Winterschlaf für die Seele

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Roland Rottenfußer

Neue Wege aus der Winterdepression. Weihnachtshektik, Winterurlaubs-Stress und Silvesterabsturz sind Phänomene des modernen Lebens. Unsere Vorfahren versuchten eher, die Zeit um die Wintersonnwende und die geheimnisvollen „Rauhnächte“ als absolute Ruheperiode zu gestalten. Nicht umsonst, denn Körper und Seele melden „zwischen den Jahren“ ein größeres Ruhebedürfnis und  gesteigerte Sensibilität an – vergleichbar dem Winterschlaf bei Tieren. Wenn wir auf die Signale unserer Seele hören, können Krisensymptome wie Grippe, Winterdepression und Burnout vermieden werden. Ein bewusst geplantes Winter-Retreat schafft die besten Voraussetzungen, um das Neue Jahr erholt und kraftvoll zu beginnen.  Roland Rottenfußer

Wir nannten unseren Igel „Murmel“, und als wir ihn unter verwittertem Herbstlaub im Park fanden, war er klein und in recht erbarmungswürdigem Zustand. Igel-Experten wissen, dass Igelkinder, wenn sie zu klein und von ihrer Mutter getrennt sind, kaum Chancen haben, über den Winter zu kommen. Da meine damalige Freundin sich damit auskannte, wurde Murmel sogleich mit nach Hause genommen und mit Katzenmilch, Fencheltee und getrocknetem Igel-Futter hochgepäppelt. Als die eisigen Novemberwinde über das Land fegten, bauten wir ihm ein Haus aus zwei Lagen Karton. Der Innenraum wurde mit Papierschnipseln ausgefüllt. Das Ganze platzierten wir in einem großen Stall aus Pappe auf unserem Balkon. Wasser und Futter stellten wir ihm vorsichtshalber noch eine Weile hin. Dann warteten wir.

Nach wenigen Tagen war Murmel ganz in seinem Häuschen verschwunden und tauchte Monate lang nicht mehr auf. Ich äußerte die Angst, im Frühjahr nur noch ein Skelett vorzufinden. Wie sollte ein Lebewesen, das normalerweise ein kräftiger Esser war, so lange ohne Futter überleben können? Meine Freundin beruhigte mich: Winterschlaf. Das ist bei Igeln so. Winterschläfer senken ihre Körpertemperatur auf annähernd Außentemperatur ab, Igel von 39 auf ca. 7 Grad. Herzschlag und Atmung sind im Schlafzustand stark herabgesetzt. Der ganze Organismus brennt gleichsam auf Sparflamme. Als Nahrungsdepot dient der Winterspeck – ein Begriff, der bei Igeln eine ganz andere Bedeutung hat als bei Menschen, da er keine überflüssigen, sondern lebensnotwendige Pfunde bezeichnet. Der Igel stirbt während der Wintermonate einen „kleinen Tod“ und gibt sich ganz dem Ruhezustand hin – voll Vertrauen auf die Auferstehung im Frühjahr.

„Schaden bringende Weihnachtszeit“

Wie verläuft dem gegenüber ein typischer Menschenwinter? Dank Heizung und elektrischem Licht spüren wir kaum, dass überhaupt Winter ist. In der Adventszeit will Stimmung nicht so richtig aufkommen. In vielen Firmen müssen Jahresabschlussbilanzen gemacht werden. Alles läuft auf Hochtouren weiter, und die Betriebsweihnachtsfeste sind gemäß einer „guten alten“ Tradition Gelegenheit für ganze Kerle, einmal wieder ordentlich „abzustürzen“. Ist dann der Weihnachtstermin in bedrohliche Nähe gerückt, wird hektisch eine Atmosphäre von Stille und Besinnlichkeit erzeugt. Ein paar Kerzen hier, ein Tannenzweig da. Natürlich hat man wieder einmal keine Geschenke eingekauft, und es graust einem schon vorab vor dem Gedränge in den Kaufhäusern …

Weihnachten ist laut Statistik ein Fest des Unfriedens. Da man all seine Verwandten über die Feiertage sehen „muss“, kochen unbearbeitete, im Alltag verdrängte Konflikte hoch. Froh, die Pflichtbesuche absolviert zu haben, stürzt man sich dann befreit in einen Skiurlaub mit dichtem Animationsprogramm. Selbst wer zuhause bleibt, hat nur etwa vier Tage Zeit, um auszuspannen, denn die Silvesterparty muss vorbereitet werden, und da ist bekanntlich die Hölle los. Man ist über die Feiertage nicht zum Nachdenken gekommen und verwandelt die Ergebnisse dieses Nicht-Nachdenkens an Silvester schnell in ein paar oberflächliche und austauschbare Neujahrs-Wünsche: Erfolg im Beruf, Erfolg in der Liebe, gesund bleiben, ein paar Pfunde abspecken. Den 1. Januar kennen wir fast ausschließlich in Form eines quälenden Alkoholentzugs. Mit leisem Grauen sehen wir das Ende der Winterpause und das feiertagslose Ödland von Januar und Februar herannahen. Wenn wir dann am 2. oder 7. Januar völlig unerholt wieder bei unserem Arbeitgeber einrücken, begrüßt dieser einen mit der Ankündigung, man müsse jetzt kraftvoll durchstarten, denn es sei vieles aufzuarbeiten, was über die Feiertage liegen geblieben ist.

Der Winter als Krankheit

Diese Beschreibung einer typischen „Schaden bringenden Weihnachtszeit“ ist vielleicht überzeichnet, aber nicht ganz unrealistisch. Betrachtet man die Ratgeberartikel, die über den Winter in diversen Fernseh-, Freizeit- und Fachzeitschriften veröffentlicht werden, so entsteht das Schreckensbild einer dramatischen, kollektiven Winterkrise. „So bekämpfen Sie Müdigkeit und Winterdepression“, „So bleiben Sie fit trotz eisiger Temperaturen“, „So kommen Sie ohne Stress über die Feiertage“, „So bleiben Sie gesund trotz Grippewelle“ und etwas später dann: „So werden Sie ihre überflüssigen Winterpfunde wieder los“ (als nächstes im Jahreszyklus folgt dann: „Der Kampf gegen die Frühjahrsmüdigkeit“). Angesichts eines solchen Schreckensszenarios wünscht man sich im Winter manchmal ein Igel zu sein. Der muss sich mit all diesen Problemen nicht herumschlagen.

Die Ratgeberliteratur hat verschiedene Wege aufgezeigt, um Müdigkeit und Traurigkeit in der dunklen Jahreszeit zu überwinden; es käme aber darauf an, diese einfach zu akzeptieren. Der Zwang, immer gesund und fit sein zu müssen, macht erst recht krank und müde. Krankheiten entstehen ja oft gerade deshalb, weil wir gern den „Krankheitsgewinn“ einheimsen möchten. Bei schwerer Grippe liegt dieser „Gewinn“ oft darin, dass wir endlich mal in Ruhe im Bett bleiben können, die Decke über den Kopf ziehen, Trost, Schonung und Fürsorge unserer Angehörigen auf uns ziehen. Vielleicht wollen wir sogar insgeheim endlich mal „abstoßend“ sein, niesen, husten und rotzen, damit uns unser lieben Mitmenschen nicht ständig auf die Pelle rücken. Wenn dies das heimliche Ziel ist: Ruhe haben, Abstand, Schonung, dann wäre es doch sinnvoll zu überlegen, wie dieses Ziel auch ohne Krankheit erreicht werden kann. Ich vermute, dass die gefürchteten „Grippewellen“ verebben würde, wenn wir endlich die Lektion der Dualität lernen würden.

Eine Maske unablässiger Tatkraft

Der Mensch lebt in einer dualen Welt, in der alles Leben zwischen zwei Polen schwingt: Hell und Dunkel, Warm und Kalt, Glücklich und Traurig, Kraftvoll und Müde, Extrovertiert und Introvertiert, Tag und Nacht, Sommer und Winter. Das Problem ist nun: Der hellere der beiden Pole ist weitaus beliebter, weshalb man den dunklen fleißig verdrängt. Es ist, als ob man nur energiegeladen, frohgemut und extrovertiert sein dürfte. So wird über die winterliche Melancholie ein Dauerlachen geschminkt. Man macht (z.B. an Silvester) die Nacht zum Tag und den Winter zum Sommer. Heizung und Elektrizität machen es leichter, Partystimmung und Hyperaktivität auch über die „stille Zeit“ hinweg aufrecht zu erhalten. Teilweise ist dies natürlich eine Folge des Leistungsdrucks, dem wir durch unser Berufsleben ausgesetzt sind. Am Arbeitsplatz lernen wir, eine Maske unablässiger Tatkraft und Alarmbereitschaft zu kultivieren. Wir können diese in den (kurzen) Ferienperioden nicht immer ganz ablegen. Zumal wir fürchten, die Liebe und Zuwendung unserer Mitmenschen zu verlieren, wenn wir uns mal zurückziehen oder missmutig und verschlossen wirken. Oder es ist einfach der berüchtigte „innere Antreiber“ am Werk.

Die erste „Therapie“ gegen Traurigkeit, Müdigkeit und das Bedürfnis, sich zurückzuziehen besteht in der Anerkennung der Tatsache, dass diese Phänomene existieren. Ich gehe noch weiter: Wir müssen diesen Gemütsstimmungen nicht nur als gegeben akzeptieren, wir müssen ihnen sogar zustimmen. Sie gehören zu unserem Wesen ebenso wie Euphorie, Tatkraft und das Gefühl, „Bäume ausreißen zu können“. So gesehen sind Weihnachtsfeier, „eilige Nacht“, Fressmarathon, Skipisten-Spaß und Silvester-Absturz nur ein riesengroßes Verdrängungsprogramm gegen das andrängende Dunkle. Man ist vor Feierlaune „außer sich“ und versäumt dadurch, was gerade in der dunklen Jahreszeit wichtig wäre: zu sich zu kommen.

Die geheimnisvollen Rauhnächte

Was wäre dem gegenüber aber ein gesundes Verhalten, um nicht nur über den Winter zu kommen, sondern sogar menschlich von ihm zu profitieren? Wir finden Hinweise darauf, wenn wir das traditionelle Brauchtum betrachten, das sich um die Wintersonnwende (21. Dezember) und die anschließenden „Rauhnächte“ (24. Dezember bis 6. Januar) rankt. Unsere Vorfahren waren der Überzeugung, dass es mit diesen 12 Nächten eine besondere Bewandtnis hatte. (Siehe dazu den Kasten „Bräuche zwischen den Jahren“.) Die Rauhnächte verlangten einen achtsamen Umgang mit der in dieser Zeit gesteigerten emotionalen Sensibilität und dem labilen Gleichgewicht der Energien. Richtiger Umgang damit konnte Glück bringen, Fehler konnten zu Unglück und Krankheit führen. Versuchen wir einmal, diese traditionellen Bräuche und Glaubensvorstellungen nicht von vornherein als „Aberglauben“ abzutun! Vielleicht verbirgt sich dahinter eine psychologische Wahrheit, die wir – in eine moderne Sprache übersetzt – für uns nutzen können.

– In der „Nacht des Jahres“ können wie in der Nacht des Tages verstärkt negative Träume, aber auch (im Wachzustand) quälende Gedanken auftauchen. Themen, die das Jahr über (tagsüber) nicht „erlöst“, sondern verdrängt wurden, treten in der dunklen Zeit als innere Dämonen in den Vordergrund. Wer sich mit seinen dunklen Seiten schon vor Anbruch des Winters (der Nacht) auseinandersetzt, braucht nicht zu befürchten, dass ihm das Unterbewusstsein einen Streich spielt, sobald die Kräfte der Aktivität und des Tagesbewusstseins nachlassen.

– Genauso wie der Mensch den Feierabend und das Wochenende braucht, brauchte er eine Art „Feierabend des Jahres“, der zumindest die Tage zwischen Weihnachten und Heiligdreikönige umfasst und in denen er eine möglichst absolute Ruhe einhalten sollte. Was er in diesen Tagen dennoch an übermäßiger Aktivität unternimmt, „bringt Unglück“, d.h. es fordert seinen Tribut in Form von halbherziger Arbeit und mäßigen Ergebnissen, von Erschöpfung und Depression, die sich spätestens im Januar und Februar bemerkbar machen. Im übertragenen Sinn sind Rauhnächte, in denen man ohne Rücksicht auf die Zeitqualität Hektik verbreitet, wie schlaflose Nächte. 2006 bin ich, nachdem ich „zwischen den Jahren“ viel Stress hatte, viele Feiern und eine kurze, anstrengende Reise absolviert hatte, im Januar prompt an einer hartnäckigen Grippe erkrankt.

„Rückzug oder Saturnalien“

Der Mythos von den ruhigen, sensiblen, empfänglichen und zum Rückzug einladenden Rauhnächten wurde schon seit Jahrhunderten von einem zweiten, gegenteiligen Mythos überlagert. Im römischen Reich feierte man z.B. die so genannten „Saturnalien“, große Fressgelage, zu welchem Anlass sich die öffentliche Moral stark lockerte – nicht unähnlich den „christlichen“ Betriebsweihnachtsfeiern und Silvesterfestivitäten. Auch bei den Kelten gab es in der betreffenden Zeit oft lärmende Feste statt Stille. Der Hintergrund war u.a. die Vorstellung, sich für die karge Winterzeit sozusagen auf Vorrat etwas „anfressen“ zu können. Man muss dazu sehen, dass sich unsere Vorfahren in einer ungleich schwierigeren Situation befanden wie wir. Die Kälte und das Zur-Neige-Gehen der Wintervorräte waren buchstäblich lebensbedrohlich. Heute sorgen gut sortierte Supermärkte und Zentralheizung auch im Winter meist bestens für uns. Aus diesen und anderen Gründen rate ich, bei der Gestaltung der Weihnachtspause eher dem Mythos von den ruhigen Rauhnächten, als jenem von den ausschweifenden Saturnalien zu folgen.

Die Beobachtung der Natur gibt uns wertvolle Hinweise darauf, was die Winterzeit von uns „verlangt“, wenn wir nicht gegen sondern im Einklang mit unserem gefühlten inneren Rhythmus arbeiten wollen. Der Winter ist eine scheinbar karge, reizarme Zeit, in der sich das Leben ins Verborgene zurückzieht und darauf wartet, später wieder zum Vorschein zu kommen. Menschen bleiben gern zu Hause und im Kreis der Familie, Tiere halten ihren Winterschlaf, Pflanzen existieren nur noch als Samen, unsichtbar und tief in der Erde vergraben. Sie existieren gleichsam nur noch als Potenzial, als Möglichkeit, später wieder zur Pflanze zu werden. Die Lebenskraft der Natur befindet sich also in einem Zustand der Latenz. Wenn wir demnach „mit der Energie“ gehen wollen, empfiehlt es sich, Aktivitäten zu meiden, die nach außen, in die materielle Realität hinein wirken sollen.

Wer dieser vorherrschenden Grundstimmung Rechnung tragen will, wird seine Energie (dem Igel ähnlich) auf Sparflamme brennen lassen und tief in sein Innenleben eintauchen. Er wird zu sich kommen und Pläne in Ruhe reifen lassen, um später, wenn der richtige Zeitpunkt da ist, die Früchte seiner Geduld ernten. Nicht der Winter oder Weihnachten selbst stellen also ein Problem dar; vielmehr ist es so, dass die meisten Menschen verlernt haben, den Erfordernissen dieser Zeit gerecht zu werden. Man kämpft gleichsam ständig gegen den Gegenwind der vorherrschenden Energie an und vergeudet dadurch Kräfte, die man lieber sammeln und für bessere Zeiten aufsparen sollte.

Sinn des Winter-Retreats

– Das Winter-Retreat, das ich vorschlagen möchte erfüllt also eine ganze Reihe von Funktionen gleichzeitig:

– Prävention gegen Winterdepression, Grippe und Burnout

– Regeneration der Lebenskraft, damit diese sich in der warmen Jahreszeit umso besser entfalten kann

– Ausklinken aus dem Trubel der Alltags- und Berufswelt. Reduktion der beständigen Verfügbarkeit

– Zu sich kommen, Auseinandersetzung mit sonst vernachlässigten Aspekten der eigenen Seele

– Zeit, um die Bilanz des alten Jahres zu ziehen und Projekte für das neue zu schmieden

Hinspüren auf Hinweise aus dem eigene Unter- (oder Über-)Bewusstsein mit dem Ziel, Orientierung für zukünftige „Taten“ zu finden.

Das Winter-Retreat sollte mindestens die Rauhnächte vom 24. Dezember bis 6. Januar umfassen, nach Möglichkeit sogar länger sein. Hier ein paar grundlegende Tipps zur Gestaltung des Retreats:

Vorbereitung:

– Oft empfohlen, aber selten realisiert: Weihnachtsgeschenke möglichst im November oder Anfang Dezember kaufen.

– Nehmen Sie möglichst keine unerledigten Aufgaben, keine belastenden Konflikte mit ins Retreat. Versuchen Sie vorher zu erledigen, was erledigt werden kann. Das gilt insbesondere auch für Beziehungen zu Personen, die Sie über Weihnachten treffen werden.

– Säubern Sie Ihre Wohnung möglichst vorher, kaufen Sie genug ein und besorgen Sie alle notwendigen Accessoirs (z.B. Kerzen).

– Sagen Sie möglichst vielen Menschen in Ihrem Umfeld, dass Sie dieses Retreat planen und warum Sie es planen. Wer viel Freude an Treffen mit Freunden hat, der kann sich dies durchaus gönnen (sofern es entspannend ist), ich empfehle aber, Termine sparsam zu vergeben. Hinterlassen Sie Abwesenheitsnachrichten auf Anrufbeantworter und im Email-Postfach.

Das Retreat selbst

– Machen Sie nach Möglichkeit schon vor Weihnachten ein paar Tage frei, damit Sie einigermaßen entspannt in die Feiertage gehen (vor allem, falls die Festvorbereitungen bei Ihnen liegt).

– Es ist gut, zu Beginn dieser Phase ein Fest (Weihnachten) zu feiern, das Ihr Bedürfnis nach den einfachen Freuden des Lebens (gut essen, trinken, Gemeinschaft, Geschenke bekommen) erst einmal stillt. Dadurch haben Sie in der kommenden stilleren Zeit nicht so sehr das Gefühl, etwas zu versäumen. Verpassen Sie aber nicht den Übergang in eine wirklich ruhigere, zurückgezogene Zeit und versuchen Sie die Intensität der Festivitäten zu dosieren.

– Verzichten Sie nach Möglichkeit auf große Silvesterpartys, da diese die schöne Energie, die ungefähr in der Mitte des Retreats aufkommen kann, stören und unterbrechen würden. Gönnen Sie sich das in unserer Kultur nahezu unbekannte Gefühl, am Neujahrsmorgen ohne Kater, voller Frische und mit einem guten Körpergefühl aufzuwachen.

– Nehmen Sie sich für die Tage des Retreats wenig, nach Möglichkeit nichts vor, damit kein „Handlungsdruck“ infolge eines vollen Terminkalenders entsteht. Ab und zu ein Ausflug ist o.k., es sollte aber darauf geachtet werden, dass dies stressfrei geschieht.

– Verlangsamen Sie insgesamt das Tempo bei allen Ihren Aktivitäten (z.B. Essen zubereiten und verzehren, Tee trinken, Gehen, Hausarbeiten …) und spüren Sie den körperlichen und psychischen Effekten dieser Verlangsamung nach. Versuchen Sie während der Aktivitäten gelegentlich Gedankenstille herzustellen und die Bewegungen und Sinneseindrücke dabei genau wahrzunehmen.

– Wählen Sie die Bücher, die Sie während des Retreats lesen, die Filme, die Sie ansehen, die CDs, die Sie hören, sorgfältig aus. Verstörende, gewaltträchtige oder zu stark stimulierende „Kulturerzeugnisse“ sind kontraproduktiv. Üben Sie Vertiefung und Geduld, Qualitäten, die im Internetzeitalter mehr und mehr verloren gehen. Lesen Sie z.B. während des Retreats lieber ein wirklich gutes und längeres Buch als 5 schlechte und kurze. Verzichten Sie nach Möglichkeit auf zerstreuende Aktivitäten wie „Surfen“ und „Zappen“.

– Schlafen Sie so lange Sie wollen und legen Sie auch tagsüber Ruhepausen ein, wenn Ihnen danach ist. (Man kann allerdings auch zu lange schlafen.)

– Nach chinesischer Ernährungslehre isst man in der kalten Zeit ausreichend, warm und eher schwer. Ausschließlich Salat und Obst erfüllen nicht die Bedürfnisse, die Sie gerade im Winter haben dürften. Gelegentlich einen heißen Punsch oder ein Glas Wein müssen Sie sich nicht unbedingt verkneifen. Dennoch ist es gut, Maß zu halten und sich in dieser sensitiven Phase nicht unnötig selbst zu vergiften.

– Gewöhnen Sie sich an eine Übungsroutine, je nachdem welche Körper-, Atem- oder Meditationsübungen Sie beherrschen (z.B. Yoga, Gymnastik, autogenes Training, Meditation in Stille, bewusstes, tiefes Atmen). Versuchen Sie diese Übungen täglich durchzuführen und ihren stärkenden bzw. beruhigenden Effekt zu genießen. Besonders empfehle ich auch den Saunabesuch, der zu einer tiefen Entspannung führt.

– Unternehmen Sie aufmerksame, meditative Spaziergänge. Das Motto sollte heißen: „Nicht gehen, um anzukommen, sondern gehen, um zu gehen“.

– Achten Sie auf Ihre Träume in der Nacht, auf Impulse, Eingebungen und Fantasien bei Tag. Notieren Sie wichtige Gedanken und Bilder, damit diese nicht verloren gehen. Wem dies liegt, der kann auch Tagebuch führen.

– Versuchen Sie in ruhigen Stunden eine Bilanz aus dem zu Ende gehenden Jahr zu ziehen und zugleich herauszufinden, was für Sie im kommenden Jahr wirklich wichtig ist.

– Wenn Sie religiös sind und um Führung im Neuen Jahr bitten möchten, ist dies eine gute Zeit dafür.

– Falls Sie Müdigkeit verspüren, versuchen Sie diese auf keinen Fall zu vertreiben. Geben Sie sich Ihrer Mattigkeit einfach hin und ruhen Sie aus. Wenn Traurigkeit oder negative Gedanken hochkommen, drängen Sie diese nicht weg, sondern gehen Sie ihnen auf den Grund. Nehmen Sie diese Gefühle als etwas hin, was einfach da sein darf. In vielen Fällen hat die Traurigkeit mit Krankheit nichts zu tun. Sie will einfach „durchwandert werden“, da sie im Alltag oft keinen Platz hat, sich zu entfalten und dem Menschen ihre spezielle „Botschaft“ zu überbringen.

– Ideal ist ein Retreat, das von zwei Gleichgesinnten (z.B. Mann und Frau) übereinstimmend geplant und durchgeführt wird. Beide können dann über das Erlebte reflektieren, sich gegenseitig stützen und beraten. Andererseits ist es besser, das Retreat nicht zu einem Debattierclub zu machen. Reden Sie eher weniger als im Alltag und planen Sie Zeiten des Schweigens und des Alleinseins ein.

– Falls Kinder im Haus sind, wird man von dem hier entworfenen „Idealprogramm“ Abstriche machen müssen. Beziehen Sie Kinder in Ihre Pläne mit ein, erklären Sie Ihnen den Sinn des Retreats und schließen Sie Kompromisse mit deren wahrscheinlich größerer Lebhaftigkeit.

– Falls Sie ganz allein in Ihrem Haushalt leben, empfehlen sich gelegentliche Anrufe, Besuche bei Freunden und andere Aktivitäten, die jedoch nicht in Stress ausarten sollten. Allein zu sein ist vielleicht die „reinste“ Form von Retreat, und besitzt daher ein großes Potenzial. Es muss aber so gut dosiert sein, dass krank machende Gefühle der Einsamkeit vermieden werden.

Nachbereitung

– Wenn es beruflich irgendwie möglich ist, lassen Sie den Alltag im Januar langsam angehen, damit der Wechsel in einen neuen, aktiveren Lebensmodus nicht „schockartig“ erfolgt. Versuchen Sie, falls sich Arbeitsbelastung nicht vermeiden lässt, wenigstens etwas von dem Geist des Retreats in den Januar hinüberzuretten. Wenn Sie bisher alles richtig gemacht haben, werden Kräfte und Aktivitätsschub von allein wieder kommen, ohne dass Sie diese forcieren müssen.

Mehr Tipps kann ich für Ihr persönliches Winter-Retreat nicht geben, da jeder seine eigenen Vorlieben und Bedürfnisse hat und meine Anregungen entsprechend variieren wird. Es sollte klar geworden sein, dass ich dieses Programm nicht entwickelt habe, um aus meinen Lesern und Leserinnen Mönche und Nonnen, Leisetreter und Stubenhocker zu machen. Im Gegenteil glaube ich, dass ein „richtig“ gelebter Winter die beste Voraussetzung dafür darstellt, dass wir die warme und heitere Jahreszeit später in vollen Zügen genießen können. Wer ein Winterretreat absolviert hat, startet optimal ins Neue Jahr, denn er hat Kräfte gesammelt, sich mit seiner inneren Führung verbunden und sich seinen Schattenzonen gestellt.

Er wird den Frühling mit derselben Frische und Lebendigkeit erleben wie unser Igel Murmel, der im März zwar abgemagert, aber putzmunter aus seinem Häuschen hervorlugte. In den folgenden Wochen fraß er von unserer Spezialmischung aus Igel-Trockenfutter und Katzenfutter wie ein Scheunendrescher, und im April konnten wir ihn schließlich ausgewachsen und in bestem Gesundheitszustand in die freie Natur entlassen. So können auch wir darauf vertrauen, dass der Winterschlaf der Seele zu gegebener Zeit sein Ende findet, dass die Kräfte, die während der Rauhnächte verborgen in uns geschlummert haben, bald nach Erprobung im praktischen Leben drängen werden.

 

 

 

 

 

 

 

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