Wider die krankmachenden Wundheiler

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik (Inland)

Eine Krankenschwester stellt dem Gesundheitswesen eine klare Diagnose und benennt die Verursacher seiner Krankheit, die vor der Corona-Krise begann. Das bundesdeutsche Gesundheitswesen steht schon lange unter Druck, insbesondere jene, die als Ärzte, Pflegekräfte und in anderen Berufen darin arbeiten. Die Ökonomisierung auch dieses grundlegenden gesellschaftlichen Bereiches hat Folgen. Die Corona-Krise hat das zum einen verschärft, zum anderen zu absurden Situationen geführt, dass Kliniken Kurzarbeit anmeldeten. Der durch fragwürdige Hochrechnungen vorhergesagte Zusammenbruch durch Massen an Covid-19-Patienten blieb aus. An dem grundlegenden, seit Jahren andauernden Notstand im bundesdeutschen Gesundheitswesen hat sich nichts geändert. Eine Krankenschwester hat aufgeschrieben, wie sie das erlebt und wie sie das sieht. Herausgekommen ist ein hochinteressantes Buch. Tilo Gräser

Nina Böhmer ist Krankenschwester mit Leib und Seele, doch sie ist auch wütend. Am 23. März 2020 machte die 28-Jährige ihrer Wut mit einem Statement auf ihrem Facebook-Account Luft. Darin äußerte sie sich zur Lage der Beschäftigten im Gesundheitswesen und reagierte auf den Beifall auf Balkonen und auf Straßen im Frühjahr:

„Fassen wir mal zusammen.

Erst sollen wir einen Mundschutz und Schutzkittel für mehrere Patienten benutzen.

Wir sollen weiterarbeiten, wenn wir Kontakt zu einem Corona/Covid-19 Patienten hatten.

Dann werden Personaluntergrenzen ausgesetzt, für die lange gekämpft wurde. Das heißt, scheißegal, es könnte eine Pflegekraft 50 Patienten betreuen.

Dann sagt Herr Spahn, es geht gar nicht um die Bezahlung in dem Beruf, es ist nur wichtig, den Job attraktiver zu machen.

Und jetzt müssen wir nicht mehr in Quarantäne nach Kontakt, wir können schon früher zur Arbeit gerufen werden, sagt das RKI! Diejenigen, die hier empfehlen, dass am besten alle zu Hause bleiben sollen wegen des gefährlichen Virus! Schämt euch, diejenigen, die das RKI hoch in den Himmel heben!

In einem Beruf, der jahrelang unterbezahlt ist … wo alle am Limit arbeiten … wir sollen jetzt die Helden sein und werden so behandelt? Eigentlich sollten genau jetzt alle Pflegekräfte ihren Job kündigen!

Ich bin richtig doll traurig und enttäuscht, ich fühle mich verarscht und ich kann es nicht fassen. Ich bin ernsthaft sprachlos. Vielleicht kann man jetzt meine Posts verstehen … ich bin sauer.

Und euer Klatschen könnt ihr euch sonst wo hinstecken, ehrlich gesagt … Tut mir leid, es so zu sagen, aber wenn ihr helfen wollt oder zeigen wollt, wie viel wir wert sind, dann helft uns für bessere Bedingungen zu kämpfen!“

Weil sich seit ihrem Wutstatement wenig verändert hat — außer dass Böhmer zahlreiche Interviews geben durfte — hat sie das Buch „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“ geschrieben, das im Juli erschien. Darin benennt sie, was im Gesundheitssystem schiefläuft: vom Pflegenotstand über den Materialmangel bis zur Zeitnot. „Der Beifall galt nicht den Pflegern und Krankenschwestern“, stellt Böhmer fest, „sondern sollte die eigene Angst vertreiben — das ist menschlich, hilft dem Klinikpersonal aber kein bisschen.“

Schonungsloser Bericht

„Dem Applaus folgte die große Stille“, bemerkt sie traurig und schreibt über die ersten Wochen nach dem Lockdown im März: „Wen interessierte noch, unter welchen Bedingungen wir arbeiteten und ob genügend Schutzmaterial da war?“. Ende Mai habe es in den Kliniken immer noch an Schutzausrüstung wie Masken gefehlt, berichtet sie aus eigenem Erleben. Das Gerede über die Solidarität sei schnell wieder verstummt.

Böhmers Buch ist ein interessanter und schonungsloser Bericht aus dem Inneren des Gesundheitswesens. Es bestätigt manches, was ich selbst als mehrmaliger Patient in einem Krankenhaus vor der Corona-Krise erlebte und beobachtete. Neben Erinnerungen an ihre Ausbildung und Erfahrungen aus ihrer Arbeit beschreibt die Krankenschwester immer wieder grundlegende Probleme, die es vor und während der Covid-19-Pandemie gab und gibt.

Sie beklagt nicht nur Zustände in einzelnen Kliniken, die dem Anspruch der Medizin widersprechen, Menschen zu heilen und ihnen zu helfen. Sie übt ebenso deutliche Politik an der Corona-Politik der Regierenden und den von diesen beschlossenen Maßnahmen:

„Ich fühlte mich eingeengt und ich fand es unfassbar, wie Entscheidungen getroffen wurden, ohne anscheinend darüber wirklich nachzudenken, welche Auswirkungen sie auf die Menschen haben könnten, auf die Existenzen von Millionen Bundesbürgern. Für mich war plötzlich die Regierung von Angela Merkel eine viel größere Bedrohung als das Virus …“

Böhmer kritisiert, dass zumeist nur das Robert-Koch-Institut (RKI) zu Wort kam und nicht eine Art Runder Tisch geschaffen wurde, an dem mehrere Experten Empfehlungen abgeben konnten. „Man sollte nicht nur auf eine Meinung vertrauen“, hebt sie hervor. Das RKI wird von dem Tiermediziner Lothar Wieler geleitet und untersteht dem Bundesgesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU). Dieser wird von der Krankenschwester ebenfalls deutlich kritisiert, unter anderem weil er frühzeitig wegen der Pandemie die Personaluntergrenzen in der Pflege aussetzte.

Interessante Einblicke

Spahn habe ebenso wie seine Vorgänger nicht begriffen: „Die Bekämpfung der Ausbreitung einer Pandemie erfordert mehr und nicht weniger Fachkräfte im Gesundheitswesen.“ Mit der Corona-Krise und deren zunehmender Dauer habe sich das Chaos in den Krankenhäusern vergrößert, berichtet Böhmer. Zum Personal- und Materialmangel seien immer neue Anweisungen gekommen, die sich oft gegenseitig widersprochen hätten. Und:

„Uns wurden Masken, Desinfektionsmittel und andere Schutzmaterialien geklaut.“

Zu den interessanten Einblicken, die die Krankenschwester gibt, gehört: „Allgemein kann ich sagen, dass das medizinische Personal, egal auf welchen Stationen ich zu der Zeit im Einsatz war, das Thema ‚Corona‘ völlig übertrieben dargestellt fand, mich eingeschlossen.“ Doch die Medien hätten die Angst machende Berichterstattung ohne Pause fortgesetzt.

In einem weiteren Facebook-Eintrag, den sie im Buch wiedergibt, schrieb sie:

„Meine Meinung ist, dass in der Pflege schon immer unzumutbare Zustände geherrscht haben und niemand aus der Politik etwas unternommen hat. Corona war nur der Grund, warum man uns jetzt zuhört, und ist nicht der Grund für die Zustände.“

Böhmer beschreibt in ihrem Buch relativ ausführlich, wie sie während ihrer Ausbildung und danach als Leasingkraft diese Zustände vor der Pandemie erlebte. Dazu gehört:

„So unterschiedlich die Stationen allerdings auch sein mögen, sie haben alle eine Gemeinsamkeit: Es fehlt an Personal in allen möglichen Umfängen.“

Verantwortlich dafür sei das Gesundheitssystem in einem der reichsten Länder der Welt.

Die Krankenschwester betont:

„Ich gebe gar nicht den Einrichtungen und Trägern die Schuld. Es ist schlicht und ergreifend das System. Denn Seniorenheime und Krankenhäuser müssen sich nach politischen Vorgaben richten. Erst wenn das korrigiert wird, wird auch die Situation besser.“

Gefährliche Wundheiler

Sie vergleicht das bundesdeutsche Gesundheitssystem mit einem „Patienten mit einer offenen Wunde, die einfach nicht heilen will, egal wer gerade an ihr herumdoktert“. Vor allem die verantwortlichen Politiker würden dabei „auf Arzt“ machen, „agieren aber in Wahrheit wie mittelalterliche Wundheiler“. Das gelte vor allem für die „Chefin der Wundheiler“, die 2005 erstmals gewählte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Diese trage „die Hauptverantwortung für den Zustand des Dauerpatienten“.

Merkel hatte in ihrer TV-Ansprache vom 18. März 2020 den Beschäftigten im Gesundheitswesen als jenen gedankt, die „für uns in diesem Kampf in der vordersten Linie stehen“. Doch das Engagement dieser Beschäftigten „für das Land hätte der Kanzlerin viel früher auffallen können, denn sie regiert es seit fünfzehn Jahren“, merkt Böhmer dazu an.

Die Krankenschwester erwähnt in ihrem Buch die Folgen der Angst- und Panikmache durch Politik und Medien. Sie verweist darauf, dass viele Menschen sich trotz akuter Beschwerden aus Angst vor dem neuen Corona-Virus nicht ins Krankenhaus trauten, und benennt Beispiele dafür. Dabei stellt sie klar:

„Aus medizinischer Sicht gab es allerdings keinen Grund für die Angst, erst recht nicht für Panik.“

Die Kliniken seien insgesamt gut auf die Ansteckungsgefahr vorbereitet gewesen, schreibt Böhmer.

Mediale Hysterie

„Ich hatte keine Angst vor dem Corona-Virus. Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen ebenso wenig.“ Das begründet die Krankenschwester mit den Erfahrungen aus der Schweinegrippe Pandemie 2009, bei der sich die anfänglich vor allem vom RKI verbreitete Panik als unbegründet erwiesen habe.

„Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung bei ihren Entscheidungen in der Corona-Krise sorgfältiger abgewogen und nicht nur auf das Robert-Koch-Institut gehört hätte, sondern auf viele andere Virologen und Epidemiologen, aber auch Psychologen, Soziologen und Ökonomen.“

Die einzelnen Maßnahmen hätten geprüft und die gesamtgesellschaftlichen Folgen bedacht werden müssen, so Böhmer. Doch das aktuelle Vorgehen der Regierenden in Bund und Ländern macht nicht den Eindruck, als habe jemand das Buch von ihr gelesen. In dem ist auch deutliche Kritik daran zu lesen, wie die Medien berichteten und berichten, was „sicherlich zur Panik beigetragen“ habe.

„Jeden Tag ärgerte ich mich über die von den Medien erzeugte oder verstärkte Hysterie, die die Ängste der Menschen nur noch befeuerte. Die neusten Zahlen der Infizierten und Toten waren die Fetische der Corona-Zeit.“

Dagegen werde zum Beispiel seit Jahren kaum darüber berichtet, dass es Berechnungen zufolge jährlich bis zu 600.000 Fälle von Infektionen durch Krankenhauskeime gibt, die zu Lungenentzündungen, Blutvergiftungen, Wundinfektionen und anderen Erkrankungen führen. Eine Studie spreche von 10.000 bis 20.000 Toten durch die Krankenhausinfektionen, während die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene von mehr als 800.000 Infektionen und bis zu 40.000 Toten ausgehe.

Klarer Blick

Das ist eines der Beispiele, mit denen die engagierte Krankenschwester belegt, dass sie über die Grenzen ihrer konkreten Arbeit hinausschaut. Sie macht ebenso darauf aufmerksam, wie scheinheilig und teilweise absurd das Handeln und Reden der verantwortlichen Politiker ist.

Eine der Folgen der übermäßigen Konzentration des Gesundheitswesens auf Covid-19 im Frühjahr:

„Überall in Deutschland meldeten Kliniken Kurzarbeit an und stornierten Leasingkräfte, was angesichts des epischen Fachkräftemangels im Gesundheitswesen geradezu grotesk anmutete.“

In den vollen Stationen der Kliniken hätten dagegen die Krankenschwestern wie eh und je zu viel zu tun gehabt. Statt klarer Anweisungen zum Schutz der Beschäftigten im Gesundheitswesen habe die Regierungen Regeln erlassen, die die Arbeitsbedingungen weiter verschlechterten.

Böhmer schreibt dazu, sie habe sich wie viele ihrer Kollegen „im Stich gelassen und als Kanonenfutter einer Regierung“ gefühlt, „die die Krise … eben auch zur Profilierung nutzte“. Sie sei mit ihrer „Wut im Bauch“ aber nicht allein gewesen, bemerkt sie und zitiert dazu aus einer Reihe von ähnlichen Äußerungen anderer Beschäftigter im Gesundheitswesen. Allerdings erlebte sie nach ihren Aussagen ebenso, dass ihre Kritik an der überzogenen Anti-Corona-Politik, die Menschenrechte gegen Menschenleben ausspielt, im eigenen Bekanntenkreis „als unsolidarisch und menschenverachtend“ angesehen wurde.

Die 28-jährige Krankenschwester meint dazu:

„Früher hat man diskutiert und debattiert, heute kriegt man gleich die Keule ‚Verschwörungstheoretiker‘ übergebraten, wenn man Dinge hinterfragt.“

Und:

„Die Politik hätte sich auf den Schutz der Hochrisikogruppen konzentrieren können und die anderen selbst entscheiden lassen, ob sie das Risiko eingehen wollen, sich anzustecken oder nicht.“

Folgenreiche Fehlanreize

Böhmers Buch ist eine kritische Bestandsaufnahme der aktuellen Lage im Gesundheitswesen infolge der Corona-Krise. Dazu gehört ihre Kritik an der langjährigen Ökonomisierung der Krankenhäuser mit Fallpauschalen und anderen Methoden sowie deren aktuellen Auswirkungen: Krankenhäuser erhalten für jedes für potenzielle Covid-19-Patienten freigehaltene Bett pro Tag 560 Euro und für jedes zusätzlich bereitgestellte Intensivbett mit Beatmungsgerät 50.000 Euro. Kliniken hätten diese Gelder kassiert und dennoch Personal in Kurzarbeit geschickt, so Böhmer.

„Wer viele Covid-19-Patienten behandelte, verdiente gut, die anderen Krankenhäuser brauchten einen Rettungsschirm, damit sie überlebten.“

Dabei wurden, nach dem Autor dieses Textes vorliegenden Informationen, immer wieder von Kliniken normale Patienten als solche mit Covid-19 ausgegeben, um die Einnahmen zu erhöhen. Mitten in der Pandemie seien die Krankenhäuser „so leer wie noch nie“ gewesen, schreibt Böhmer, was natürlich zu Einnahmeausfällen führte, die kompensiert werden mussten. Ob es sich dabei um Einzelfälle als Folge der „Fehlanreize“ handelt, die auch der Mediziner und ehemalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wodarg kritisiert, ist nicht bekannt.

Anhaltende Hoffnung

Die engagierte Krankenschwester hat nicht nur eine Bestandsaufnahme des krankgesparten Gesundheitswesens geschrieben, das nach ihren Worten bereits seit Jahren überlastet ist — „nicht technisch, … wohl aber personell“. Zugleich sei aber die Versorgungsdichte im Vergleich zu anderen Länder immer noch so hoch, dass im Frühjahr nie gedroht habe, „jemals an das Ende der Kapazitäten an Intensivbetten und Sauerstoffgeräten“ zu kommen.

Böhmer schreibt, dass sie trotz der kritisierten Zustande die Hoffnung nicht aufgibt und sich für Verbesserungen einsetzt, so weit ihr das möglich ist:

„Es geht dabei um nicht weniger als die Frage, wie menschlich Deutschland ist und bleibt. Das Minimum, was ich von den Verantwortlichen in der Politik erwarte, ist, dass sie die Republik für die nächste Pandemie rüsten, damit es dann weniger hysterisch, panisch und aktionistisch zugeht.“

Sie hoffe, dass die Politik die Voraussetzungen schafft, dass sie ihren geliebten Beruf als Krankenschwester weiter ausüben kann.

Am Ende ihres Buches erklärt sie:

„Denn wenn die Arbeitsbedingungen und das Gehalt stimmen, man ein nettes Team, anständige Vorgesetzte und freundliche Patienten um sich hat, ist Krankenschwester nicht nur (m)ein Traumberuf — dann ist es der schönste Job auf der Welt.“

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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