Weisheit durch Nicht-Wissen
In unserer von Benennung, Bewertung, Quantifizierung und Wissenschaft geprägten Kultur wird das Denken überschätzt. Aber auch in unserem Alltag werden wir von Gedanken und Konzepten geradezu gejagt. Wie schön ist es da, sich in sein schlichtes Da-Sein hinein zu entpannen. Viele spirituelle Techniken laden dazu ein, verfallen dabei aber leider oft ins gegenteilige Extrem. Kritisch Denkenden wird zur Last gelegt, „total im mind“ zu sein, es herrscht geradezu eine Intellektfeindlichkeit vor, die nicht gerade zum guten Ruf der Spiritualität unter Intelligenten beigetragen hat. Warum muss es aber unbedingt eine Frage des „Entweder … oder“ sein. Torsten Brügge, spiritueller Lehrer mit Interesse für integrales Denken und Politik, versucht sich an einer Synthese. (Torsten Brügge)
Direktes Erleben innerer Stille ist unabdingbar für spirituelle Entfaltung
(oder die „No-Brain“ und die „Only-Brain-Typen“)
Einer der wichtigsten Aspekte spiritueller Entwicklung ist die Erfahrung innerer Stille. Bevor wir in höhere Bereichen der Bewusstseinsentfaltung gelangen, sind wir zu beinahe hundert Prozent mit dem Denken identifiziert. Ein Gedanke taucht auf: „Das ist ein Stuhl“. Wir halten den Gedanken für wahr. Unsere innere Wahrnehmungswelt wird von einer Flut mentaler Benennungen, Bewertungen und Bedeutungen durchzogen. Wir schauen auf Begriffe und glauben, die Welt zu sehen. Im Bann der Worte halten wir die momentanen Deutungen für die beständige Wahrheit einer wirklichen Welt.
Das gilt schon für die grundlegendsten Benennungen: „Stein“, „Gras“, „Affe“, „Mensch“. Erst recht fallen wir auf diese Täuschung herein, wenn wir unsere Ideen über uns selbst glauben: „Ich bin ein Mann … eine Frau“, „Ich bin Taxifahrer … Web-Designer … Berater“, „Ich bin Vater … Mutter … Tochter … Sohn.“
Was wären wir, wenn wir diese Festlegungen klar als Gedanken erkennen und gehen lassen würden?
Die Würde unserer Ratio
Die Errungenschaft des Gehirns, mentale Repräsentationen zu erzeugen, zu verknüpfen und mit Bedeutung aufzuladen, war eine evolutionäre Leistung höchsten Ranges. Erst die komplexen Fähigkeiten des Verstandes haben es ermöglicht, trotz eines schwachen und schutzlosen Körpers, erfolgreich zu überleben. Damit wir als steinzeitliche Jäger ein Mammut erlegen konnten, brauchte es das Vermögen einer Verknüpfung von Begriffen und deren Kommunikation. Wir benötigten zunächst Bezeichnungen für „Männer“, „Grube“, „Speer“, „links“ und „rechts“. Erst dann konnten wir der Sippe klarmachen, dass alle Männer jetzt bitte eine Grube graben, sie mit Speeren bestücken und dann einige das Mammut von links, andere von rechts in Richtung Falle treiben sollten. Eine komplexe Botschaft ließ sich in einem einzigen Satz ausdrücken und bescherte Nahrung für Monate. Was für ein Wunder! In diesem Sinne entwickelten sich Ratio und Sprache zu mächtigen Waffen des Überlebens.
Die Weiterentwicklung der Vernunft hat der Menschheit zahlreiche Segnungen beschert. Wir haben gelernt, uns über gedankliche Repräsentationen in die Wahrnehmungswelt anderer hineinzuversetzen. So erweiterten wir unsere Perspektive und unser Mitgefühl. Ihre Blüte hatte die Ratio in der Epoche der Aufklärung. Die Früchte sind beeindruckend: die Trennung von Wissenschaft, Ästhetik und Moral. Die Verfassung der Menschenrechte. Die Abschaffung der Sklaverei. Die beginnende Gleichberechtigung der Geschlechter. Ken Wilber bezeichnet das als „Würde der Moderne“. Es sind die Geschenke der rationalen Entwicklungsebene.
Die Grenzen unserer Ratio
Zugleich wirkt die Ratio als Fluch. Nämlich dann, wenn sie zur einzigen und höchsten Sichtweise überhöht wird. Die Evolutionsforschung scheint diese Überbetonung schon in die Namensgebung unserer Art hineinzuschreiben. Den Forschern fiel nichts Besseres ein als „Homo Sapiens Sapiens“ (Homo = Mensch, Sapiens = denkend/vernunftbegabt) – also doppelt denkend. Ist das womöglich ein bisschen zuviel des Denkens? Nach einer Emergenz auf eine höhere Evolutionsebene hört sich das jedenfalls nicht an.
Seit der Aufklärung bewirkt die Dominanz der rationalen Wissenschaft, die sich weitgehend auf die Betrachtung der äußeren Wirklichkeit festlegte (die rechtsseitigen Quadranten), eine zerstörerische Einseitigkeit. Jegliche Innerlichkeit – und vor allem die einer verbindenden, spirituellen Dimension – wurde als irrational abgetan und unterdrückt. Vermutlich ist dies der Grund für das Missverhältnis zwischen der mächtigen technisch-wissenschaftlichen Entwicklung und ihren mangelnden ethisch-moralischen Grundlagen. Wir verfügen über die wirksamsten Technologien, die effektivsten Methoden zur Eroberung von Ressourcen, über die am besten vernetzten Informationstechnologien. Doch die Verwendung dieser Instrumente unterliegt einem erschreckenden Maß ethischer Unbewusstheit; Machtmissbrauch, sektiererische Ausgrenzung und berechnende Ausbeutung bestimmen unser individuelles und kollektives Handeln. Mit Massenvernichtungswaffen, Ressourcenraubbau und Umweltzerstörung steht die Menschheit kurz davor, sich selbst und große Teile der Lebensvielfalt unseres Planeten zu vernichten.
Individuell zeigen sich die Leid erzeugenden Auswüchse der Ratio als innerer Lärm. Wie Gewehrsalven feuert unser Bewusstsein einordnende und beurteilende Gedanken ab. Der innere Richter fällt pausenlos strenge Urteile über richtig und falsch, wertvoll und schädlich, vernünftig und irrational. Der innere Kommentator textet uns mit endlosen Monologen über „mich und die Welt“ zu. Wir sind all dessen längst überdrüssig. Doch damit aufzuhören scheint schwer. Gedanken mit weiterem Nachdenken zu folgen, ist zur eingeschliffenen Gewohnheit geworden, ja zur Sucht – wie bei einem Junkie, der nach dem nächsten Schuss giert.
Für viele Menschen ist zwanghaftes Nachdenken und Grübeln zum selbstverständlichen Bewusstseinszustand geworden. Das gilt besonders für diejenigen, die sich nach dem integralen Modell auf höheren rationalen Stufen bewegen. Sie haben so etwas wie ein „reifes selbstbestimmtes Ego“ (Wilber) ausgebildet. Die Plastik „Der Denker“ von Auguste Rodin stellt solch einen Menschen dar. Versunken schaut er in die innere Welt. Er sinnt über sich, Gott und die Welt. Das lässt nicht nur Tiefsinn erahnen. Die Figur zeigt auch die Anspannung und Abtrennung, die das Grübeln mit sich bringt. Wir identifizieren uns mit einem sich unabhängig dünkenden Ich, das sich der Ganzheit allen Seins entfremdet hat.
Stagniert unsere Entwicklung hier, erleben wir eine existenzielle Depression. Traditionelle Sinn stiftende Perspektiven, wie sie uns die Religionen der prärationalen Ebene anbieten, sind von uns mit berechtigter Kritik verworfen worden. In Philosophie und wissenschaftlichen Grenzgebieten ahnen wir den Hauch einer höheren transpersonalen Wahrheit. Die Erfahrung dieser Ebene bleibt uns jedoch noch verwehrt, denn wir halten immer noch fest an unseren alten vernünftigen und begründbaren Sichtweisen. Und so befinden wir uns in einem Übergangsbereich, in dem wir uns mit Endlichkeit und Einsamkeit konfrontiert sehen.
Heraustreten aus dem Denken
In den spirituellen Traditionen wird die nächste erforderliche Ent-wicklung als ein Heraustreten aus der Ver-wicklung im Denken beschrieben. Eine befreiende De-Identifzierung geschieht, in dem wir uns bewusst werden, dass Gedanken lediglich Objekte unserer Aufmerksamkeit sind. Es sind Bewusstseinsinhalte. Wir bezeugen sie. Wir selbst aber sind das beständige Zeuge-Sein, welches alles beobachtet. Das Zeuge-Sein ist die Weite des Bewusstseinsraumes, in dem jegliche Bewusstseinsinhalte auftauchen und wieder verschwinden.
Das „Neti neti“ („nicht dies, nicht das“) des klassischen Advaita von Adi Shankar (um 800 n. Chr.) und moderner Meister wie Sri Nisargadatta (1897-1981) betont auf radikale Weise diese De-Identifzierung. „Ich bin nicht mein Körper … nicht meine Gefühle … nicht meine Gedanken … nicht mein Wissen … nicht meine Charakterzüge … nicht mein Geschlecht … nicht meine sozialen Rollen!“ Solche Aussagen laden zur Erfahrung dessen ein, was bleibt, wenn alle gewohnten Identitäten abgelegt werden.
Einen genialen Schachzug für den Entwicklungssprung vom rational/personalen Ich zum transzendenten Selbst lieferte Sri Ramana Maharshi (1879-1950). Er wies Fragende beharrlich darauf hin, für das Auftauchen des Ich-Gedankens wachsam zu sein und ihn für den De-Identifizierungsprozess zu nutzen. „Wer stellt die Frage?“, „Wer erlebt Ihren Körper?“, „Wer glaubt, etwas zu wissen oder unwissend zu sein?“, „Wer oder was sieht den Gedanken Ich?“ Mit solchen Fragen machte Ramana den zentralen Identifikations-Gedanken, mit dem all unsere Selbstbilder beginnen, zum Anker meditativer Selbsterforschung. Wie oft am Tag denken wir „Ich“ oder „Ich bin“ oder „Ich fühle“ oder „Ich meine“? Wie oft verwickeln wir uns so in Leid erzeugende Identifikationsmuster? Jedes Mal – so betonte es Ramana – kann der Ich-Gedanke als Signalgeber genutzt werden. Jedes Mal lädt er zu einem Nachspüren des transpersonalen Zeuge-Seins ein. Jedes Mal öffnet er den Eintritt zu einem Tauchgang zur Quelle des Bewusstseins. Dort wartet echte Stille auf uns. Aus ihr steigen alle Gedanken auf. In sie verschwinden alle Gedanken wieder. Hier ist der Verstand bescheidener Diener statt überheblicher Herrscher.
Ramanas Selbsterforschung lädt zu befreiender De-Identifzierung vom Denken wie auch vom persönlichen Ich-Konzept ein. Damit wird sie zum Königsweg der Bewusstseinsentwicklung im Übergang vom rational/personalen Ich zum transrational/transpersonalen Selbst – bezogen auf den oberen linken Quadranten (individuell/innerlich).
Meditation ist …
Der spirituelle Lehrer Eli Jaxon-Bear beschreibt die Intelligenz der Stille mit dem Satz: „Meditation ist, dem nächsten Gedanken nicht zu folgen“. Das bedeutet auch, auf jeden Glauben, jede Kenntnis, jedes Wissen, jede Theorie, jede Philosophie einschließlich des genialen Integralen Modells zu verzichten. Wir lockern die Haltegriffe der Begrifflichkeiten und lassen uns ins Nicht-Wissen fallen. Das ist befreiend. Und es kann Angst machen. Warum? Weil wir damit das wichtigste Hilfsmittel unseres Überlebens, unseren Denkapparat, abstellen. Ziehen wir den Stecker unseres Verstandes, fahren wir auch unseren Schutzschild runter. Wir verzichten auf die Laserkanone unserer Urteilskraft. Wir machen uns verwundbar. Das mag sich zuweilen bedrohlich anfühlen. Doch wenn wir es wagen, uns auf dieses Innehalten einzulassen, erfahren wir endlich die befreiende Ruhe der transzendenten Dimension.
Es ist schwierig, die Qualität der inneren Erfahrung auf dieser Ebene zu beschreiben. Denn es handelt sich um die Entdeckung, zugleich als formloses Bewusstsein anwesend – und als ein Ich abwesend zu sein. Dieses Bewusstsein ist keine Erfahrung, sondern die tiefste Ebene unseres Seins. Es nimmt alle Erfahrungen wahr und bleibt zugleich unangetastet von ihnen. Suchen wir Begriffe dafür, fallen uns Worte ein wie Stille, Leere, Abwesenheit, Formlosigkeit, Unberührtheit, Reglosigkeit. In der direkten Erfahrung wird es oft als vollkommene Entrückung erlebt. In Wilbers Erläuterung von Bewusstseinszuständen entspricht das dem Erleben des kausalen Körpers. Im direkten Erleben ist das weder Theorie noch eine Erfahrung, die ein Jemand macht. Vielmehr erlebt man sich hier selbst als das Eigenschaftslose, als das Namenlose, das Nichts. Hier versagt jede Beschreibung.
Satsang
Es ist diese Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf den absoluten Seinsgrund, welche der modernen Satsang-Advaita-Bewegung ihre Attraktivität und Kraft verleiht. Ich selbst begegnete Mitte der Neunziger Jahre meinen Lehrern Gangaji, Sri Poonjaji, Isaac Shapiro und Eli Jaxon-Bear. Es beeindruckte mich zutiefst, wie unmittelbar die Selbsterforschung wirkte, zu der sie einluden. In ihrer Gegenwart spürte ich eine Kraft der Stille, die auf mühelose Weise alles begriffliche Denken zur Ruhe kommen ließ. Mir hatte sich diese tiefste Stille schon selbst auf einem Vipassana-Retreat eröffnet. Doch in Gegenwart meiner Lehrer erkannte ich die Tiefe um vieles klarer. Und es schien, als würde für andere Anwesende die Wahrheit des unangetasteten Selbst wie auf Knopfdruck als lebendige Erfahrung zugänglich werden. Durch das breite Spektrum der weiteren Anregungen meiner Lehrer setzte sich in mir ein Prozess in Gang, bei dem sich all meine bisherigen Identifikationsmuster auflösten und der mein Leben nachhaltig befreite.
Das Besondere an der Vermittlung im Satsang liegt in der Betonung, dass die Wahrheit reinen Bewusstseins schon immer anwesend ist. Sie ist jederzeit zugänglich. Sie wird sofort spürbar, wenn alle Ideen des Erreichens aufgeben werden – selbst die Ideen einer irgendwie gearteten spirituellen Entwicklung. Das macht Erwachen und Erleuchtung hier und jetzt erlebbar, unabhängig vom Charaktertyp, von psychodynamischen Schattenanteilen oder vom Entwicklungsstand auf einer Bewusstseinsebene. Auf diese Unmittelbarkeit mit Nachdruck hinzuweisen, durchbricht die zahlreichen irreführenden Vorstellungen von Erleuchtung. In den traditionellen Sichtweisen wird Erleuchtung mit unerreichbaren Idealen überhöht und in eine nie eintretende Zukunft verschoben.
Die Kehrseite der Leere
In dieser Ausrichtung auf die unmittelbare Erfahrung liegt ein großer Wert. Es gibt aber auch eine Kehrseite. Der Geist des jäh Erwachten haftet leicht an der Erfahrung absoluter Leere. Mein Lehrer H.W.L Poonjaji nannte das „Landen im Nichts“. In Wilbers Sprache würde man es als unbewusste Identifikation mit dem Kausal-Körper umschreiben. Es fehlt der weitere Schritt zu einem wahrhaft non-dualen Bewusstsein. So befreiend die Erfahrungen der unantastbaren Leere, des absoluten Nicht-Wissens und der Nicht-Person sein mag, unser Geist kann diese Einblicke verzerren und missbrauchen. Er konzeptualisiert die direkte Erfahrung und bastelt sich neue Dogmen. Dann entsteht eine neue subtile Trennung zwischen Absolutem und Relativem, zwischen Zeitlosem und Zeit, zwischen unmittelbarer Erkenntnis und Hilfsmitteln des Erkennens. Das mag sich mit dem Deckmäntelchen der Non-Dualität tarnen. Es werden korrekte Advaita-Sentenzen gesprochen: „Alles ist eins“, „es gibt keine Trennung“, „das Ich ist eine Illusion.“ Doch zwischen den Sätzen lässt sich erahnen, dass hier keineswegs eine echte non-duale Verwirklichung vorliegt. Oft spüren wir eine versteckte Arroganz gegenüber den relativen Ebenen des Lebens, eine abgespaltene Abgehobenheit – oder eine übermäßige Versunkenheit. Dann fehlt oft die Bereitwilligkeit, weiterhin eine Verfeinerung der Selbsterkenntnis geschehen zu lassen, denn „es gibt mich ja gar nicht mehr“. Noch bestehende Schattenanteile finden keine Bearbeitung und Befreiung. Die eigene Verwirklichung wird maßlos überschätzt. Nimmt die Person in dieser Phase eine Lehrerrolle ein, steigt die Gefahr von Arroganz und Machtmissbrauch, aber „es gibt ja niemanden, der arrogant sein könnte oder missbraucht“.
Auf geistiger Ebene geht solch begrenzte Erkenntnis manchmal mit starrer Anti-Intellektualität einher. Die De-Identifikation vom Denken wird überbetont und falsch verstanden. Manchmal so sehr, dass intellektuelles Nachsinnen verteufelt wird. Die Folge ist Ignoranz in Bezug auf Entwicklungsebenen und strukturelle Aspekte des Menschseins – und manchmal auch eine deutliche Vernachlässigung der Einflüsse der Quadranten oben rechts, unten rechts und unten links, (also der kulturellen, systemischen und biologischen Faktoren). Um es in Wilber-Sprache zu fassen: In der Betonung des absoluten Seinserkennens liegt die Gefahr, dass wir die unteren (prärationalen und rationalen) Entwicklungsebenen zwar transzendieren, sie zugleich jedoch abspalten, während wir sie in einer wahrhaft nondualen Verwirklichung transzendieren und integrieren.
Only-No-Brain
In einem Email-Dialog über dieses Thema mit Dennis Wittrock – einem maßgeblichen Vertreter des Integralen Ansatzes – bezeichnete er die modernen Satsang-Lehrer scherzhaft als No-Brain-Typen. Tatsächlich scheinen immer mehr Lehrer, zumindest in Phasen ihrer Entwicklung, der beschriebenen Problematik zu verfallen. Es gibt in der wachsenden Satsang-Szene aber auch eine große Spannweite unterschiedlich tief und umfassend erwachter Lehrer, die nicht alle dieser Einseitigkeit erliegen. Und ich hoffe inständig, dass ich dies hier nicht zur eigenen Ehrenrettung schreibe.
Zugleich will ich eine Lanze brechen für die Satsang-Bewegung und ihre Betonung von Nicht-Tun, Nicht-Wissen und Nicht-Person. Ich sehe ihre Anziehungskraft als einen Ausdruck des stetig wachsenden Bedürfnisses nach transrationaler und transpersonaler Entfaltung. Dafür ist das Abschütteln der anstrengenden Suche nach mentalem Verstehen und die Befreiung aus den vielen – auch integralen – Selbstverbesserungsprogrammen ein natürlicher, ja erforderlicher Aspekt.
Zugleich stimmt auch: Bei diesem Lösungsprozess kann es zu einer übermäßigen De-Identifizierung von den rationalen und prärationalen Ebenen kommen. Anstatt sie intelligent und liebevoll zu entdecken, verstehen, und integrieren, werden sie abgespalten. Genau das führt zu den Verzerrungen und den Missklängen dieser Szene.
In meinem Dialog mit Dennis Wittrock stimmten wir in dieser Einschätzung überein. Ich wies darauf hin, dass die „Szene der Integralen“ vielleicht zu einer anderen Einseitigkeit neigt, und nannte die Integralen im Gegenzug die Only-Brain-Typen. Bei Ihnen liegt die Versuchung darin, dass Wilbers Theorie von Allem so gut ist! Besonders wenn man innere Stille wenig erfahren hat, kann man leicht mental an diesem Gedankengebäude hängen bleiben. Dann kann sie dazu missbraucht werden, jene direkte Erfahrung transrationaler Stille zu vermeiden, in der sich jede Art von Landkarte als pure Illusion erweist.
Wilber und die authentischen Vertreter des integralen Ansatzes beabsichtigten etwas anderes. Sie laden dazu ein, sich praktisch und erfahrungs-orientiert von der rationalen zur transrationalen Ebene hin zu entwickeln. Dazu geben sie wirksame Mittel an die Hand. Gleichwohl besteht die Gefahr, eher über Theorie und integrale Praxis nachzudenken, als sich in die lebendige Erfahrung des GEISTES und seiner begrifflich unfassbaren Tiefen hineinfallen zu lassen, und zwar so rückhaltlos, dass selbst der Haltegriff einer integralen Theorie wegbricht, weil er nie existiert hat.
Wir wurden uns auch über diese Sichtweise einig, und Dennis schrieb: „Die Integralen brauchen tendenziell mehr solide spirituelle Praxis, die auch konkret im Alltag gelebt wird. Die Advaita-Szene braucht bessere Landkarten zur Interpretation ihrer Erlebnisse, um nicht in die Irre zu gehen. Die Welt braucht Menschen, die fest im Absoluten gegründet sind und dadurch effektiver den Bereich der Manifestation / des Relativen zum Positiven verändern bzw. entwickeln können.“
Die Balance
Diese Balance, bzw. das paradoxe Miteinander von Relativem und Absolutem, scheint sich auch im vermeintlichen Widerspruch von Nicht-Wissen und Weisheit widerzuspiegeln. Zum einen erfordert es immer wieder eine rückhaltlose Hingabe an das Nicht-Wissen. Der Geist sinkt in Stille, und alle Gedankenaktivität kommt zum Erliegen. In dieser Tiefe sind philosophische Reflektionen unmöglich und überflüssig. Die reglose Stille ist sich selbst genug. Sie ist pure Bewusstheit, ohne das geringste konkrete Wissen.
Aus dieser Stille heraus kann die Welt der wieder auftauchenden Begriffe auf ganz frische Weise erfahren werden. Dann spielt der Geist mit den komplexesten Konzepten, ohne sich darin zu verlieren. Wir wertschätzen den integralen Ansatz als die bisher weiseste Erklärung der Erscheinungswelt. Dankbar nutzen wir die praktischen Anwendungen, die sich aus ihm ergeben – vor allem jene, die unseren Geist mit Macht in die Stille tauchen. Hier münden Theorie und Praxis in das mühelose Sein dieses Momentes. Hier dürfen wir uns erlauben, so still zu sein, dass selbst die uns heiligen Worte wie Integral, Advaita oder Non-Dualität im seligen Frieden reinen Bewusstseins verstummen.
Ist es anmaßend, in dieser gelebten Erkenntnis der Stille einen Evolutionssprung der Menschheit zu sehen? Vielleicht. Aber vielleicht stärkt es uns auch, uns einfach schon mal als „Homo Sapiens Transcendens“ (den die Identifikation mit der Vernunft überschreitenden Menschen) zu fühlen. Dann können wir immer noch schauen, welche frischen, weisen Denkarten sich aus der Intelligenz des Nicht-Wissens ergeben – und ob sie genug Hilfreiches bewirken, um unsere Spezies über die nächsten Generationen zu tragen.
Torsten Brügge, Jahrgang 1968, Ausbildung zum staatlich anerkannten Heilpraktiker und Shiatsu-Therapeuten, Psychologie-Studium, Heilpraktiker, tätig in der sozialpsychiatrischen Betreuung psychisch kranker Menschen. Seit 1998 spiritueller Lehrer mit Nähe zur Advaita-Tradition nach Sri Ramana Maharshi. Buchveröffentlichung „Wunschlos glücklich – Eine Reise in die Tiefen unseres Bewusstseins“ , „Besser als Glück – Wege zu einem erfüllten Leben“.
Torsten leitet zusammen mit Padma Wolff (Dipl. Psych.) in Hamburg die Praxis für Meditation und Selbsterforschung, sowie die Bodhisattva Schule (Ausbildungen in Integraler Tiefenspiritualität). www.satsang-mit-torsten.de, www.bodhisat.de.