Was kann gemeinnütziger sein als Antifaschismus?

 In FEATURED, Politik (Inland)

Esther Bejarano, Foto: Sven Teschke unter Lizenz Creative Commons

Esther Bejarano, Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, schreibt einen offenen Brief an den Bundesminister der Finanzen zur völlig unverständlichen Entscheidung eines Finanzamts, dem Verein die Gemeinnützigkeit abzuerkennen.

25. November 2019

Sehr geehrter Herr Minister Scholz,

seit 2008 bin ich die Ehrenvorsitzende der VVN–BdA, der gemeinnützigen Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, gegründet 1947 von Überlebenden der Konzentrationslager und NS-Verfolgten. Die Arbeit der Antifa, die Arbeit antifaschistischer Vereinigungen ist heute – immer noch – bitter nötig. Für uns Überlebende ist es unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt, wenn jüdische Menschen und Synagogen angegriffen werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren und extreme Rechte nicht mal mehr vor Angriffen gegen Vertreter des Staates zurückschrecken.

Wohin steuert die Bundesrepublik?

Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus!, wollen der größten und ältesten antifaschistischen Vereinigung im Land die Arbeit unmöglich machen? Diese Abwertung unserer Arbeit ist eine schwere Kränkung für uns alle.

“Die Bundesrepublik ist ein anderes, besseres Deutschland geworden”, hatten mir Freunde versichert, bevor ich vor fast 60 Jahren mit meiner Familie aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt bin. Alten und neuen Nazis bin ich hier trotzdem begegnet. Aber hier habe ich verlässliche Freunde gefunden, Menschen, die im Widerstand gegen den NS gekämpft haben, die Antifaschistinnen und Antifaschisten. Nur ihnen konnte ich vertrauen.

Wir Überlebende der Shoah sind die unbequemen Mahner, aber wir haben unsere Hoffnung auf eine bessere und friedliche Welt nicht verloren. Dafür brauchen wir und die vielen, die denken wie wir, Hilfe! Wir brauchen Organisationen, die diese Arbeit unterstützen und koordinieren.

Nie habe ich mir vorstellen können, dass die Gemeinnützigkeit unserer Arbeit angezweifelt oder uns abgesprochen werden könnte! Dass ich das heute erleben muss! Haben diejenigen schon gewonnen, die die Geschichte unseres Landes verfälschen wollen, die sie umschreiben und überschreiben wollen? Die von Gedenkstätten ‘als Denkmal der Schande’ sprechen und den NS-Staat und seine Mordmaschine als ‘Vogelschiss in deutscher Geschichte’ bezeichnen?

In den vergangenen Jahrzehnten habe ich viele Auszeichnungen und Ehrungen erhalten, jetzt gerade wieder vom Hamburger Senat eine Ehrendenkmünze in Gold. Mein zweites Bundesverdienstkreuz, das Große, haben Sie mir im Jahr 2012 persönlich feierlich überreicht, eine Ehrung für hervorragende Verdienste um das Gemeinwohl, hieß es da. 2008 schon hatte der Bundespräsident mir das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse angeheftet. Darüber freue ich mich, denn jede einzelne Ehrung steht für Anerkennung meiner – unserer – Arbeit gegen das Vergessen, für ein “Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus”, für unseren Kampf gegen alte und neue Nazis.

Wer aber Medaillen an Shoah-Überlebende vergibt, übernimmt auch eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung für das gemeinsame NIE WIEDER, das unserer Arbeit zugrunde liegt.

Und nun frage ich Sie:
Was kann gemeinnütziger sein, als diesen Kampf zu führen?

Entscheidet hierzulande tatsächlich eine Steuerbehörde über die Existenzmöglichkeit einer Vereinigung von Überlebenden der Naziverbrechen?

Als zuständiger Minister der Finanzen fordere ich Sie auf, alles zu tun, um diese unsägliche, ungerechte Entscheidung der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der Arbeit der VVN–BdA rückgängig zu machen und entsprechende Gesetzesänderungen vorzuschlagen.

Wir Überlebenden haben einen Auftrag zu erfüllen, der uns von den Millionen in den Konzentrationslagern und NS-Gefängnissen Ermordeten und Gequälten erteilt wurde. Dabei helfen uns viele Freundinnen und Freunde, die Antifaschistinnen und Antifaschisten – aus Liebe zur Menschheit! Lassen Sie nicht zu, dass diese Arbeit durch zusätzliche Steuerbelastungen noch weiter erschwert wird.

Mit freundlichen Grüßen
Esther Bejarano
Vorsitzende
Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.

Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Showing 3 comments
  • Ruth
    Antworten
    Liebe Frau Bejarano,

    mein Herz ist bei Ihnen. Es klingt pathetisch, aber ehrlicher kann ich es nicht ausdrücken!

    Ich schließe mich Ihrer Forderung an!

    Und ich hoffe, dass hier eine Entschuldigung folgt!

  • Holdger Platta
    Antworten
    Liebe Frau Bejarano,

    selbstverständlich schließe auch ich mich – wie Leserin „Ruth“ – Ihrem Appell aus ganzem Herzen an – und ich denke, das tue ich im Einverständnis mit allen, die bei unserer Website http://www.hinter-den-schlagzeilen.de mitarbeiten.

    Ich durfte in diesem Falle derjenige sein, der Ihren Appell an unseren stellvertretenden Chefredakteur und Admin Roland Rottenfußer zur Veröffentlichung bei uns weitergeleitet hat, und Roland Rottenfußer ist ohne jegliches Zögern meiner Empfehlung gefolgt, Ihren Appell bei uns zu veröffentlichen.

    Ich würde mich sehr freuen, wenn sich noch viele aus unserem Mitarbeiterkreis und aus unserer Leserschaft Ihrem Appell anschließen würden.

    Übrigens hat unsere Leserin „Ruth“ auch Recht mit ihrer – ich sage: dringenden! – Erwartung, daß sich Minister Scholz zu einer Entschuldigung durchringen kann. Und: daß diese Aberkennung der Gemeinnützigkeit von VVN-BdA unverzüglich zurückgenommen wird!

    Herzlichste Bitte also an alle, diesen Brief von Esther Bejarano zu unterstützen!

    Mit lieben Grüßen an Sie und alle MitleserInnen hier

    Holdger Platta

     

  • Hella-Maria Schier
    Antworten

    Ich habe ein zwiespältiges Gefühl. Früher hatte der VVN für mich nur eine positive Bedeutung. Ich hatte in den späten 7oern als Schülerin an zwei Projektfreizeiten mit Aktion Sühnezeichen in Polen teilgenommen und dort viel gesehen und gelernt. Besuch von Auschwitz, dann Gedenkstättenpflege im Konzentrationslager Majdanek. Nachmittags theoretisches Erarbeiten des deutschen Faschismus und seiner Ursachen, wobei wir besonders die Verbindung von Kapitalismus und Faschismus uns aufarbeitetenEs war alles emotional schwer verdaulicher Stoff, aber positiv.

    Jedoch die Antifaschisten haben  sich seitdem geänďert.

    Für uns Antifaschisten aus den 70ern war es selbstverständlich und kein Widerspruch zur Sühne für den  Holocaust,  die Palästinenser-Politik des Staates Israel zu kritisieren.

    Die Lehre aus Auschwitz konnte für uns nur sein, uns gegen jegliche Diskriminierung und Verfolgung, gegen jeglichen Faschismus und Rassismus zu wenden und bei Israel keine Ausnahme zu machen.

    Auch waren Kritik an Großbanken,an Finanzsystemund ungerechter Vermögensverteilung für uns umverzichtbare Elemente des Antifaschismus. Die heutige Antifa jedoch diffamiert all dies pauschal als „antisemitisch“!  Ist ihr nicht bewusst, dass gerade sie den Zorn der Welt einmal wieder auf die Juden lenkt, wenn sie in deren Namen Kapitalismuskritik untersagen will??

    Man muss sich doch fragen, welche (finanzstarken) faschistischen Interessen wirklich hinter dieser Tabuisierung stecken, da sie den Juden schadet statt nutzt.

    Und wie friedlich ist die Antifa, wenn ihre Anhänger sich lautstark weitere Bomben auf Dresden wünschen und “ Atombomben auf Deutschland“?

    Über NGOs wie die Amadeu Antonio Stiftung wird eine repressive und psychologisch ignorante Political Correctness vorangetrieben, die an die Inquisition vergangener Jahrhunderte und die Stasi erinnert und die Gräben  weiter vertiefen wird.

    Für die vermeintlicheBeseitigung „neuer Hitler“ oder Verhinderung eines “ neuen Auschwitz“werden Kriege begonnen.

    Und sind all diese unerfreulichen Entwicklungen des Antifaschismus zu eigenen faschistischen Charakteristika nun das Ergebnis einer gepflegten Erinnerungs-kultur?

    Die Unterstützung von Kriegen, die Verteidigung des Kapitalismus und die Förderung von Meinungstyrannei?

    Dies alles ist viel mehr faschistisch als dass es diesen bekämpft und ein Missbrauch des Gedenkens der Opfer der Nazis!

    Erinnerung muss etwas positives bewirken und darf sich nicht für Machtinteressen von Großfinanz und Militär missbrauchen lassen! Sonst hat sie mit Antifaschismus nichts zu tun, ist nicht gemeinnützigund sollte auch nicht vom Staat gefördert werden.

    LG Hella-M. Schier

     

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