Wolf Schneider: Zum Ukrainekrieg

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik, Spiritualität

Muss man nicht, bevor man irgendwas anderes sagt, zuerst den “Angriffskrieg Putins” verurteilen? So sagen die “Normalen”. Darf man gegen Putin überhaupt was sagen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, NATO-Propaganda nachzuplappern? So sagen die von “Alternativmedien” Beeinflussten. Es ist mittlerweile schwierig geworden, sich im Correctness-Dschungel zurechtzufinden. Weist man vorsichtig darauf hin, dass der Russland-Ukraine-Krieg nicht der erste der Weltgeschichte ist und Putin auch nicht der einzige Politiker ist, auf dessen Befehl Menschen getötet wurden, erhebt sich sofort der Vorwurf des “Whataboutism”. Der Autor behandelt diese schwierige Fragen auf der Basis humaner Werte, der Friedensliebe und eines übernationalen Universalismus. Die Verbrechen des einen zu benennen, “relativiert” nicht die Verbrechen des anderern. Wolf Schneider, connection

Meine Gedanken zum Thema Ukrainekrieg möchte ich mit einem Zitat von Rilke beginnen.

»Der erscheint mir als der Größte, der zu keiner Fahne schwört, und weil er vom Teil sich löste, nun der ganzen Welt gehört.«

Das beantwortet nicht, welche Entscheidungen friedenswillige Menschen im Einzelfall treffen sollten. Es weist jedoch auf den geistigen Hintergrund hin, der mir für Konfliktlösungen als hilfreich erscheint. Vielleicht ist er dafür sogar unentbehrlich. Ich meine, dass ein transnarratives Bewusstsein nötig ist, um Frieden zu schaffen, und zwar nicht nur im Falle des Ukrainekriegs, sondern bei allen Konflikten, privaten wie politischen.

Polizei statt Militär

Doch nochmal zurück ins Diesseitige, zu den Teilen des Ganzen und den Parteien, in welche die Welt aufgeteilt ist. Strukturen, welche uns acht Milliarden Erdbewohner in überschaubare Einheiten gliedern, sind nötig und sinnvoll. Wenn wir die aus machtpolitischen Gründen bisher entstandenen Strukturen jedoch als sakrosankt betrachten, sind wir jedoch nicht mehr friedensfähig. Dann neigen wir dazu, sie mit nicht endenden Aufrüstungsprogrammen zu verteidigen.

Stattdessen sollten wir auf friedliche Weise Strukturen schaffen, die uns Erdbewohnern guttun. Das Gewaltmonopol einer gerechten und nicht korrupten Struktur – das Ideal einer Polizei – würde dabei helfen. Militär ist nur ein Mittel, das Recht des Stärkeren durchzusetzen. Alles Militär sollte abgeschafft werden, meine ich. Wo sind die Parteien, die sich dafür einsetzen?

What about Irak?

Was ich in den folgenden Absätzen mache, wird Whataboutism genannt. Es ist jedoch ein berechtigter Vergleich. Ihn Whataboutism zu nennen ist eine Ausrede, um ethische Argumente nicht gelten zu lassen.

Der Vergleich, den ich hier mache, entschuldigt Putin nicht. Obwohl das selbstverständlich sein sollte, muss ich diese Verbeugung vor dem bellizistischen Westen leider machen. Für die, welche dabei immer noch auf dem Schlauch stehen, folgende abstrakte Argumentation: Wenn eine Person A eine Person B ermordet und ich diesen Mord mit dem von Person C an Person D vergleiche, dann führt dieser Vergleich keineswegs dazu, dass ich A entschuldige. Alles klar? Wer nicht nur über Mörder richten will – das ist wichtig – sondern auch künftige Morde verhindern will, muss solche Vergleiche anstellen.

David Goeßmann vergleicht auf telepolis.com den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine mit dem der USA 2003 auf den Irak. Er verwendet dabei auch Zahlen: Im Irakkrieg wurden ca. 600.000 irakische Zivilisten getötet, schreibt er. Andere Schätzungen (so z.B in der Washington Times) sprechen von 300.000 direct war related deaths. Zu den Folgen dieses völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, der mit einer Lüge begann, gehört das Erstarken des IS bis weit nach Syrien und Nordafrika hinein, begleitet von Terroraktionen in der ganzen Welt. Auf einmal war »die islamische Gefahr« weltweit das Thema Nummer eins und führte zu Angstreaktionen auch in Deutschland gegenüber des Islamismus verdächtigten friedlichen Migranten.

Es ist sicherlich schwer, für Saddam Hussein Sympathien zu entwickeln. Das sollte uns jedoch nicht davon abhalten, ein Kriegsverbrechen wie den Angriffskrieg der USA gegen den Irak (März bis Mai 2003) auch so zu benennen und sich nicht mit ethischen Beschönigungen rauszureden: Dort waren es die Guten, die Demokraten, die diesen furchtbaren Krieg führten, im Falle der Ukraine führt ihn ein Diktator wie Putin.

Und was die Frage »Befreiung vom Diktator« anbelangt: Laut verlässlicher Meinungsumfragen betrachteten die Iraker die ihr Land besetzenden Amerikaner nicht als Befreier, sondern zu 97 % als unerwünschte ausländische Besatzungsmacht.

In George W. Bush scheint der Vergleich Irak/Ukraine zumindest unterbewusst zu rumoren. Im Mai 2022 entschlüpfte ihm bei einer Audienz in seiner Bibliothek in Texas ein Freudscher Versprecher, berichtete die Washington Post am 17.2.23: »There are Freudian slips and there’s what former president George W. Bush said during a speech last May. Speaking to an audience in his presidential library in Texas, Bush condemned Russian President Vladimir Putin for launching a full-scale invasion of his country’s neighbor, Ukraine. But Bush then made a rather profound gaffe, publicly bemoaning “the decision of one man to launch a wholly unjustified and brutal invasion of Iraq.«

Groß und klein, Täter und Opfer

David gegen Goliath, kämpft hier die kleine Ukraine gegen das große Russland? Goeßmann verweist in seinem Text auch auf den Täter/Opfer-Größenvergleich, der im Falle des Irakkrieges viel krasser ist als im Falle von Russland gegen die Ukraine. Im März 2003 griff die größte Militärmacht der Erde völkerrechtswidrig das schwache Drittweltland Irak an. Russland hat zwar viel mehr Soldaten als die Ukraine, da die Ukraine aber von der NATO unterstützt wird, steht Russland dort der Goliath der größten Militärallianz der Welt gegenüber.

Hierzu passen auch die Gedanken der Chefredakteurin des deutschen Philosophie-Magazins, Svenja Flaßpöhler zur Frage de Täter-Opfer-Umkehr im Falle des Ukrainekrieges. Wenn der Aggressor Russland durch die NATO-Osterweiterung provoziert gewesen sein sollte, würde ihn das zum Opfer dieser Provokation machen, obwohl er doch als Aggressor der eigentliche Täter ist?

Ursache > Wirkung

Zum Schluss noch eine Aussage von John Mearsheimer aus Chicago, einem weltweit anerkannten langjährigen Experten der Großmachtkonflikte. Er wird als »der einflussreichste Realist« (!) seiner Generation beschrieben. Im folgenden 8 min Video behauptet er, die USA seien der Verursacher des Ukrainekrieges. Russland würde gewinnen, und die Ukraine würde dabei zerstört. Da unsere Medien trotz Mearsheimers Renommee solche Meinungen kaum zu Wort kommen lassen, weise ich hier auf ihn hin.

Ich persönlich finde seine Sicht klug und bedenkenswert, wenn auch etwas einseitigen Großmachtrealismus. Er argumentiert so, als wären andere Kräfte als der Wille zur Macht, etwa geistige, kulturelle, ethische, so gut wie irrelevant. Ich kannte ihn bisher nicht. In der englischen Wikipedia finde ich unter seinem Namen viele weitere kluge Positionen von ihm zur internationalen Politik. Auch die deutsche Wikipedia hat zu ihm einen Eintrag. Was mir auch bei ihm fehlt, ist ein Plan zur Überwindung der de facto Anarchie zwischen den Staaten der Welt.

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