Wider die Unterernährung der sozialistischen Phantasie

 In Politik (Inland), Wirtschaft
Ernst Bloch:

Ernst Bloch:

Wer mit wachen Sinnen durch die Welt geht, spürt, dass sich um uns herum etwas zusammenbraut. Wenn die Krisen des Finanzkapitalismus sich weiter zuspitzen, die Kluft zwischen Arm und Reich sich weiter vertieft und die Unübersichtlichkeit eskaliert, droht die Gefahr einer Faschisierung von Teilen der Bevölkerung – und zwar in ganz Europa. Pegida hat uns in Deutschland einen Vorgeschmack geliefert. Umso dringlicher ist es, dass die Linke eine Alternative formuliert und praktiziert, die die Menschen fasziniert und hinter dem Ofen hervorlockt. (Götz Eisenberg)

„Das, was wirklich zählt – ist das etwa nicht das Glück? Wofür macht man denn die Revolution, wenn nicht, um glücklich zu sein?“
(Pier Paolo Pasolini)

„Wie ist es dazu gekommen, fragte ich ihn, dass unsere Zivilisation Monster hervorbringt.
Verhindertes Leben, sagte er. Was sonst. Verhindertes Leben.“
(Christa Wolf)

„Ein Führer müsst halt wieder her!“

In der Fußgängerzone stehen vor einem Lotto-Geschäft zwei Männer, so um die sechzig. Die Hände halten sie auf dem Rücken verschränkt, die Hemden spannen über den Bäuchen. Als eine Gruppe junger Migranten vorübergeht, sagt der eine: „Es werden immer mehr von denen.“ Der andere stimmt zu: „Es sind jetzt schon viel zu viele ins Land gekommen und es kommen täglich mehr.“ „Ich hab gehört, die Filiale eines Discounters muss schließen, weil die den Laden leerklauen“, sagt der Erste. „Wir brauchen einen kleinen Adolf“, schlussfolgert der Zweite. Der Erste stimmt ihm zu und ergänzt: „Zu klein darf er aber auch nicht sein. Er muss schon durchgreifen und den Saustall radikal ausmisten. Ein Führer müsst halt wieder her!“

Diese beiden Männer stehen stellvertretend für all jene, in deren Namen diejenigen handeln, die im Schutz der Dunkelheit losziehen und Anschläge auf Gebäude verüben, in die Flüchtlingen einziehen sollen oder in denen sie bereits wohnen. Von diesen Anschlägen gab es im ersten Halbjahr 2015 schon so viele wie im ganzen Jahr 2014 und dreimal so viele wie im ganzen Jahr 2013. In Zahlen sind es in diesem Jahr laut Bundeskriminalamt 173 Taten. Bei 22 dieser Delikte handelt es sich Gewaltdelikte im engeren Sinn wie Körperverletzungen und Brandstiftungen. Unlängst wurde in Leipzig auf eine bewohnte Flüchtlingsunterkunft geschossen. Die Faschisten, die Schüsse abgeben oder die Brandsätze schleudern, sind die Delegierten einer schweigenden Mehrheit von sogenannten anständigen Bürgern, die in der Kulisse verharren, ihre Hände in Unschuld waschen und sich angesichts der Flüchtlingsströme einen schnapsglasgroßen Hitler herbeiwünschen.

Kältestrom und Wärmestrom

Ernst Bloch hat in seinem Buch „Erbschaft dieser Zeit“ der Weimarer Linken, vor allem den Kommunisten, den Vorwurf einer „utopischen Unterernährung der sozialistischen Phantasie“ gemacht. Die Linke habe allzu vieles dem Feind überlassen, dem der Missbrauch dieser Themen leichtgemacht wurde, „weil die echten Revolutionäre hier nicht Wache gestanden haben.“ Die linke Propaganda sei vielfach kalt, schulmeisterlich und ökonomistisch gewesen. Während die Rechten in Bildern und Metaphern schwelgten, die in die Phantasie der Menschen griffen, langweilten die Linken die Menschen mit dem sturen Ableiern von ökonomistischen Parolen: „Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen. Die Kommunisten strapazieren oft gleichfalls Schlagworte, aber viele, aus denen der Alkohol längst heraus ist und nur Schema drinnen. Oder sie bringen ihre richtigen Zahlen, Prüfungen, Buchungen denen, die den ganzen Tag über mit nichts als Zahlen, Buchungen, Büro und Trockenarbeit verödet werden, also der gesamten ‚Wirtschaft‘ subjektiv überdrüssig sind.“ Die auf die Entlarvung ökonomischer Widersprüche fixierte Linke geriet in den Bann des „Kältestroms“, der von der kapitalistischen Ökonomie ausgeht, und vernachlässigte den „Wärmestrom“, der das ist, was in die Phantasie greift und die Menschen berührt und antreibt. Der Triumph des Nationalsozialismus resultierte in Blochs Wahrnehmung auch aus der Unfähigkeit der sozialistischen und kommunistischen Linken, die unglücklichen, hungrigen – hungrig vor allem auch nach Sinn! -, ohne Ziel umherirrenden Menschen satt zu machen: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, besonders wenn er keines hat.“

Für eine Ökonomie des Glücks

Dass die Kritik ökonomischer Sachverhalte in der linken Theoriebildung und Analyse seit jeher und bis auf den heutigen Tag eine derart große Rolle spielt, ist zunächst einmal dem real existierenden Ökonomismus der kapitalistischen Gesellschaft geschuldet. Durch den großen Stellenwert der ökonomischen Aufklärung entsteht aber mitunter der Anschein, als sei das angestrebte Ziel einer anderen Gesellschaft in erster Linie eine Sache der Ökonomie oder gar der Triumph einer von ihren bürgerlichen Fesseln befreiten ökonomischen Vernunft. Dem ist aber keineswegs so. Der kommunistische Materialismus sollte Bloch zufolge nicht die bloße Verdoppelung der totalen Ökonomie sein, „sondern gerade der Hebel, um die beherrschte Wirtschaft an die Peripherie zu stellen und den Menschen erstmals in die Mitte.“ Es geht darum, reale Humanität herzustellen, und diese geht weit hinaus über eine lediglich neu geordnete Wirtschaftsform, über alle bloß sozialtechnischen Maßnahmen. Es geht um nichts Geringeres als die Unterordnung der Wirtschaft unter die Bedürfnisse von zur Vernunft gekommenen Menschen. Etwa zur gleichen Zeit, da Ernst Bloch seine Kritik am Ökonomismus der Linken formulierte, hat Max Horkheimer in seinem unter dem Pseudonym Heinrich Regius erschienenen Buch „Dämmerung“ formuliert: „Die Begründung der Abschaffung des Kapitalismus durch die Notwendigkeit eines der Produktivität günstigeren Auswahlprinzips ist verkehrt, weil sie die Kategorien des herrschenden ökonomischen Systems als Norm nimmt. Sie glaubt, es sei mit Reparaturen getan. Nicht damit die Tüchtigen an die erste Stelle kommen, müssen wir die Gesellschaft verändern, sondern im Gegenteil, weil die Herrschaft dieser ‚Tüchtigen‘ ein Übel ist.“

Dass die Ökonomie unser Dasein beherrscht und bestimmt, ist für das kritische Denken kein weltanschauliches Bekenntnis, sondern die Diagnose eines aufzuhebenden Zustands. Der Primat des Ökonomischen soll gebrochen werden, die Ökonomie in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung solidarischer Menschen treten, statt diese zu ihren stummen Vollzugsorganen und Anhängseln herabzuwürdigen. Wer den real existierenden Primat der Ökonomie im Kapitalismus kritisiert, ist immer in Gefahr, sich dem kritisierten Zustand partiell zu assimilieren und dem Ökonomischen zu viel Gewicht beizumessen. Das Problem ist, dass aus den aufgezeigten objektiven Widersprüchen kein subjektives Widersprechen mehr resultiert. Das hat auch mit jener Unterernährung der sozialistischen Phantasie zu tun, vor der Bloch die Linke gewarnt hat. Mit purer ökonomischer Aufklärung lockt man niemand hinter dem Ofen hervor. Man macht nicht die Revolution, weil die Akkumulation des Kapitals ins Stocken gerät und der Kapitalismus Krisen produziert, sondern weil man wie ein Mensch leben und glücklich sein will. „Das, was wirklich zählt – ist das etwa nicht das Glück? Wofür macht man denn die Revolution, wenn nicht, um glücklich zu sein?“, schrieb der italienische Filmemacher, Schriftsteller und Kommunist Pasolini in seinen „Freibeuterschriften“.

Abenteuer der Freiheit

Woher rührt die nicht nachlassende Strahlkraft Che Guevaras? Aus der faszinierenden Verbindung von Abenteuer, Freiheit und revolutionärer Politik. Eine linke Strategie, die nicht ein Gran Abenteuerlichkeit enthält, ist nichts wert. Sie ist bloß Ordnung, Gewerkschaft, Sozialdemokratie, Bürokratie und Langweile. Das Abenteuer weist über einen solchen Leitzordner-Sozialismus hinaus und ruft Begeisterung hervor.

Analyse und theoretische Aufklärung weisen dem Veränderungswillen den Weg und vertreiben den Nebel, der über den Verhältnissen liegt. Aber der Wille zur Veränderung stammt aus anderen Quellen und hat seinen Ursprung in Persönlichkeitsschichten weit unterhalb des Kopfes. Die Veränderung der Gesellschaft besitzt, wie Marcuse gesagt hat, eine körperliche, triebmäßige Basis und wurzelt in Bedürfnissen, die verschieden, ja antagonistisch gegenüber jenen sind, die in ausbeuterischen Gesellschaften vorherrschen und ihren Zusammenhalt gewährleisten. Die Basis der Veränderung sind Körper und Seelen, die Aggressivität, Brutalität und Hässlichkeit der etablierten Lebensweise nicht länger ertragen können und ihr stummes Nein zu den Verhaltenszumutungen der forcierten Leistungskonkurrenz und der um sich greifenden Zerstörung gewachsener Lebensgelände in verrätselten psychosomatischen Formen zum Ausdruck bringen. Diese Leidenserfahrungen und ihrer selbst noch nicht bewussten Formen der Revolte hätte Theorie beredt werden zu lassen. Die Veränderung könnte dann Wurzel in den Menschen selbst schlagen, Aufklärung und Theorie hätten auf diesem Boden Ziele und Strategie des politischen Kampfes neu zu definieren. „Kritik ist“, wie Marx in seiner frühen Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie formulierte, „keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft“.

Der eigentliche Skandal der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht, dass sie periodisch Krisen produziert, die Entwicklung der Produktivkräfte hemmt oder Ressourcen verschleudert, sondern dass unter der Vorherrschaft von Ware und Geld das menschliche Leben erstirbt. Das niedergedrückte und an der Entfaltung gehinderte Leben bildet Schattenräume, in denen Träume, Wünsche und Sehnsüchte entstehen, die die politische Linke nicht als irrational abtun und ignorieren darf, sondern aufgreifen muss. Es sind Wünsche nach Glück, Solidarität, aufrechtem Gang, menschlichen Zeitmaßen und Stille, Träume von Heimat, aufgehobener Entfremdung und einem Leben ohne stupide Plackerei. Warum steht auf dem Leben nach wie vor eine Strafe von achtstündiger Arbeit pro Tag, wo doch die objektiven Möglichkeiten, das Leben von der Diktatur der Arbeit als Vollzeitbeschäftigung zu befreien, längst vorhanden sind? Viele Menschen verspüren das Bedürfnis, den auf dem Wettbewerb beruhenden tagtäglichen Existenzkampf zu beenden. Sie merken, dass das Bedürfnis, alle zwei Jahre ein neues Auto, einen neuen Fernsehapparat und das neueste Handymodell zu kaufen, ihre Befreiung verhindert und ihre „freiwilligen Knechtschaft“ verewigt. Wenn die Linke diese Themen nicht aufgreift, eignen sich andere diese frei flottierenden Energien an.

Wir müssen die Idee eines libertären Sozialismus entwickeln und propagieren, für den es sich lohnt, auf den ganzen konsumistischen Kram und Schund zu verzichten, der ja nur ein schäbiger Ersatz für entgangenes, ungelebtes Leben und eine Belohnung für unseren Gehorsam darstellt.

Im Verlag Brandes & Apsel ist Anfang des Jahres Götz Eisenbergs neues Buch “Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus” erschienen.

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