Weniger Profite, besseres Leben

 In FEATURED, Politik (Inland), Wirtschaft

Mit radikaler Arbeitszeitverkürzung gegen den Finanzmarktkapitalismus. Um den Finanzkapitalismus in einer bürgerlichen Demokratie in ein besseres System zu transformieren, bedarf es nicht des Sturzes der Bourgeoisie, sondern tiefgreifender Reformen. Die Verteilung von Lohn und Arbeitszeit wird damit zu der zentralen Frage. Wir müssen sicherstellen, dass die arbeitenden Menschen für ihre Arbeit nicht einen Dumpinglohn, sondern ihren Lohn in voller Höhe erhalten. Genau das ist möglich, wenn die Vollbeschäftigung wiederhergestellt wäre und wenn die abhängig Beschäftigten in die Position versetzt würden, den vollen Lohn für sich zu erkämpfen. Die Vollbeschäftigung ist aber wiederum nur durch eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit möglich. (Mohssen Massarrat)

* Der Beitrag basiert auf „Braucht die Welt den Finanzsektor? Postkapitalistische Perspektiven“, dem neuen Buch des Autors, das jüngst im VSA-Verlag in Hamburg erschienen ist.

 

Der globale Finanzsektor, wie wir ihn heute kennen, entstand erst mit dem völlig abnorm steigenden Handelsvolumen der Finanzprodukte in den 1980er Jahren. Mit ihm haben die Kapital- und Immobilieneigentümer sowie die Rohstoffkonzerne das ideale Objekt für ihre gigantischen Geldüberschüsse gefunden, die sie in der Realwirtschaft nicht investieren wollen oder können. Damit haben sie ihr akutes Anlageproblem vorerst gelöst, der Menschheit jedoch zugleich ein Monster vor die Nase gesetzt, das für riesige Probleme sorgte: Die Armen werden immer ärmer und unmündiger, während eine immer kleiner werdende Schicht immer reicher und mächtiger wird. Die Wirtschaft stagniert seit einigen Dekaden, die Massenarbeitslosigkeit bleibt konstant. Die Entstehung neuer Arbeitsplätze wird nur noch vorgetäuscht, indem Statistiken manipuliert werden. Viele, die noch durch reguläre Arbeitsplätze „abgesichert“ sind, leiden unter Arbeitsstress, werden öfter krank und leben mit der ständigen Angst, sozial abzustürzen.

Weil aber dieser Prozess der Enteignung und Entdemokratisierung seit mehreren Jahrzehnten nicht abrupt, sondern schleichend stattgefunden hat, verharmlosen die Eliten – und leider nicht nur sie – die vor uns stehenden Gefahren, weil sie Angst haben, dafür verantwortlich gemacht zu werden. Letztendlich erleben wir eine radikale neue Unkultur des nationalen Egoismus. Auch kleine Schritte innerhalb der nationalen Parlamente und in Brüssel können gegen diese Gefahr nichts bewirken, da die Akteure von der gegenwärtigen Entwicklung überrollt werden, bevor ihre Maßnahmen überhaupt Wirkung zeigen können. Was jedoch hilft tatsächlich gegen diesen verheerenden Zustand?

Rudolf Hickel hat auf die zweite Weltfinanzkrise mit seiner Streitschrift „Zerschlagt die Banken“ reagiert. (1) Die Hickel vorschwebende Lösung, nämlich die Trennung der Investmentabteilungen vom kreditversorgenden Körper der Großbanken, ist nachvollziehbar. Dadurch würde dem Spekulationskapital die Möglichkeit genommen, seine Verluste auf die Bankkunden abzuwälzen. (2)

Dem Finanzkapital ist es jedoch gelungen, aus dem gleichgewichtigen Kapitalismus eine im Kern inhumane und gefährliche Kapitalismusform zu kreieren, deren Hauptzweck darin besteht, nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“ aus Millionären Milliardäre und aus Milliardären Multimilliardäre zu machen. Deshalb reicht es bei Weitem nicht aus, allein die Banken zu zerschlagen, den Finanzmarktkapitalismus in seinen Fundamenten aber bestehen zu lassen. Wir brauchen heute in allen kapitalistischen Staaten eine antineoliberale Schocktherapie, die stark genug ist, um alle wachzurütteln, die sich an die ökonomische und kulturelle Stagnation gewöhnt haben. Dazu müssen wir das zentrale Hindernis, das dem Fortschritt und dem Wohlstand für alle, dem Schutz des Planeten und der Weiterentwicklung der Demokratie entgegensteht, beim Namen nennen und dessen Beseitigung auf die politische Agenda setzen. Die Zerschlagung des Finanzkapitals ist nach meiner Überzeugung der Schlüssel, um zahlreiche Gegenwartsprobleme zu lösen.

Um den Finanzkapitalismus in einer bürgerlichen Demokratie in ein besseres System zu transformieren, bedarf es nicht des Sturzes der Bourgeoisie, sondern tiefgreifender Reformen. Eine Reichensteuer ist zu diesem Zweck sicherlich eine Möglichkeit, sie setzt jedoch zu oberflächlich an. Es kommt vielmehr darauf an, an der Wurzel anzusetzen, damit es gar nicht erst zur Entstehung von überschüssigem Kapital kommt. Die Verteilung von Lohn und Arbeitszeit wird damit zu der zentralen Frage.

Wir müssen sicherstellen, dass die arbeitenden Menschen für ihre Arbeit nicht einen Dumpinglohn, sondern ihren Lohn in voller Höhe erhalten. Genau das ist möglich, wenn die Vollbeschäftigung wiederhergestellt wäre und wenn die abhängig Beschäftigten in die Position versetzt würden, den vollen Lohn für sich zu erkämpfen. Die Vollbeschäftigung ist aber wiederum nur durch eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit möglich. Dies muss ab sofort zur zentralen politischen Aufgabe einer gesellschaftlichen Allianz aus Gewerkschaften, Reformparteien, Intellektuellen und Kulturschaffenden, der religiösen Gemeinschaften, aber auch aller noch nicht korrumpierten Kapitalfraktionen werden. Deshalb ist der aktuelle Kampf der IG Metall für die 28-Stunden-Woche so dringend notwendig. Durch diesen Schritt können wir zu einer neuen Freiheit gelangen, die Zukunft demokratisch gestalten und eine bessere postkapitalistische Ordnung etablieren. Wie aber könnte der Übergang zu dieser neuen Ordnung erreicht werden?

 Historische Analyse als erster Schritt

Die Perspektive „Jenseits des Kapitalismus“ setzt zuallererst voraus, aus den Fehlern antikapitalistischer Bewegungen und Parteien der Vergangenheit zu lernen. Alle früheren Bewegungen sind gescheitert, weil sie den komplexen historischen Kapitalismus auf seine rein ökonomischen Vorgänge reduzierten, während es der hegemonialen Allianz aus Kapitalisten und Vermögensbesitzenden stets erfolgreich gelungen ist, sich hinter kapitalistischer Rationalität und Effizienz zu verstecken. Nun gilt es, diese mächtige Allianz aus ihrem Versteck herauszuholen und ihr machtpolitisches Geheimnis zu entzaubern. Dies erfordert zuallererst eine historische Analyse der Stufenentwicklung vom „Freihandelskapitalismus“ über den „keynesianischen Kapitalismus“ bis hin zum gegenwärtigen „Finanzmarktkapitalismus“.

Bereits der keynesianische Kapitalismus erschien gegenüber der ihm vorausgehenden Stufe des Kapitalismus als etwas qualitativ Neues – und er war auch tatsächlich etwas Neues. Trotz des katastrophalen Erbes der ersten Finanz- und Weltwirtschaftskrise und der beiden Weltkriege hat er dem Nachkriegssystem nach 1945 ein menschliches Antlitz verliehen. Zudem hat auch die Systemkonkurrenz dazu beigetragen, dass die sozial orientierten, klugen und korporatistischen Unternehmer innerhalb der Machtelite in den Industrieländern und in einigen Ländern des Südens die Oberhand gewannen. Der Finanzmarktkapitalismus ist dagegen nicht in der Lage, eine Selbstlegitimation herzustellen, wie wir sie vom keynesianischen Kapitalismus kennen. Seine Legitimation wird vor allem durch Propaganda, Werbekampagnen und die Manipulation von Statistiken erkauft. Zahlreiche finanzkräftige Initiativen, wie die in Deutschland agierende Initiative Soziale Marktwirtschaft, und Stiftungen wie die Bertelsmann Stiftung leisten enorme Arbeit in diese Richtung. Von dieser Art Institutionen, die für den Neoliberalismus und den Finanzmarktkapitalismus Legitimation kreieren, gibt es weltweit mehr als genug. Potenziert wird deren Stärke durch die politische Schwäche und die Vereinzelung der antikapitalistischen Kräfte, die ungewollt mit dazu beitragen, dass ein faktisch gescheitertes System weiter am Leben gehalten wird. Dabei belegen die historischen Erfahrungen während der Nachkriegsjahre, dass die Welt auch ohne diesen unproduktiven und spekulativen Wirtschaftssektor gut, ja im Grunde sogar besser auskommen kann. In jener Epoche diente der Finanzsektor der Wirtschaft und den Menschen. Jetzt ist es genau umgekehrt.

Vor der nächsten Katastrophe

Gegen alle historischen Erfahrungen stützen die Eliten kapitalistischer Staaten den gegenwärtigen Finanzkapitalismus und könnten damit die Menschheit in eine erneute Katastrophe führen. Wir beobachten eine ungeheure militärische Aufrüstung und die zunehmende Bereitschaft der Eliten, die anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrisen durch Gewalteinsatz und Kriege an den Rändern der Weltwirtschaft zu bewältigen. Es gelang den Regierungen westlicher Staaten zwar, die Finanzkrise von 2008 mit gigantischen Rettungspaketen von über tausend Milliarden US-Dollar zulasten der Steuerzahler zu entschärfen. Werden sie aber bei der nächsten Finanzkrise noch einmal in der Lage sein, die erforderlichen Mittel zur Rettung der „systemrelevanten“ Banken aufzubringen? Werden ihnen dann noch einmal die erneut betrogenen Menschen folgen? Schon jetzt folgen verunsicherte Menschen in den USA, Europa und anderswo populistischen und nationalistischen Strömungen. Der unübersehbare Vertrauensverlust der Parteigänger des Neoliberalismus bei den Bevölkerungen fast aller kapitalistischer Staaten ist Ausdruck der drastisch abnehmenden Zustimmung zu dieser rückwärtsgewandten Version des Kapitalismus. Es darf nicht übersehen werden, was zu den Kuriositäten der Gegenwart gehört: dass nämlich auch ein schwerreicher Donald Trump mit scheinbar systemkritischen Attitüden die Präsidentschaftswahl gewinnen konnte.

Die reformwilligen Kräfte haben heute zwei Optionen: Entweder sie geben sich mit der kosmetischen Regulierung der Finanzmärkte ab und beschreiten sehenden Auges den Pfad zu einer neuen Katastrophe. Oder sie reißen das Ruder komplett herum und verhindern eine „Weiter-so“-Option hin zum Abgrund, indem sie endlich anfangen, dem Finanzmarktkapitalismus mit aller Konsequenz den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Das taugliche Mittel dafür aber liegt, obwohl es viele bis heute nicht realisieren, längst vor: mit der Idee der radikalen Arbeitszeitverkürzung.

Die letzte nennenswerte Arbeitszeitverkürzung fand in der Epoche des keynesianischen Kapitalismus statt. Doch nach dem Siegeszug des Neoliberalismus wurde die Arbeitszeit in Deutschland und den meisten Staaten Europas zunächst auf 38-Wochenstunden und anschließend in den meisten Branchen auf 42-Wochenstunden erhöht. Dafür haben neoliberale Ökonomen, mit Hans-Werner Sinn an vorderster Front, ganze Arbeit geleistet. (3) Mit reißerischen und alarmierenden Hiobsbotschaften wie „Abschied vom Freizeitpark“ (4), „Warum wir länger arbeiten müssen“ (5), „So ist Deutschland zu retten“ (6) oder „Warum die Arbeitszeitverlängerung mehr Jobs schafft“ (7) hämmerten die Medien diese absurden Behauptungen als eine unumstößliche Wahrheit in die Köpfe der Menschen.

Jede Überlegung in Richtung Arbeitszeitverkürzung wurde dagegen als eine weltfremde und völlig an der Realität vorbeigehende Sicht gebrandmarkt. Dabei gebietet allein die Tatsache von noch immer über sechs Millionen Arbeitslosen in Deutschland, dass die Arbeitszeit auf mindestens 30 Stunden in der Woche gesenkt wird. Denn die Produktivität der Wirtschaft in Deutschland ist, mit Ausnahme der Periode des auf Ausgleich und Gleichgewicht orientierten keynesianischen Kapitalismus, in allen kapitalistischen Ländern fast immer schneller gestiegen, als die Arbeitszeit gesenkt wurde. Dies erklärt auch die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die wir in der Geschichte des Kapitalismus – wiederum mit der eben genannten keynesianischen Ausnahme – beobachten können.

Radikale Arbeitszeitverkürzung als ökologische Lösung

Da angesichts der ökologischen Grenzen des Wachstums die Schaffung neuer Arbeitsplätze kaum mehr möglich bzw. vertretbar ist, bietet es sich an, weitere Verkürzungen der Erwerbsarbeitszeit – und zwar bei vollem Lohn- und Personalausgleich – auf Dauer an die Entwicklung der Produktivität zu koppeln. (8)

Eine solche Regelung hätte eine Reihe von Vorteilen: Wenn alle Arbeitssuchenden in der Lage wären, ihren gewünschten Arbeitsplatz zu bekommen, gäbe es keine existenzielle Abstiegsangst mehr und der Kapitalismus verlöre ein wesentliches Druckmittel. Dieser Zustand würde die Arbeitnehmer zu höherer Produktivität motivieren und allen beteiligten Unternehmern, aber auch abhängig Beschäftigten, mehr Sicherheit bringen. Eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist aber schon deshalb die effektivste Strategie zur Zerschlagung des Finanzmarktkapitalismus, weil dieser von der Existenz der Massenerwerbslosigkeit und daraus resultierenden viel zu niedrigen Löhnen abhängig ist. Durch die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit würde sich das Lohnniveau auf einem Stand einpendeln, bei dem ein zusätzlicher Profit für die Kapitalseite nicht mehr anfiele. Damit würde die Hauptquelle des Finanzkapitals versiegen und seine Auflösung wäre vollendet. Erst dann lägen günstige Bedingungen für die Transformation der kapitalistischen in eine postkapitalistische Gesellschaft vor.

Gerade weil durch eine radikale Arbeitszeitverkürzung der Finanzmarktkapitalismus wie ein Kartenhaus zusammenbrechen dürfte, meiden neoliberale Ökonomen und Politiker die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit wie die Pest. Vorsorglich haben sie mit der Erfindung des Märchens vom Fachkräftemangel schon seit Jahren propagandistisch geschickt die Illusion verbreitet, wir hätten schon längst das Stadium der Vollbeschäftigung erreicht. Mit dieser Vollbeschäftigungslüge soll die Idee der Arbeitszeitverkürzung tabuisiert und eine wirkliche Vollbeschäftigung torpediert werden. Wie bei der Konstruktion der angeblich sinkenden Arbeitslosigkeit werden auch beim Fachkräftemangel Statistiken manipuliert. Tatsächlich ist der Fachkräftemangel überwiegend eine Luftnummer, weil Unternehmer die Zahl der offenen Stellen je nach Bedarf ihrer Branche mit einem beliebigen Koeffizienten multiplizieren. (9) Ähnlich manipulativ bestimmt auch die EU-Kommission, ab welcher Arbeitslosenquote die EU-Staaten beschäftigungspolitisch überhaupt aktiv werden und die Arbeitslosigkeit bekämpfen müssten. Dadurch wird die derzeitige Arbeitslosenquote von durchschnittlich 10 Prozent in Europa zu einem Normalzustand erklärt. (10)

Die mangelnde Bereitschaft der Unternehmen zu Investitionen in die Ausbildung zieht zudem Engpässe in bestimmten Branchen nach sich. Dabei sind Arbeitssuchende genug vorhanden, jedoch fehlt auf der Unternehmensseite das Interesse an Umschulung. So bleibt die Massenarbeitslosigkeit ein dauerhaftes Phänomen, das den Finanzmarktkapitalismus stabilisiert. Im Ergebnis geht es diesem um die Festigung der Massenarbeitslosigkeit und nicht um deren Bekämpfung.

Die radikale Arbeitszeitverkürzung zwecks Vollbeschäftigung würde eine Senkung der Arbeitszeit auf eine 30-Stunden-Woche bedeuten, wie es der Attac-Arbeitsgruppe ArbeitFairTeilen vorschwebt,11 oder auf die Vier-Tage-Woche nach der „Vier-in-einem-Perspektive“, einer Idee von Frigga Haug. (12) Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung und Rationalisierung wäre allerdings mittelfristig die Einführung der 20-Stunden-Woche notwendig, wie Keynes und andere Ökonomen bereits vor hundert Jahren voraussagten. Die 30- oder 20-Stunden-Woche ist dabei nicht als starres Konzept mit einer Schlüsselzahl zu denken, die unterschiedslos für alle und unabhängig von branchen- oder geschlechtsspezifischen Bedürfnissen eingeführt werden müsste. Vielmehr kann und soll die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit höchst flexibel und in Abhängigkeit von den Bedürfnissen der Beschäftigten und betrieblichen Erfordernissen gestaltet werden.

Die 30 oder 20 Stunden sind demnach Durchschnittswerte, die lediglich zur Orientierung dienen. Die radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist auch die zeitgemäße Antwort auf die „Grenzen des Wachstums“. Durch die höhere Produktivität der Arbeitnehmer infolge der kürzeren Arbeitszeit sinkt der Energieverbrauch pro produzierter Einheit und die Umwelt wird geschont. Bei gleich bleibendem materiellem Wohlstand verfügen die Arbeitnehmer zudem über mehr Zeitwohlstand. Dieser ist die wichtigste Ressource für die Familie, für eine gerechte Aufteilung der Hausarbeit und Kindererziehung, für Gesundheitspflege, Sport, Kultur und allerlei andere kreative Tätigkeiten. Zudem könnten die Zivilgesellschaft und das demokratische Engagement der Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden.

Eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist auch finanzierbar. Allein in Deutschland erzielen die Unternehmer dank flächendeckender Dumpinglöhne jährlich rund 1000 Mrd. Euro Gewinnüberschüsse, die sie faktisch den abhängig Beschäftigten wegnehmen, um sie im Finanzsektor zu investieren. Diese Mittel müssen für die Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich verwendet und so den arbeitenden Menschen wieder zurückgegeben werden. Dadurch können zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Zum einen würde das Kapitalvolumen im Finanzsektor und damit die Gefahr von neuen Finanzkrisen schrumpfen. Und zum anderen würden die Mittel in den Binnenmarkt gelangen und die Binnennachfrage nachhaltig stärken.

Das zivilgesellschaftliche Potential ausschöpfen!

Die Notwendigkeit einer radikalen Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit zu begründen, wie auch die Möglichkeit ihrer Finanzierung, ist jedoch nur das eine; es kommt aber darauf an, dieses Projekt auch politisch durchzusetzen. Dazu müsste die deutsche sowie die europäische Sozialdemokratie wieder zu ihren Wurzeln zurückfinden und bereit sein, sich bewusst von den Fesseln zu befreien, die ihr der Neoliberalismus mit der Agenda 2010 angelegt hat. Vor allem dadurch hat sie sich von ihrer sozialen Basis in dramatischer Weise entfernt. Tatsächlich haben die Strategen des Neoliberalismus und des Finanzmarktkapitalismus mit ihrer auf Propaganda und Täuschung beruhenden Politik einen großen Coup gelandet. Sie haben aus dem Kanzler einer rotgrünen Regierung mit Reformanspruch in Deutschland zunächst einen Autokanzler und anschließend einen Agenda-2010-Kanzler gemacht. Es muss als ein historischer und politischer Skandal angesehen werden, dass ausgerechnet die bedeutendste und verdienstvollste Volkspartei Europas zum wirkungsmächtigen Handlanger des Finanzkapitals herabgewürdigt wurde. Die deutsche Sozialdemokratie muss endlich erkennen, dass eine Fortsetzung der bloßen Wachstumspolitik keine neuen Arbeitsplätze in Deutschland und Europa hervorbringt. Stattdessen verursacht sie zusätzliche Schädigungen der Natur und eine Überausbeutung des Südens mit den daraus resultierenden Fluchtbewegungen nach Europa. Sozialdemokratische Politik muss wieder dort ansetzen, wo sie Ende der 1970er Jahre aufgehört hat und weswegen sie politisch abgestraft wurde – bei der Politik der Arbeitszeitverkürzung und der IG-Metall-Kampagne für eine 35-Stunden-Woche. Dies gilt auch für die deutschen Gewerkschaften, die durch ihren unerschütterlichen Glauben an Wachstum und im Gefolge der Agendapolitik in die gesellschaftliche Defensive geraten sind und einen Großteil ihrer Mitglieder verloren haben.

Auch die grüne Bewegung müsste reflektieren, warum sie sich von einer zukunftsfähigen linken Partei mit ökologischen, sozialen und gewaltfreien  Zielen in eine grün angehauchte FDP verwandelt hat. Der Green New Deal eignet sich im Finanzmarktkapitalismus als ein libertär-neoliberales Korsett, in das eine ursprünglich viel versprechende Partei hineingepresst und damit gesellschaftlich faktisch nutzlos gemacht worden ist. Ein ökologischer Umbau der Gesellschaft, der diesen Namen wirklich verdient, lässt sich jedoch nur mit radikaler Arbeitszeitverkürzung realisieren. Darauf müsste sich auch die Linkspartei besinnen und diesen Prozess der geistigen Befreiung vom rückwärtsgewandten Sog des Neoliberalismus entschieden vorantreiben. Schon heute verfügt diese Strömung, vor allem ihr zivilgesellschaftlicher Teil, über ein erhebliches Mobilisierungs- und Reformpotential, wenn man etwa an die Aktivitäten von Netzwerken wie Campact bei den Anti-CETA und Anti-TTIP-Kampagnen der vergangenen Jahre in Deutschland denkt.

Der zivilgesellschaftliche Teil des linken Lagers besteht vor allem aus hoch gebildeten, aber parteipolitisch desillusionierten Menschen, die bereits ein fundiertes Bewusstsein über die Strukturprobleme des gegenwärtigen Kapitalismus besitzen und für grundlegende Veränderungen sensibilisiert sind. Dieses Potential ist, im Gegensatz zu anderen Teilen der Gesellschaft, noch lange nicht entpolitisiert und isoliert. Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland, Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in den USA sind weltweite Exponenten dieses Potentials. In Deutschland war die über Nacht entstandene Piratenpartei Ausdruck der großen Sehnsucht vieler reformhungriger Gruppierungen nach einem anderen, nicht von kapitalistischen Verwertungsinteressen dominierten Leben. Leider ist ihnen oft gemeinsam, dass sie zunächst mit großem Elan entstehen, dann aber den Rückzug antreten, sobald sich herausstellt, dass ihr politisches Projekt für gesamtgesellschaftliche Reformen nicht tragfähig ist.

Umso mehr kann man die Erwartung hegen, dass das zivilgesellschaftliche Reformpotential sich von zugkräftigeren und tragfähigeren Projekten wie der radikalen Arbeitszeitverkürzung ansprechen ließe. In diesem Sinne könnte der Vorstoß der IG Metall zur Einführung der 28-Stunden-Woche ein Weckruf sein, das Thema endlich wieder in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken. Linke Parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen sind in der Pflicht, den Impuls weiterzuleiten und eine echte Reform in Gang zu setzen. Denn nur so werden wir einer weiteren, durch den Finanzmarktkapitalismus ausgelösten Krisenspirale entgehen können.

 

(1) Rudolf Hickel, Zerschlagt die Banken: Zivilisiert die Finanzmärkte, Düsseldorf 2012.

(2) Ebd, S. 114 ff.

(3) Hans-Werner Sinn forderte schon 2003 die Verlängerung der Arbeitszeit um zehn Prozent ohne Lohnausgleich, weil nur so die deutsche Wirtschaft international wettbewerbsfähig werden könnte, vgl. www.hanswernersinn.de/de/themen/Arbeitszeitverlängerung.

(4) „Pro Firma“, 9/2003.

(5) „Welt am Sonntag“, 14.11.2004.

(6) „Bild“, 22.4.2004.

(7) „Impuls“, 2/2005.

(8) Diese Regelung sollte auch in der Verfassung festgeschrieben werden. Ausführlicher zur Notwendigkeit

und Möglichkeit der Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit vgl. Heinz-Josef Bontrup und Mohssen Massarrat, Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, 2011, www.alternative-wirtschaftspolitik.de.

(9) Vgl. die ARD-Sendung „Das Märchen vom Fachkräftemangel“, 21.7.2014.

(10) Vgl. Stephan Schulmeister, in: „Frankfurter Rundschau“, 2./3.1.2016.

(11) Vgl. dazu die Positionspapiere der Attac-AG ArbeitFairTeilen, www.attac-netzwerk.de.

(12) Frigga Haug, Die Vier-in-einem-Perspektive, Hamburg 2008.

 

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