwangsläufig zu innerem Glück zu führen. Sonst dürfte es unter gesunden, wohlhabenden Menschen in der hochentwickelten Welt moderner Industrienationen kein empfundenes Unglück oder gar so etwas wie Depression geben. In der Realität nimmt die Zahl der an Depressionen erkrankten Menschen jedoch gerade in der Wohlstandswelt rasant zu.

Die WHO geht davon aus, dass Depressionserkrankungen bis zum Jahr 2030 in den Industrieländern der häufigste Grund für Tod und chronische Behinderung sein werden – noch vor Herzerkrankungen und Verkehrsunfällen. In Deutschland erkranken jährlich 5,3 Millionen Menschen an Depressionen. Damit ist die Zahl der Depressionserkrankungen in den letzten zehn Jahren bereits um 70 Prozent gestiegen. Statistisch betrachtet, nimmt sich jede Stunde ein Mensch das Leben.

Glaubt man offiziellen Statistiken, ist in dieser Zeit aber auch der Wohlstand weiter gewachsen. Die Menschen werden statistisch älter als vor zehn Jahren und die Arbeitslosigkeit ist angeblich niedriger als vor zehn Jahren. Selbst wenn man derartigen Zahlen kritisch gegenübersteht: Wer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder später in Deutschland geboren wurde, muss, betrachtet man alleine die äußeren Rahmenbedingungen, durchaus als ein von Fortuna begünstigtes Wesen angesehen werden. Er hätte ja genauso gut zufällig in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in die des Zweiten Weltkrieges oder aber in die bittere Armut südsudanesischer Flüchtlinge der Gegenwart oder in die vom jahrzehntelangen Krieg zerrüttete Familie eines Afghanen geboren worden sein können.

Spontan fasste ich einen Vorsatz fürs neue Jahr: Ich werde mich mit der sogenannten Glücksforschung auseinandersetzen. Ich will wissen, wie Wissenschaftler, aber auch Esoteriker und religiöse oder spirituelle Menschen meine Frage nach dem Glück beantworten. Was würden mir Psychologen, Neurologen und Philosophen, Esoteriker und Theologen wünschen, wenn sie mir wahrhaft Glück wünschten?

Die Töne des Neujahrskonzerts waren noch nicht verklungen als ich mit einer regen Recherche begann. Ich las Exzerpte, die ich von philosophischen und psychologischen Büchern im Lauf der Jahre angefertigt hatte, vereinbarte Treffen mit ausgewählten Freunden und Bekannten aus esoterischen oder wissenschaftlichen Kreisen, die mir Ratgeber, Selbsthilfebücher oder komplexe wissenschaftliche Abhandlungen verschiedenster akademischer Disziplinen empfahlen und vor allem auch ihre eigenen Erkenntnisse vermittelten.

Sehr schnell wurde mir klar, dass viele derjenigen Bücher, die als „Ratgeber“ die Bestsellerlisten erobern, auf das äußere Glück abzielen: Verändere dich und du wirst den dich einengenden Rahmen sprengen können! Zehn Schritte zu Erfolg und Reichtum! Die Diät zum ewigen Leben! Das Trainingsprogramm für die endlose Jugend! Von Glück wird meist nicht direkt gesprochen. Doch wenn nicht eines diffusen, aber sicherlich guten Gefühls wegen, das man womöglich auch Glück nennen könnte – warum sollte man derartige Ziele sonst erstreben?

Schon der antike Philosoph Aristoteles machte darauf aufmerksam, dass jede Handlung, die sich nicht in sich selbst erschöpft, ein höheres Ziel bezweckt. In der heutigen Zeit scheint aus dieser Diagnose eine Forderung geworden zu sein. Schon Kindern wird nur allzu oft vermittelt, dass man in die Schule gehen muss, um einen guten Abschluss zu erlangen. Einen guten Abschluss benötigt man, um eine gute Ausbildung oder ein gutes Studium absolvieren zu können. Das wiederum ist Voraussetzung, um einen guten Beruf ausüben zu können. Einen guten Beruf übt man aus, um gutes Geld verdienen zu können und gutes Geld muss man verdienen, um ein gutes Leben führen zu können. Doch was ist das gute Leben? Jetzt käme vielleicht das Glück ins Spiel. Was es damit auf sich hat, bleibt zumindest in den Ausbildungsstätten der Gegenwart im Dunkeln. Hierauf bekommt man in der Regel keine Antwort. Stattdessen verinnerlicht der moderne Mensch, dass die Dinge keinen Selbstzweck haben. Alles ist Mittel zum Zweck geworden.

Fast alle der Bestseller-Ratgeber für das gesunde, ewige, von den Mitmenschen bewunderte, vor Reichtum und Schönheit berstende Leben hören spätestens an dieser Stelle auf. Sie scheinen, ganz wie mein Silvesterfreund, davon auszugehen, dass äußere Errungenschaften automatisch so etwas wie Glück mit sich bringen.

Dabei wird nicht hinterfragt, inwieweit diese Errungenschaften womöglich nur Mode-Erscheinungen sind, die den eigenen Fähigkeiten, den ureigenen Wünschen und Bedürfnissen überhaupt nicht entsprechen, daher langfristig sogar Unglück stiften können. Der introvertierte Bücherwurm wird jedenfalls trotz aller Ratgeber nie vollkommen aufgehen in der Rolle des funkensprühenden Gesellschafters, der die Massen um sich schart und mit billigen Sprüchen und Witzen unterhält.

Er kann, bei Lichte betrachtet, nur verlieren. Entweder er eignet sich tatsächlich krampfhaft empfohlene Methoden an und spielt eine ermüdende Rolle, die ihn viel Kraft kosten und doch nie zum authentischen Teil seines Selbst werden wird. Oder er begreift sich als Gescheiterter, dem es trotz allen Bemühens nicht gelingt, die Vorgaben der Ratgeber vollends umzusetzen.

Einem Bekannten, der mir zwei große Stapel sogenannter Ratgeberliteratur ausgeliehen hatte, gab ich die Bücher daher schnell und angewidert zurück. Als ich vorsichtig begann, ihn auf den Unsinn der Werke aufmerksam zu machen, als ich ihm vorhielt, dass der Konsum derartigen Schunds doch nichts bringe als die kalkulierte Bereicherung der jeweiligen Autoren und Verlage, stieß ich auf taube Ohren. Ich merkte sogar, dass seine Leidenschaft für diese Bücher und, wie ich fassungslos zur Kenntnis nehme, für die darüber hinausgehende Teilnahme an Seminaren der Autoren dieser Bücher so groß ist, dass sie trotz aller rationaler Ablehnung fast ansteckend auf mich wirkte. Plötzlich erkannte ich den wahren Glückswert, der hinter all dem steht: Unterwegs sein! Und damit begann ich, mich tief in psychologische, philosophische und neuro-wissenschaftliche Literatur zu vergraben.

Unterwegs sein

„Der Mythos von Sisyphos“ heißt ein wunderbarer Essay des existentialistischen Philosophen Albert Camus. Der Mythos des antiken Königs Sisyphos, der zur Strafe lebenslänglich einen Stein auf einen Berg rollen muss, welcher, sobald oben angekommen, wieder herunterrollt, wird im letzten Kapitel von Camus’ Werk zitiert. Gerade die Erkenntnis der Sinnlosigkeit seines Tuns wird für Sisyphos zum Moment der wahren Selbsterkenntnis. Sisyphos steht demnach als Synonym für den Menschen als solchen. Sein Tun ist zwar stets von einer tiefen Absurdität gekennzeichnet. Doch im Moment der bedingungslosen Akzeptanz, vielleicht sogar des Aufgehens in der absurden, vollkommen sinnlosen Tätigkeit, erfährt der Mensch sich selbst. Er erkennt, wie unbedeutend sein ach so beharrliches Streben ist. Und dennoch ist er so gefangen in der Aufgabe, dass er gedanklich keinen Raum hat, die Welt, in der er lebt, als unfruchtbar oder wertlos wahrnehmen zu können. Camus beschließt seinen Essay mit der Feststellung: „Der Kampf gegen Gipfel (auf die Sisyphos seinen Stein immer und immer wieder rollt) vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Sisyphos hat in seinem vermeintlich sinnlosen Tun also einen Lebenssinn gefunden. Camus, der als Existentialist auch als Philosoph der Freiheit bezeichnet werden kann, macht damit deutlich, dass jeder Einzelne seinem Leben im Suchen nach einer individuellen Aufgabe Sinn geben kann. Diese Suche ist so (er-)füllend, dass kein Platz mehr für allzu viel Unangenehmes bleibt. Sobald die Suche aber abgeschlossen ist, droht eine mentale Erstarrung einzukehren. Jetzt machen sich Ernüchterung, Sinnlosigkeit, auch Langeweile breit. Daher ist es aus dieser Perspektive für das individuelle Glücksempfinden wichtig, unterwegs zu sein und eben nicht möglichst schnell anzukommen, wie das in der modernen westlichen Gesellschaft meist propagiert wird.

Tatsächlich leitet sich das Wort Sinn vom althochdeutschen „sinnan“ ab, was etwa mit „reisen“ oder auch „streben nach“ übersetzt werden kann. Wer sich Sinn gibt ist also – dem Wortsinn nach – unterwegs. Er reist seinem individuellen Ziel entgegen. Das Ankommen kann den Sinn geradezu zerstören. So verwundert es nicht, dass sehr reiche Menschen, die nichts als materiellen Wohlstand erstreben, im Moment ihres „Ankommens“, den erlangten Reichtum als sinnentleert empfinden. Der Prototyp des irgendwie angekommenen, aber umso unglücklicheren Menschen, der sich verzweifelt in wilde, aber letztlich existentiell öde Partys mit Seinesgleichen stürzt oder eine verzweifelte Sinnsuche beginnt, ist nicht umsonst widerkehrendes Thema in Film und Literatur von Orson Welles „Citizen Kane“ bis zu Paolo Sorrentinos „La Grande Bellezza“, von Apuleisus „Goldenem Esel“ bis hin zu Scott F. Fitzgeralds „Großem Gatsby“.

Wie wichtig der individuelle Sinn für ein glückliches Leben ist, wurde zeitlebens von dem Psychiater und Neurologen Victor Frankl, Überlebender des KZ Auschwitz, thematisiert. Er hat jenen eindrücklichen Satz geprägt: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ (Er bedient sich dabei ein Stück weit bei Nietzsche, der seinerseits sagte: „Wer ein Warum hat, dem ist kein Wie zu schwer.“). Wer also eine individuelle Aufgabe hat, an der er sich orientieren kann, der erträgt auch jede Widrigkeit des Lebens. Nichts und niemand kann dann die zentrale Motivation des eigenen Tuns überlagern. Sisyphos hat sein Warum gefunden. Es besteht darin, den Stein immer und immer wieder auf den Berg zu rollen.

Victor Frankl behauptete, dass er das KZ nur überleben konnte, weil er eine sich selbst gegebene Aufgabe hatte, der er alles unterordnete. Für ihn hatte diese Aufgabe darin bestanden, die Auswirkungen der inhumanen Bedingungen auf die Mitmenschen zu analysieren. Er sah es als Ziel an, später Vorträge über die Auswirkung des Lagers auf die Psyche der Menschen zu halten. Er wollte, dass die Menschheit über ihn aus dem Schlimmen lernen konnte. Das gab ihm Sinn und Orientierung. Es hielt ihn am Leben.

Vielleicht kommt man hier auch schon dem Phänomen auf die Spur, warum in der hochentwickelten Welt des Westens die Zahl der Depressionen ins Unermessliche zu steigen scheint. Wenn alle wesentlichen Bedürfnisse gedeckt sind, von vielen keine wahrhaften, das eigene Leben unmittelbar betreffenden Herausforderungen mehr erkannt werden, droht eine innere Leere.

Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow verdeutlicht diesen Sachverhalt anhand eines Modells. Es ist das berühmte Modell der Bedürfnispyramide. Demnach haben Menschen zunächst das besonders ausgeprägte Bedürfnis, die notwendigsten Grundlagen ihres Lebens abzudecken. Hierzu gehören das Bedürfnis nach Schlaf, Essen und Trinken. Ist diese Bedürfnisebene nachhaltig abgedeckt, will die nächste Bedürfnisstufe erreicht werden. Der Mensch strebt auf dieser zweiten Stufe nach Geborgenheit und einer Grundsicherheit (vor wahrhaft lebensbedrohender Gefahr). Sind auch diese Bedürfnisse gedeckt, stellen sich soziale Bedürfnisse ein, wie Freundschaften und Zugehörigkeitsgefühle. Auf der nächsten, der vierten Stufe, strebt der Mensch nach Anerkennung und Status. Hat er auch diese Bedürfnisse abgedeckt, möchte er sich auf der letzten Stufe schließlich selbst verwirklichen.

Das von Maslow bemühte Bild erscheint zunächst etwas statisch. Doch Maslow betont eigens, dass es auch dynamische Entwicklungen geben könne, dass verschiedene Bedürfnisse gleichzeitig gedeckt werden oder einzelne Bedürfnisebenen kurzzeitig übersprungen werden können.

Offensichtlich ist jedoch, dass es auf eine unmittelbare Art erfüllender ist, die notwendigen Grundbedürfnisse abzudecken. Diese sind konkret. Wer Hunger hat und sein mühsam verdientes Abendbrot genießen kann, hat ein direktes und wohl begründetes Glücksempfinden. Schwieriger ist es, das abstrakte Gut der individuellen Selbstverwirklichung umzusetzen. In der hochentwickelten Welt moderner Industrienationen geht es letztlich aber meist nur noch darum: Wie wird es jedem Einzelnen möglich, ein anerkanntes, selbsterfülltes, selbstverwirklichendes Leben zu führen? Der unzweifelhaft hohe Zivilisationsstand ist somit Fluch und Segen zugleich. Die Grundbedürfnisse sind gedeckt, die Frage nach der Selbstverwirklichung bleibt abstrakt. Existentielle Leere ist allgegenwärtig.

Und damit kommen wir wieder zu meinem Bekannten mit seinen Ratgeberbüchern und seinem Streben nach Reichtum, Ruhm, Schönheit, Erfolg, Geld und der ewigen Jugend. Er hat seinen – aus meiner Sicht vollkommen sinnlosen – Sinn gefunden. Er tingelt von Seminar zu Seminar, liest Buch um Buch, ohne sich je der erwünschten Vollkommenheit wirklich zu nähern. Finanziell laben sich Andere an seiner Suche. Existentiell profitiert allein er.

Wie Sisyphos scheint er sein Glück im absurden Tun gefunden zu haben. Er ist offensichtlich auf der letzten Stufe der Malsow’schen Bedürfnispyramide angekommen. Auf dieser Stufe hat er es nun geschafft, sich nicht zu verlieren, sondern einen wundersamen Weg durch das verschlungene Dickicht der Seele zu finden.

Generativität

Warum Menschen sich besser fühlen, wenn sie einen tieferen Sinn in ihrem Leben erkennen, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Womöglich war es einst ein Überlebensvorteil, dass die Gattung Homo Sapiens in einem evolutionären Urzustand nachgerade Glücksgefühle empfand, wenn sie sich auf den Weg hin zu neuen und besseren Anbau- und Jagdplätzen machte. Die Aussicht auf ein sichereres und besseres Überleben dürfte sie angetrieben haben und vielleicht auch ein Grund dafür sein, dass es ihr im Laufe der Evolution gelang, die grausame Herrschaft über die Welt und ihre anderen Bewohner zu erlangen.

Einst ein Evolutionsvorteil, entwächst dieser menschlichen Veranlagung heute auch eine Gefahr. Nur allzu leicht stürzt sich der moderne Mensch in fragwürdige Sinn-Angebote. Das Streben nach individueller Perfektion meines Silvesterfreundes ist vergleichsweise harmlos. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, wie gefährlich das Bedürfnis nach Sinn auch sein kann.

Als zentralen Begriff des Sinns nennt nicht nur Tatjana Schnell in ihrem Werk „Psychologie des Lebenssinns“ den der „Generativität“. Dieser Begriff meint das Bestreben des Einzelnen, sich in einen größeren, einen über Generationen hinausgehenden Zusammenhang einzuordnen. Man möchte Teil eines großen Ganzen werden. Genau dieses Angebot offerieren organisierte Kirchen, Staaten oder Ideologien.

Je rigoroser sich der Einzelne nun Kirche, Staat oder Ideologie unterordnet, desto intensiver ist das Gefühl der Identität mit der Sache. Es ist bekanntlich noch nicht lange her, dass Menschen auch in unserem Land „für Volk und Vaterland“ begeistert in den Krieg zogen, dem Tod entgegen. Ihr Tun erschien ihnen sinnhaft und damit auch glücksstiftend.
Es übersteigerte das eigene Ich. Man zog schließlich nicht nur für sich, sondern vor allem auch für die Familie, die Freunde, die Nachfahren, letztlich für das ganze gegenwärtige und zukünftige Volk in die Schlacht. Der Sachverhalt des „generativen Sinns“ wurde ins Extrem getrieben.

Das offenkundige menschliche Bedürfnis, sich Sinn zu geben, indem man sich für eine große, das eigene Ich übersteigende Sache einsetzt, haben sich in weiten Teilen der Welt längst andere zunutze gemacht: die globalen Eliten der Wirtschaft. Immer häufiger begegnet das Modell der sogenannten amerikanischen Firmenkultur, die stark von psychologischen Erkenntnissen geleitet wird.

So wird Angestellten in heutigen Unternehmen in der Regel vermittelt, dass sie sich im Grunde genommen nicht nur für eine Firma, sondern für eine große Sache engagieren. Gerne wird auf mehr oder weniger show-artige Hilfsprojekte des jeweiligen Unternehmens verwiesen (und kaum ein Unternehmen von Rang verzichtet darauf, irgendwelche dubiosen Hilfsprogramme zu initiieren oder wenigstens zu unterstützen).

Vor allem wird aber durch oftmals nur allzu alberne Spielchen ein gesteigertes Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Firma erzeugt. Man nutzt gemeinsam das interne Fitness-Studio, tritt in Firmenmeisterschaften im Fußball gegeneinander an oder unternimmt gemeinsame Tandem-Fallschirmsprünge. Letztlich geht es bei all dem darum, einen extremen Team-Charakter zu bilden, in dem der Einzelne schließlich aufgehen soll. Er soll dahin kommen, sein eigenes Selbst bereitwillig der Gemeinschaft des Unternehmens und dessen Erfolg unterzuordnen. Das Bedürfnis nach glückstreibender Sinnhaftigkeit bringt heute tatsächlich viele Menschen in der hochentwickelten, satten Welt dazu, sich für sonderbarste Firmenmodelle zu prostituieren und sich somit einen Moment der Sinnhaftigkeit künstlich anzueignen.

Das Sinn-Angebot moderner Firmen ist womöglich tatsächlich harmlos im Vergleich zu dem, was einst Kirche und Nation anboten. Der angemessene Einsatz für den Glauben oder das Vaterland musste schließlich auch die Bereitschaft beinhalten, für beides zu sterben. Die Sinn-Angebote moderner Firmen können demgegenüber noch so ausgefeilt sein – sie sind letztlich doch zu mickrig, als dass man sein Leben für sie aufs Spiel setzen wollte.

Doch ungefährlich ist auch ihr Modell nicht. Indem immer mehr Menschen sich immer ausgefalleneren Berufsmodellen unterordnen und dabei die überlebenswichtigen Ressourcen der Erde dazu benutzen, immer unnützere Dinge zu produzieren und zu vermarkten, um dann noch unnützere Dinge konsumieren zu können, werden eben jene Ressourcen merklich weniger. Auch das pure Überleben wird angesichts des aktuellen Wirtschaftsmodells irgendwann selbst in den globalen Zentren wieder zum konkreten Thema werden.

Die „Generativität“, jene wohl tief im Menschen verankerte Bereitschaft, das eigene, begrenzte Leben zu überschreiten, kann also für den Einzelnen (zumindest im unmittelbaren Moment des Empfindens) glücksstiftend wirken. Für die Spezies Mensch als solche kann sie hingegen zur großen Gefahr werden. Umso wichtiger ist eine tiefe Bewusstheit der menschlichen psychologischen Konstitution. Aus dieser Bewusstheit heraus kann die „Generativität“ nämlich auch zu einem rundheraus beglückenden Phänomen werden.

Ihr entspricht nämlich auch der menschliche Altruismus: Sich selbst für andere aufzuopfern, bedingungslos zu helfen und den Mitmenschen zuliebe auf eigene Vorteile zu verzichten.

Heutzutage wird die unmittelbare „Generativität“ denn auch am stärksten bei der Geburt und frühkindlichen Betreuung der eigenen Kinder erlebt. Selbst die größten Egoisten werden im Angesicht ihres eigenen Nachwuchses oft zu opferbereiten Menschen, die genau im Moment ihres Opferbringens Glück empfinden. Und so verwundert es nicht, dass Eltern trotz aller Schwierigkeiten, die sich immer auch einstellen – von anfänglichem Schlafmangel über die Auseinandersetzung mit den ständigen Kinderkrankheiten bis hin zu ersten schulischen Problemen – gerade ihre Elternschaft insgesamt als sinnvoll und glücksstiftend bezeichnen.

Doch auch Hervorbringungen anderer Art können der „Generativität“ zugerechnet werden. Wer etwa Musik komponiert, Bilder malt oder Gedichte schreibt, wird dies immer auch tun, um sich selbst für andere auszudrücken. Er übersteigert die eigenen Gefühle und bringt sie in transzendierter Form seinen Mitmenschen bereitwillig dar. Das Bedürfnis des Weiterlebens, des Überdauerns der Generationen wird nicht nur in der Geburt der eigenen Kinder ein Stück weit erfüllt, sondern auch in der Erzeugung von Werten, die dereinst tradiert werden.

Der französische Aufklärer Denis Diderot schrieb im 18. Jahrhundert: „Die Nachwelt ist dasselbe für den Philosophen, wie das Jenseits für einen Gläubigen.“ In beiden Kategorien wird das menschliche Ich jedoch gleichermaßen tradiert. Es wird in Form der überdauerten Werke in die Nachwelt übertragen oder im Jenseits in Form einer göttlich-transzendenten Wandlung fortgeführt.

Heute überwiegt zumindest in der säkularen Welt Zentraleuropas das philosophische bzw. das daraus hervorgegangene wissenschaftliche Denken. Ein Moment der Transzendenz und Unsterblichkeit kann auch in einer verwissenschaftlichten Welt in der Hervorbringung oder Widergabe großartiger Werke ganz im Sinne Diderots erlebt werden.

Das Gefühl der „Generativität“ tritt aber nicht nur ein, wenn man selbst als Maler oder Dichter aktiv wird, sondern bisweilen auch dann, wenn man sich selbst mit den überwältigenden Werken menschlicher Vorfahren auseinandersetzt. Das kann für die Musik eines, sagen wir, Mozart genauso gelten wie für die Poesie Rilkes. Anhand jener unsterblicher Momente, die als Ausdruck einer überpersönlichen Wahrheit einer tiefen Weltenseele entsprungen zu sein scheinen, kann der Einzelne eine Verschmelzung mit einem größeren Ganzen empfinden und so etwas wie wahrhaftes inneres Glück spüren.

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