Weniger Ökonomie wagen!
In jeder Zeitepoche dominiert ein bestimmtes Paradigma, ein Set von Werten, die eine ganze Kultur dominieren und durchdringen. Im wilhelminischen Deutschland z.B. war das herrschende Paradigma das militärische. So spottete der Schriftsteller Carl Zuckmeyer in seinem Theaterstück „Der Hauptmann von Köpenick“ darüber, dass Fabrikarbeiter sich beim Einstellungsgespräch die Frage „Ham ’se jedient?“ gefallen lassen mussten. Aus dem Militär übernommene Kategorien wie Disziplin, Gehorsam, eine stramme Körperhaltung u.a. wurden ins Zivilleben übernommen, so dass der zivile Bereich vom militärischen unangemessen vereinnahmt wurde. Die Welt als Kasernenhof.
Das herrschende Paradigma unserer Zeit ist die Ökonomie. Ihre Grundidee ist die Welt als Ware. Statt um Güte bemühen sich in einer vom Ökonomismus beherrschten Welt alle um Bonität. Das menschliche Leben wird von Anfang an so geplant, dass der Lebenslauf für Bewerbungszwecke „gut aussieht“. In Liebesbeziehung werden Kosten-Nutzen-Kalkulationen angestellt, und Meisterwerke der Literatur müssen sich der Frage des Verlegers stellen, ob sie sich „rechnen.“ Man handelt mit Anrechtsscheinen auf begrenzte Umweltverschmutzung, ebenso wie mit Fußballstars, Babys und zur sexuellen „Verwertung“ bestimmten Frauen, mit dem genetischen Code von Pflanzen, mit Boden, mit Wasser und demnächst vielleicht mit der Luft, die wir atmen. Im Grunde ist das alles nicht weniger komisch – besser gesagt: tragikomisch – wie der aufgesetzte Militarismus im „Hauptmann von Köpenick“. Uns fehlt nur noch ein wenig die Distanz der historischen Perspektive, um die Absurdität unserer eigenen Epoche zu durchschauen.
Es scheint heute, als ob jeder Lebensbereich, der mit der Ökonomie in Berührung kommt, einer fortschreitenden Vergiftung unterliegt. Er wird infiziert mit dem Geist von Profit, Konkurrenz und Gier. So bedeutet die Logik der Ökonomie im Gesundheitswesen, dass es immer genügend Patienten geben muss, um alle am Gesundheitssystem Beteiligten zu ernähren. Rentabel ist also nicht die Heilung für alle, sondern die Schaffung langfristiger Abhängigkeitsverhältnisse zu Ärzten, Medikamenten und Apparaten. Und dies ist nur ein Beispiel von vielen. Jede Unmenschlichkeit, die Vernichtung von Existenzen, ja selbst von ökologischen Lebensräumen wird von einer gehirngewaschenen Öffentlichkeit augenzwinkernd verziehen, sobald der Betreffende kühl konstatiert: „Wir sind nicht die Caritas, sondern ein Wirtschaftsunternehmen. Ich bin Geschäftsmann.“ Dem Titel „Geschäftsmann“ haftet dabei ein fast priesterlicher Nimbus an.
Was ist eigentlich Ökonomie? Sie beruht auf zwei Grundprinzipien:
1. Verkaufe umso teurer, je knapper und daher begehrter ein Wirtschaftsgut ist.
Zu diesem Thema schrieb Silvio Gesell (1862-1930), der Begründer der Freiwirtschaftslehre: „Mit der Inbesitznahme oder Aneignung eines Gegenstandes, den man nicht selbst gebrauchen kann, der aber, wie wir annehmen oder wissen, von anderen gesucht wird, können wir nur einen Zweck verfolgen: wir wollen diesen anderen Verlegenheiten bereiten und diese Verlegenheiten ausbeuten.“ Besonders perfide wirkt dieses ökonomische „Gesetz“, wenn Pharmakonzerne den Kranken in der Dritten Welt lebenswichtige Medikamente nur zu extrem hohen Preisen abgeben oder wenn sie die Eigenproduktion identischer Medikamente unter Hinweis auf das Patentrecht verbieten.
2. Kaufe billig ein, und verkaufe teuer.
Beide Grundsätze sind heute so allgegenwärtig, dass man sie nicht einmal mehr als Meinungen neben anderen Meinungen wahrnimmt, sondern als pure Selbstverständlichkeit. „Wenn jeder für sich selber sorgt, dann ist für alle gesorgt“, lautet ein wohlfeiles Sprichwort. Die klassische Ökonomie gründet seit Adam Smith (1723-1790) auf dem Egoismus, der sich – wenn ihm alle nun konsequent genug frönen – zum Wohle Aller auswirken soll. Das Geschäftsleben wird so zu einem Hahnenkampf zweier Akteure mit gleichermaßen egoistischer Gesinnung. Dem Geschäftskrieg vorangegangen ist oft ein „Wettrüsten“, bei dem sich jeder Kontrahent mit neuesten Manipulations-, Verkaufs- und Marketingtaktiken ausgestattet hat. Auch eine noch so ausgefeilte Theorie kann aber das hässliche Gesicht des Egoismus nicht schön schminken. Die Behauptung, dass eine Ansammlung profitgieriger Menschen eine gute Welt schaffen könnte wäre gleichbedeutend mit der Annahme, lauter kranke Bäume ergäben einen gesunden Wald.
Der Mensch hat bei Interessengegensätzen drei grundsätzliche Alternativen: 1. Er nimmt seinen eigenen Nachteil für den Vorteil des Anderen in Kauf. 2. Er gewichtet beide Interessen gleich stark und sorgt für einen gerechten Ausgleich. 3. Er sucht seinen eigenen Vorteil auf Kosten der Interessen des Anderen. Der herrschende Geist des Ökonomismus favorisiert fast ausschließlich Variante 3. Darüber kann auch modisches Gerede über „Win-Win-Strategien“ (bei denen beide Teilnehmer gewinnen) nicht hinwegtäuschen. Rücksichtnahme auf den Geschäftspartner ist im Rahmen einer ökonomistischen Ideologie entweder eine Ausnahme von der Regel oder sie betrachtet das Wohl des Partners als Voraussetzung für das eigene Wohl, macht Rücksichtnahme also quasi zum Produktionsfaktor. Damit stellt sich der Ökonomie im Übrigen quer zur Ethik beinahe aller religiöser Bekenntnisse. So sagte der Buddha: „Schlecht ist, was du aus der Kraft und dem Gut anderer erzwingst oder erschleichst, ohne dass es dir gewährt wurde.“
Den Vorwurf, der Kapitalismus degradiere die Welt, insbesondere die menschliche Arbeitskraft zur Ware, wurde schon von Karl Marx erhoben: „Der Arbeiter wird eine umso wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware.“ (Ökononisch-philosophische Manuskripte). Verfolgt man dagegen die Argumente der Linken in den aktuellen politischen Debatten, so fällt auf, dass sie nicht ausreichend die „Entwertung der Menschenwelt“ und damit den anti-humanen Charakter des Ökonomismus kritisieren. Vielmehr wird im Hinblick auf die zunehmende Verarmung der Arbeitnehmer hauptsächlich der Verlust von „Kaufkraft“ und „Binnennachfrage“ beklagt.
Dieses Argumentationsschema belegt, wie tief das Denken in Kategorien von Wirtschaftlichkeit und Effizienz schon in den Köpfen der Menschen, selbst der Linken verankert ist. Kaum einer traut sich, höhere Löhne und Gehälter einfach deshalb zu fordern, weil etwas mehr finanzieller Spielraum die Menschen freier und glücklicher machen würde. Es geht eben nicht um das Glück der Menschen, sondern darum, inwieweit wir in der Lage sind, der Wirtschaft in unserer Funktion als Konsumenten zu dienen. Kapitalismus und realpolitischer Sozialismus sind einander insofern nicht völlig wesensfremd, sondern gleichen eher feindlichen Brüdern. Beiden Ideologien gemeinsam ist der Grundsatz: „Alles wird von der Ökonomie bestimmt und ist auf sie zurückzuführen. Daher kann auch die Befreiung nur von der ökonomischen Ebene ausgehen.“ Realsozialistische und neoliberale Ideologien sind wie zwei Äste ein und desselben Baumes. Es käme aber darauf an, einen ganz neuen Baum zu pflanzen.
Der französische Schriftstellerin Viviane Forrester schreibt über die derzeit herrschende Profitlogik: „In Wirklichkeit beschäftigen sich die Texte und Reden, die die Probleme der Arbeit und damit der Arbeitslosigkeit analysieren, allein mit dem Profit, er bildet ihre Grundlage, ihre Matrix, ohne dabei jemals genannt zu werden. (…) Alles ist von ihm abhängig, ist auf ihn ausgerichtet, wird in Abhängigkeit von ihm geplant, verhindert oder verursacht, er erscheint so unausweichlich, als wäre er mit dem Wesen des Lebens verschmolzen.“ Mit dem Slogan vom „Terror der Ökonomie“ hat Forrester in ihrem gleichnamigen Buch die Grundzüge der neuen Weltordnung sehr pointiert beschrieben.
Was ökonomisches Denken anrichtet, wenn es zu einer Menschenverwertungs-Mentalität verkommen ist, kann man sehr drastisch an einem historischen Beispiel belegen: den Sklaventransporten von Afrika nach Amerika im 18. Jahrhundert. Es gab damals unter den Kapitänen von Sklavenschiffen zwei Typen, die man „loose packers“ und „tight packers“ nannte. Die „loose packers“ gaben den Afrikaner etwas mehr Raum im Schiffsbauch, damit eine ausreichende Anzahl von ihnen gesund und arbeitsfähig am Bestimmungsort ankam. Die „tight packers“ kalkulierten dagegen hauptsächlich mit einer extrem hohen „Stückzahl“. Dafür nahmen sie eine höhere Verlustrate durch Tod und Krankheit in Kauf. Man kann von einem moralischen Standpunkt aus über die „tight packers“ sagen, was man will, sie waren in jedem Fall ausgezeichnete Geschäftsleute.
Das Beispiel beweist natürlich nicht, dass „Die Wirtschaft“ pauschal dem Reich des Bösen zuzurechnen ist, es zeigt lediglich, was geschehen kann, wenn man ein Denkprinzip von jeglicher humaner Rücksichtnahme „befreit“. Wenn man aufhört, den Einzelmenschen als fühlendes, leidendes und nach Glück verlangendes Wesen wahrzunehmen, und ihn zum Mittel statt zum Zweck allen Handels macht. Ökonomie ist ein nützliches Werkzeug, wenn sie vernünftig gehandhabt wird. Sie dient dann dazu Güter so zu organisieren und zu verteilen, dass möglichst viele Menschen Zugang zu ihnen haben und sichert gleichzeitig den Lebensunterhalt aller am Produktions- und Verteilungsprozess Beteiligten. So verstanden hat die Ökonomie eine sinnvolle, dienende Rolle. Als Herrin oder gar Göttin des Menschen ist sie dagegen eine glatte Fehlbesetzung. Sie gleicht einer zweitklassigen Schauspielerin, deren Domäne eigentlich die Nebenrollen sind, die sich aber nun mit Gewalt in den Vordergrund drängt und die Hauptrolle für sich beansprucht.
Selbst wenn wir den Ökonomismus als ein etwas skurriles, aber historisch notwendiges Experiment ansehen, müssen wir doch heute feststellen, dass er im wahrsten Sinne des Wortes abgewirtschaftet hat. Das profitorientierte globale Wirtschafssystem nimmt in Kauf, dass Geld in großen Mengen dorthin fließt, wo es nicht gebraucht wird und dort fehlt, wo es existenziell gebraucht wird. Es leistet sich Entwicklungshilfe für die Reichen, die finanzielle Unterstützung einer Absahner-Kaste, der es längst nicht mehr um die Sicherung des Existenzminimums, sondern vielmehr um eine immer weiter gehende Überdehnung des Existenzmaximums geht.
Wir müssen den Götzen unserer Zeit also zunächst die dienstbeflissene Anbetung verweigern. Es ist inkonsequent, über wachsende Armut zu klagen und zugleich Börsenspekulanten und Großvermögensbesitzer, deren Reichtum mit eben dieser Verarmung in engem Zusammenhang steht, als „ganze Kerle“ zu bewundern. Wenn wir eine bessere Welt schaffen wollen, dürfen wir uns nicht damit begnügen, innerhalb der ökonomistischen Logik Verbesserungen vorzunehmen; wir müssen dieser Logik selbst den Kampf ansagen, die sich in weiten Teilen der Gesellschaft als die einzig erlaubte Logik gebärdet. Wir müssen also für das, was wir sagen und kritisieren wollen, eine eigene Sprache (wieder)finden und die uns vorgegebenen Sprach- und Denkmuster abschütteln wie ein Netz, in das man uns zu fangen versucht. Jeder von uns kann im privaten Bereich wie auch in der Öffentlichkeit dazu beitragen, ein kulturelles Klima zu schaffen, das Werte wie Lebensqualität, Humanität, Gemeinsinn, Recht auf ein erfülltes Leben, Sein statt Haben in den Vordergrund stellt.
Geld wird immer dann besonders wichtig, wenn man es schmerzlich entbehrt. Deshalb muss eine Grundsicherung her, die diesen Namen auch verdient, ein Grundeinkommen, dessen Höhe sich am Bedarf orientiert, nicht am „Marktwert“ nach den Kriterien der neoliberalen Menschenhändlermentalität. Außerdem müssen alle Anreizsysteme abgeschafft werden, die die Gier einer für Habsucht besonders anfälligen Minderheit noch zusätzlich stimulieren. Eine hohe Steuer auf Zins- und Spekulationsgewinne wäre dafür geeignet, noch mehr aber Lohnobergrenzen und der Einstieg in eine zinsfreie Wirtschaftsordnung. Wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich schließt, wenn es weniger zu verlieren, aber auch weniger zu gewinnen gibt (ohne dass das Leistungsprinzip, wo es sinnvoll ist, völlig ausgehebelt wird), verliert Geld einen großen Teil seiner Macht über die Seelen.