Wirtschaftsfaktor Depression

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche

Traurigkeit wird zur Krankheit erklärt, um sie kostenpflichtig therapieren zu können. Auszug aus „Rette sich, wer kann!“ Traurig ist jeder mal. Sich dieses ganz natürliche Gefühl manchmal zuzugestehen und sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen, ist vernüftig und menschlich. Es ist aber für niemanden rentabel. Nennt man das Problem jedoch „Depression“, können mit Therapien und Medikamenten Profite gemacht werden. Dies verführt dazu, das einfache „Schlecht-drauf-Sein“ zu pathologisieren. Ob es dem Patienten damit besser geht, ist höchst fraglich. Wo liegt die Grenze zwischen Stimmungschwankungen und gefährlicher Krankheit – und wer bestimmt darüber? Sven Böttcher stellt endlich die richtigen Fragen und ermutigt uns, die Verantwortung für unsere Gesundheit zu übernehmen, anstatt Pillen einzuschmeißen.  Sven Böttcher

Dank alljährlich von den Kassen erstatteter 677 Millionen Schmerzmittel-Tagesdosen (rezeptfreie nicht mitgezählt) (1) gelingt uns die Abschaltung jedes körperlichen Alltagsschmerzes ganz vortrefflich. Aber dank unseres freien Zugriffs auf dieses beträchtliche Arsenal an Betäubungsmitteln haben wir nicht nur verlernt, auf unsere Körper zu hören, wir haben auch verlernt, mit Widerständen umzugehen und Krisen zu meistern.

Genau dies verursacht uns früher oder später ausgesprochen sonderbare, unerklärliche psychische Schmerzen, die wir Kummer nennen könnten, aber bevorzugt Depressionen nennen, weil man mit Kummer nicht so viel verdient. Nur wer sich klarmacht, was er selbst eigentlich meint, wenn er „Probleme“ und „Kummer“ hat, ist halbwegs gefeit gegen die allgegenwärtigen Auftritte der Stimmungsaufheller-Kanonen von Free-TV-Werbeblock bis Arztpraxis. Der folgende Text ist ein Auszug aus Sven Böttchers Buch „Rette sich, wer kann!“ ergänzt um einen antidepressiven Surf-Hinweis.

Habe ich Probleme? Natürlich. Hatte ich je keine Probleme? Ja. Am 6. September 1997 zwischen 10 und 10.30 Uhr. Aber um 10.31 Uhr fiel mir dann auf, dass mein vollkommenes, problemloses Glück so gar nicht bleiben würde, nicht bleiben konnte, schon deshalb, weil die Welt sich weiterdreht, und als mir auffiel, dass es aus meinem temporären Zustand des vollkommenen, problemlosen Glücks nur noch abwärts gehen konnte, hatte ich sofort ein echtes Problem, nämlich Zukunftssorgen und haufenweise Fragen auf dem Tisch:

Was musste, konnte, sollte ich tun, um alle gefährlichen Veränderungen dieses Zustands abzuwehren? Wie konnte ich dafür sorgen, dass meine temporär so wunderbar glückliche Tochter auch am nächsten Tag noch glücklich wäre? (Der Klassenmobber würde sich doch garantiert von seiner Grippe erholen, und was dann?) Wie konnte ich sicherstellen, dass niemand mir den Arbeitsplatz an der Sonne am nächsten Tag streitig machen würde? (Den Job wollten doch alle – und alle waren Raubtiere!) Und schon hatte ich wieder echte Probleme.

Gibt es irgendeinen Menschen, der keine hat? Angelina Jolie hat Probleme. Jeff Bezos hat Probleme, sogar der mächtigste Mann der Welt hat welche, offensichtlich. Es gibt gut aussehende, körperlich kerngesunde Millionenerben mit netter Frau und, selbstgewünscht, ohne Lasten und ohne Verantwortung für irgendwas, die derartige Probleme mit sich oder sonst etwas haben, sodass sie ihr ganzes Leben lang zwischen Flaschenhals und Suizid wohnen. Wer bettelarm ist, hat mehr Probleme, andere, echtere, fraglos. Aber niemand hat keine Probleme. Jeder: von Gesundheit bis Kontostand, von Job/kein Job bis Partner/kein Partner, von richtiger/falscher Handytarif bis Sinnfrage.

Das klingt nach einer Binsenweisheit, aber da wir Egozentriker sind und allesamt Hauptdarsteller in unserem eigenen Lebensfilm, machen wir uns oft nicht klar, dass wir uns unsere Probleme größtenteils aussuchen können. Wir haben das bereits in der Abteilung Schmerzen angedeutet, hier sei nur betont:

Die meisten unserer Probleme resultieren aus unserem Denken, Fühlen und Handeln. Und wenn unsere Probleme uns übermächtig oder unlösbar erscheinen oder unsere Gesundheit beeinträchtigen, brauchen wir andere. Solche, die besser zu uns passen, solche, die wir lösen können.

Klingt empörend? Redet hier wie ein Blinder von der Farbe – der Mann muss ja nicht mal arbeiten, darf stattdessen zu Hause bleiben und Bücher vollschreiben? Tun wir doch mal so, als wäre das folgende Beispiel erfunden:

Ein fleißiger, gut vernetzter Schlaukopf verschafft seinem prominenten Teilzeitarbeitergeber einen 48-Millionen-Vertrag beim Fernsehen, aber der danach entstehende Grabenkampf der in Scharen anreisenden Intriganten um die Plätze an der Sonne beziehungsweise dort, wo gar keine Sonne hinscheint, geht dem Mann auf die Nerven, buchstäblich. Es macht ihm sogar Pickel. Und es widert ihn an, denn er weiß, was er jetzt tun müsste und weiß auch, wie es geht: Will er sich und seinen Platz behaupten, muss er die anderen mit ihren eigenen Mitteln schlagen, muss sie ausmanövrieren und die gefährlichsten Psychopathen in von ihm selbst ausgelegte offene Messer laufen lassen.

Dies stellt also das echte Problem A dar, denn diese „Sachzwänge“ machen den Mann unglücklich und krank. Die damit verbundene Position bringt aber Geld (für die anspruchsvolle Frau und die Kinder), eine schöne Wohnung und einen gebrauchten Porsche sowie eine Putzfrau. Problem A lässt sich vergleichsweise einfach lösen, mittels Kündigung. Danach ist Mann gesünder, aber hierdurch entsteht Problem B: Mann verliert sein Einkommen und zeitnah seine Ersparnisse, das schöne Auto ist weg, die Frau auch, zu einem neuen Versorger, die eigenen Kinder rufen nicht mal mehr zu Weihnachten an und Mann selbst landet in einer Einzimmerwohnung oder im Zelt. Problem B ist ernst, Problem A auch. Aber niemand anders als man selbst entscheidet, welches Problem man haben möchte: welches man besser erträgt und besser lösen kann.

Wenn Menschen klagen, sie hätten Probleme, und man ihnen nahelegt, sie könnten diese Probleme doch aus der Welt schaffen, indem sie beispielsweise kündigen, sich scheiden lassen und/oder in eine Tonne ziehen, lautet die Antwort in der Regel:

„Es macht mich zwar krank, dass ich als gut bezahlter Drücker für die Pharmabranche arbeite und Leute umbringe, aber ich muss doch Geld verdienen, denn ich muss doch wohnen (gern schön), ich muss doch essen (gern gut), und ich will doch nicht, dass mein Partner mit jemand anderem abhaut und dass die Kinder nie wieder mit mir sprechen.“

Das „Muss“ in diesem Satz ist unrichtig. Das „Will“ bedeutet eine Entscheidung für ein Problem, nämlich den fiesen Vorgesetzten und/oder Partner, den man in Kauf nimmt, weil man Job und/oder Ehe trotzdem behalten möchte – und sei es, weil man nicht will, dass die eigenen Kinder einen nie wieder anrufen. Statt aber einzuräumen, dass man sich selbst für genau dieses eine Problem entschieden hat, behaupten die meisten, sie könnten nicht wählen. Das haben sie aber schon und tun es täglich wieder.

Jammernd behauptet wird hier also ein Zwang, eine Alternativlosigkeit, die de facto nicht vorliegt. Es stimmt zwar, dass ich immer Probleme haben werde, aber es stimmt so ganz und gar nicht, dass „Sachzwänge“ diese Probleme machen und ich darauf keinen Einfluss habe. Wir wählen unsere Probleme selbst. Im Fall oben wäre die selbst zu wählende Alternative:

„Ich lasse mich ab jetzt nicht mehr von meinem geistesgestörten Abteilungsleiter im Pharmakonzern schikanieren, sondern von Hartz-IV-Beamten, mein Partner haut mit den Kindern ab, zum Abendessen gibt’s nur noch Nudeln ohne alles, aber meiner Seele geht’s trotzdem besser, weil ich nämlich keine Leute mehr umbringe.“

Beide Probleme sind ernst. Welches gefällt mir besser? A oder B? Welches kann ich, mit etwas Glück, lösen? Und höre ich mir bei meiner täglichen Entscheidung überhaupt selbst richtig zu? Wer da sagt: „Ich werde dafür sorgen, dass meine Ehe funktioniert/mein Job/meine Kinder, und wenn ich dabei draufgehe!“, weiß zwar vielleicht nicht, was er riskiert, aber spricht es zumindest aus. Für die Lösung seines Problems setzt er sein Leben aufs Spiel. Das ist eine Entscheidung, das kann man so machen, aber es ist kein „Schicksal“, auf das man keinen Einfluss hat.

Die dahinterstehende Erkenntnis ist wohl wichtig: Leben bedeutet immer, für jeden Menschen, Probleme.

Leben bedeutet immer auch Leiden – nicht durchgehend, hoffentlich, aber immer wieder und mit zunehmendem Alter immer öfter. Daher ist meine Einschätzung, wie gravierend mein Problem ist, auch immer eine Folge meiner Erwartungen (siehe unten) und meines ganz persönlichen Wertesystems.

Denn Probleme, Schmerz und Leid ergeben sich auch daraus, was ich generell für erstrebenswert halte.

Bin ich diesbezüglich wenigstens halbwegs realistisch, vulgo: halbwegs klar im Kopf? Worauf kommt es an? Auf Genuss? Was bewerte ich als „gut“, was als „schlecht“, was als „Erfolg“, was als „Scheitern“? Meinen Kontostand? Auf welchem Konto: Commerz- oder Karmabank? Hatte ich, wenn ich am Ende zurückblicke, ein gutes Leben, wenn ich jedes Jahr pauschal in der Dom. Rep. war, oder hatte ich ein gutes Leben, wenn ich jedes Jahr die 2.500 Euro pauschal nach nebenan gespendet habe, nach Haiti?

Beide Ansichten sind zulässig – die Probleme, die sich aus diesen grundsätzlichen Ansichten ergeben, sind sehr verschieden. Welches Mindset mir ganz persönlich größere Probleme bereitet – und größeren Kummer –, entscheide ich selbst. Im Wissen, dass es kein Leben ohne Probleme gibt, keines ohne Leid, keines ohne Kummer.

Habe ich Kummer?

Ja, hoffentlich. Natürlich habe ich Kummer, mal mehr, mal weniger. Bin ich traurig, manchmal? Natürlich bin ich traurig. Wie krank, stumpf und empathiefrei muss man sein, wenn man nicht gelegentlich sehr traurig wird? Ob nun im Kleinen, weil ich meinen Job verliere oder meine Frau mich verlässt oder meine Kinder mich nicht leiden können oder wollen, oder grundsätzlicher, weil ich als Mensch groß bin in der Erkenntnis meiner eigenen Nichtigkeit? Weil mir meine eigene Endlichkeit schmerzhaft bewusst ist, meine Sterblichkeit, meine Zufälligkeit, meine Belanglosigkeit.

Wer dazu noch über ein Mindestmaß an Mitgefühl verfügt und wahrnimmt, wie unermesslich viel größer das Leid der anderen ist, derer, die nicht das Glück hatten, in Leverkusen geboren zu sein, kann doch gar nicht anders, als gelegentlich bekümmert zu sein.

Uns weiszumachen, Kummer und Traurigkeit seien das gleiche wie „Depressionen“ und daher krank und medikamentös behandlungsbedürftig, war eine wahre Meisterleistung des Krankensystems. Dabei können wir an dieser Stelle vernachlässigen, dass manche Antidepressiva bei 90 Prozent der Patienten nicht besser wirken als Placebos (2).

Wir können hier obendrein die schwere klinische Depression ausklammern sowie das in festem Halbwissen von jedermann geäußerte Argument, diese sei ein rein biochemischer Vorgang und gar nicht anders zu therapieren als mit Psychopharmaka, denn entscheidend ist: Kummer, Traurigkeit und seelische Erschütterungen sind eben keine Depressionen, sondern normal und absolut zulässig, und gegen die Ursachen von Kummer helfen eben keine Pillen. Denn Antidepressiva stellen das der Traurigkeit oder dem Kummer zugrundeliegende Problem nicht ab. Sie machen weder verstorbene Angehörige wieder lebendig, noch verbessern sie das Herbstwetter.

Unsere Ärzte, die natürlich nichts anderes im Sinn haben, als unseren Schmerz zu lindern, gehen mit unserer ganzen Traurigkeit und unserem Kummer indes ebenso pragmatisch um wie mit unseren körperlichen Schmerzen, schließlich kann man das alles abschalten, niemand muss all dies ertragen.

Mein diesbezüglicher Favorit unter all den Neurologen, die von Rebif (3) über Tysabri (4) und Lyrica (5) bis Vigil (6) hartnäckig versuchten, mich in eine Einbahnstraßenkarriere als Junkie zu quatschen, war der Arzt, den ich ein Jahr nach meiner Selbstreparatur aufsuchte, um mir von ihm bestätigen zu lassen, dass ich meinen EDSS-Score entgegen seiner festen Erwartung und entgegen seiner Chemieempfehlungen wieder zurückgeschoben hatte: von 5,5 (25 Prozent Sehen, keine Balance, keine 100 Meter Gehstrecke) auf 1,0 (110 Prozent Sehen mit Kontaktlinsen, Kribbeln im rechten Fuß, Anreise zum Termin auf dem Motorrad, nach vorherigem langen Spaziergang).

Für den Experten war dieses Gespräch schwierig. Nicht nur, weil inzwischen ein paar Unglückliche an Tysabri gestorben waren, dem Medikament, das er mir so dringend empfohlen hatte. Wegen seiner damaligen leutseligen Verschreibung von Lyrica („Lesen Sie lieber nicht die Packungsbeilage“) hatten wir uns bereits respektvoll geeinigt („Lassen Sie unsere Meinungen als Freunde auseinandergehen“), aber nun saß ich ja obendrein recht heil vor ihm, mit meinem Helm auf dem Tisch, und forderte ausgerechnet ihn auf, mir etwas zu bestätigen, was er strikt ausgeschlossen hatte: dass Besserung bei einer klinisch gesicherten, mehrere Jahre extrem fies verlaufenden MS möglich war. Erhebliche Besserung. Das musste er einräumen. Und befunden. Und attestieren.

Aber nachdem wir das geklärt hatten, präsentierte er sich als echter Mensch, als mitfühlender Mitmensch. Gratulierte mir, lobte mich, sah mir in die Augen und nickte, als habe er dort die ganze Wahrheit gelesen. Ich sei tapfer. Ich habe das toll gemacht, bis hierher, aber natürlich mache ein Schicksal wie meines, mit dieser unheilbaren Krankheit, die jeden Tag wieder brutal zuschlagen und endgültig alles zerstören kann, einen tief in der Seele sehr traurig. Das sei ganz normal. Dazu solle ich ruhig stehen. Es nicht verleugnen.

Die meisten seiner Patienten nickten wohl an dieser Stelle. Vielleicht brachen sie auch in Tränen aus. Ich tat beides nicht, sondern sah ihn bloß fragend an, weil ich das Gefühl hatte, endgültig im falschen Kino gelandet zu sein. Worauf er aus dem Fenster sah, in den wolkigen Himmel, wieder mich ansah und fragte: „Kommt Ihnen der November dieses Jahr nicht grauer vor als sonst?“ (An dieser Stelle sei mit Nachdruck zur sofortigen Vertiefung und Lektüre empfohlen Peter und Mahinda Ansaris Infoseite „Depression-heute“, insbesondere die Abteilung „Irrtümer“ (7). Das hier gesammelte De-Bunking ist hervorragend auf den Punkt gearbeitet und stellt eine wirksame Impfung für den Erstkontakt mit Antidepressiva-Drückern dar.)

Ich selbst musste über die suggestive Novemberfrage des scheinbaren Empathikers indes nicht lange nachdenken, sagte: „Nö!“, erklärte ihm dann aber auch noch ungefragt, weshalb er recht hatte mit seiner Einschätzung, ich sei nicht total und vollständig happy:

„Ich bin pleite. Und müde. Und kaputt, weil mich wegen meiner MS circa zehn Jahre Lebenszeit verloren habe und die meisten meiner Freunde und Arbeitgeber, ich aber immer noch fünf Leute allein ernähren muss. Aber ich bin froh und dankbar über jeden Tag, an dem ich lebend aufwache, denn jeder Tag ist ein Geschenk.“

Worauf er seine Schublade öffnete, nickend, und mir zwei Probepackungen eines Antidepressivums schenkte, mit den Worten, das werde mir sicher helfen. Ich fragte ihn, ob denn „das“ tatsächlich mir meine Jobs und meine Freunde zurückbringen werde, mein Konto mit genug Geld für all meine Kinder füllte und mich wieder ganz gesund machen würde. Er lachte ein bisschen, ich auch, ich nahm seine Pillen mit und gab sie zur Entsorgung in der nächsten Apotheke ab, und wir sahen uns nie wieder.

So ganz allein bin ich offenbar nicht mit dieser Art des Verkäuferkontakts. Kritiker der Antidepressiva-Verschreibungspraxis gehen davon aus, dass „bei mindestens 50 Prozent der Diagnosen (…) seelische Erschütterungen fälschlich als depressive Verstimmungen diagnostiziert“ werden (8), aber das lässt sich wohl schwerlich allein den behandelnden Ärzten ankreiden, denn die traurigen Patienten werden ja nicht zur Einnahme der Ersatzglücksdrogen gezwungen.

So liegt denn wohl eine stille Übereinkunft zwischen Behandler und Patient vor, dass Traurigkeit schlicht nicht opportun ist, wenngleich gelegentlich begründet. Und wenn sich in Krisensituationen das positive Denken und Mir-geht’s-gut-Dauergrinsen nicht grundlos von selbst einstellt, provoziert man es eben mittels Chemie. Denn tatsächlich ist für die zutiefst menschlichen Empfindungen Traurigkeit und Kummer in unserer durchoptimierten Welt im Grunde kein Platz mehr.

Kummer bringt einem keine „Likes“. Kummer verlangsamt. Seelisch Erschütterte benötigen unsere Aufmerksamkeit, aber Aufmerksamkeit ist Zeit, und Zeit ist Geld. Kummer rechnet sich nicht, Kummer ist nicht ökonomisch.

Unsere stillschweigende Orientierung an unseren fähigen Helfern, unseren intelligenten Maschinen, wird uns spätestens hier, im Kummer, zum Verhängnis. Maschinen haben keinen Kummer. Maschinen sind entweder heil und rund um die Uhr leistungsfähig, oder sie sind kaputt und können weg. Und Maschinen sind garantiert nicht traurig, weil sie das mulmige Gefühl haben, dass ihnen der Zusammenhalt mit all den anderen Maschinen verloren geht oder sie spüren, dass sie in der Matrix hängen, isoliert von allen anderen – und zunehmend von sich selbst. Das bedeutet aber nicht, dass die Maschine Gefühle generell nicht wünscht. Im Gegenteil: Sie verhilft uns zu jedem Gefühl, das uns schneller und leistungsfähiger macht. Nur die bremsenden Gefühle, die schalten wir doch bitte ab.

Tatsächlich entscheidet sich in diesem mit Chemiewaffen geführten Feldzug gegen unseren Kummer weit mehr als nur das reibungslose Funktionieren des Systems. Auch wenn es nur allzu menschlich ist, dass wir Kummer und Traurigkeit nicht mögen und gern vermeiden möchten, fragt sich doch, was eigentlich von uns bleibt, wenn wir diese Traurigkeit ganz ausschalten. Denn wir unterscheiden uns nicht allein dadurch von unseren Maschinen, dass wir den Großteil unserer Energie auf sinnlose Dinge wie Atmen und Stoffwechsel verschwenden, wir unterscheiden uns von unseren Maschinen wie wohl auch von fast allen anderen Lebensformen, die unseren Planeten bevölkern, durch eben jene Fähigkeit zum Kummer.

Keine Maschine weiß, dass sie sterben wird. Auch Käfer, Quallen, Eichhörnchen und Rosenstöcke scheinen dies nicht zu wissen – oder jedenfalls nicht sonderlich bekümmert zu sein, dass sie irgendwann gehen müssen. Wir aber können genau das wissen – und darüber bekümmert sein.

Aus dieser Fähigkeit erwächst alles, was menschlich ist: Wir können uns die Zukunft vorstellen, wir können über unsere eigene Existenz hinausblicken. Nur ist diese einmalige Fähigkeit eben ein zweischneidiges Schwert. Sie befähigt uns zu Erkenntnissen, die Quallen und Rosen nicht gewinnen können, sie lässt uns die Welt gestalten und befähigt uns, den uns von der Natur zugewiesenen Platz mittels Erfindungen von Feuer bis Smartphone zu verlassen. Aber der Preis für dieses unerhörte, einmalige Geschenk des Kosmos ist eben die Erkenntnis unserer eigenen Endlichkeit – und unser gelegentlicher Kummer darüber, dass wir wie alle, die wir lieben, sterben müssen.

Es steht wohl zu befürchten, dass wir es schaffen werden, diese unerfreuliche Seite des Menschseins abzuschalten. Die andere Seite verlieren wir dann allerdings auch und hätten so, wenn endlich 10 Prozent von uns gefühllose Maschinen geworden sind und der Rest stumpfe Eichhörnchen, die lediglich Nüsse sammeln und sich fortpflanzen, ohne sich je zu fragen: „Wozu?“, die uns exklusiv geschenkte Erkenntnisfähigkeit tatsächlich nur eingesetzt, um final den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.

Versetzt man sich in die Lage einer imaginierten höheren Instanz und betrachtet den Vorgang mit etwas Abstand, ist diese Selbstzerstörung tatsächlich kosmische Comedy, aber für uns, die wir mittendrin sitzen, durchaus betrüblich. Dennoch sollte uns das nicht veranlassen, zu einem Antidepressivum zu greifen.

Lassen wir uns unsere Fähigkeit zur Melancholie nicht nehmen. Sie ist Voraussetzung für unser Glück.

 

Sven Böttcher: Rette sich, wer kann. Das Krankensystem meiden und gesund bleiben, Taschenbuch 1. Februar 2019, Westendverlag.

 

Quellen und Anmerkungen:

(1) „Der Verbrauch von Schmerzmitteln, die von der GKV erstattet wurden, ist seit 2005 fast in jedem Jahr gestiegen. 2016 lag er bei 677 Mio. Tagesdosen. Dazu kommt der Verbrauch der zur Indikationsgruppe der entzündungshemmenden Mittel und Mittel gegen Rheuma (M01) gehörenden Schmerzmittel. In der Indikationsgruppe der Schmerzmittel (Analgetika) dominieren die Opiate: Auf sie entfielen 2016 fast 62 % des Verbrauchs (gemessen in definierten Tagesdosen) und knapp 78 % der Ausgaben. Die Ausgaben für die Indikationsgruppe insgesamt erreichten 2016 rund 1,4 Mrd. Euro. Das waren 2,5 % mehr als 2015.“ (Vgl. IGES Institut, 14. September 2017, http://www.arzneimittel-atlas.de/arzneimittel/n02-analgetika.
(2) Vgl. Stefan Schleim, „Bei 90 % wirken Antidepressiva nicht besser als Placebo“, Telepolis, 29. März 2018, https://www.heise.de/tp/features/Bei-rund-90-wirken-Antidepressiva-nicht-besser-als-Placebo-4005704.html?seite=all.
(3) https://www.onmeda.de/Medikament/Rebif+22+Mikrogramm%7C+-+44+Mikrogramm–nebenwirkungen+wechselwirkungen.html.
(4) https://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/Archiv/2016/20160311.pdf.
(5) https://www.patienteninfo-service.de/a-z-liste/l/lyricaR-25-mg-50-mg-75-mg-100-mg-150-mg-200-mg-225-mg-300-mg-hartkapseln.
(6) https://www.onmeda.de/Medikament/Vigil+100mg+Tabletten–nebenwirkungen+wechselwirkungen.html.
(7) https://www.depression-heute.de/falschaussagen/falsche-behauptungen.
(8) Vgl. Gerd Reuther; Der betrogene Patient, Riva 2017, S. 198.

 

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

 

 

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