Was ist obszön?

 In Holdger Platta, Politik (Inland)
Bäuerin Emma streichelt die Schweine immer vor der Schlachtung. (Szene aus "Emmas Glück")

Bäuerin Emma streichelt die Schweine immer vor der Schlachtung. (Szene aus “Emmas Glück”)

Als habe sie die für ihre Person vielfach verwendete Bezeichnung “Mutti” verinnerlicht, streichelte Angela Merkel vor einigen Tagen ein palästinensisches Flüchtlingskind. Rührend oder? Unsere Kanzlerin halt. Das spürt man viel spontane Herzlichkeit. Das Problem ist nur: Das Mädchen weinte gerade wegen der Härte der zuvor gesprochenen Worte Merkels, die faktisch bedeuteten: “Da kann man nichts machen, wir können nicht alle hier reinlassen.” Und der Trost war ein vergifteter, denn was sollte Reem – so ihr Name – mit einem billigen Lob für ihre rhetorische Performance anfangen? Falls das Mädchen nun doch nicht abgeschoben wird, ist das wohl entweder eine Ausnahme oder ein PR-Coup, der nur im Kontext einer unfassbaren menschlichen Härte der EU-Regierungen gegenüber Flüchtlingen richtig gedeutet werden kann. (Holdger Platta)

1969 war das, da befreite der US-amerikanische Sozialphilosoph Herbert Marcuse endlich den Abwertungsbegriff „obszön“ von seiner sexuell-verklemmten Definition. Er, der vormalige Mitbegründer der „Frankfurter Schule“, der als Linker und Jude 1933 vor den Nazis aus Deutschland flüchten mußte, früher Weggefährte von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Erich Fromm und eigenständiger Denker bis zu seinem Tode 1979, publizierte in seinem „Versuch über die Befreiung“ den denkwürdigen Satz:

„Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern der eines Generals in vollem Wichs, der seine in einem Aggressionskrieg verdienten Orden zur Schau stellt.“ (Suhrkamp Verlag 1969, Seite 21)

Man kann sich vorstellen, welchen Staub dieser Satz damals aufgewirbelt hat. Deutschland: schlagartig ein einziger Kasernenhof, prallgefüllt mit den Sittlichkeitsbewahrern der Nation. Die Folge: Militaristen und Antinudisten machten aufs erregteste mobil gegen diesen Philosophen aus dem fernen Nordamerika – in Reih und Glied sozusagen -, und noch dem Naivsten war klar, daß dieser Marcuse-Satz nicht zuletzt Stellung bezog gegen den völkerrechtswidrigen Krieg der USA in Vietnam. „Obszönität“, das war unversehens nicht mehr ein Begriff, mit dem sich entrüstete Rüstungsbefürworter auf sogenannte Pornobilder stürzen konnten, sondern eine Wort, das den Militarismus angriff und die Menschenvernichtungsprämien, die mit diesem Kriegsgeist untrennbar verbunden sind. „Obszönität“, das war spätestens seit dieser Aussage von Herbert Marcuse auch eine linke, eine politik-kritische Kategorie, eine Neudefinition des Wortes „Obszönität“, ganz auf Seiten der Humanität.

Weshalb ich das alles heute und hier in Erinnerung rufe? – Nun, weil wir soeben einer Neuauflage von politischer Obszönität begegnen mussten. Ich spreche vom Auftritt der Kanzlerin Merkel in der Rostocker Scheel-Schule vor einigen Tagen, bei dem sie vor Schülerinnen und Schülern die bundesdeutsche Abschiebepraxis zu rechtfertigen versuchte und ein Flüchtlingsmädchen aus Palästina, das bei Merkels Wort von der angeblich unvermeidbaren „Härte“ in Tränen ausbrach, mit läppischen Lobesworten nach dessen Bitte um weiteren Aufenthalt hier bei uns in Deutschland zu tätscheln begann: „Das hast Du doch prima gemacht!“

Was geschah in diesem Moment? – Nun, um es in einem einzigen, ganz einfachen Satz zusammenzufassen: die Macht streichelte ihr Opfer. Die Macht, die imstande ist, Mitmenschen zurückzuverfrachten in Elend, Hunger und Tod. Und auch das, liebe Leserinnen und Leser, die Schamlosigkeit, mit der sich verrohte Politik als Humanität darzustellen weiß, dieses massenmediale Weginszenieren der eigenen Brutalität, ist nur eines: obszön!

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