Wortmusik und Erschrecken zugleich

 In Buchtipp, FEATURED, Kultur, Politik

Holdger Plattas Gedichte über eine Kindheit zwischen Hitlers Schatten und Huck Finn. Holdger Plattas Gedichtesammlung “Ruhmesblätter mit Linsengerichten” hat die Aufmerksamkeit und Bewunderung vieler kompetenter und einfühlsamer Leser auf sich gezogen. Gerade die etwas älteren finden darin eigene Erfahrungen mit der Nachkriegszeit und mit einer traumatisierten Elterngeneration wieder. Auch Volker Töbel, Kassenwart und Vorstandsmitglied des Vereins “Initiative für eine humane Welt”, las das Werk mit großem Gewinn. Hier beschreibt er seine Eindrücke und hebt besonders auch die klangliche, schon “musikalisch” zu nennende Qualität der Gedichte hervor. Volker Töbel

 

Ich will es nicht verheimlichen: Ich kenne Holdger Platta, der in den letzten Jahren mein guter Freund geworden ist, aber ich versichere, dass ich kein Wort, keinen Satz anders formulieren würde, wenn ich den Autor dieser wunderbaren Gedichte nicht kennte. Dennoch: Diese Rezension ist ein sehr persönlicher Text, meine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dieser Lyrik.

Schon einige Monate vor der Veröffentlichung dieser Erzählgedichte hat mir Holdger sie zugeschickt; ich war sehr berührt von ihnen und habe ihm das auch gesagt. Er fragte mich dann, weil er wusste, dass ich gelegentlich Lieder schreibe, ob ich nicht das eine oder andere seiner Gedichte mal vertonen könne. Ich antwortete spontan: „Das geht nicht, kann ich nicht, weil deine Gedichte ja selbst schon Musik sind!“ Und dies ist bis heute meine unmittelbare, zentrale Reaktion geblieben.

Holdger Platta erzählt mit einem genauen Gespür für Klang, Rhythmus, ja, Musik von den schrecklichsten, aber auch den schönsten Dingen des Lebens, ohne dabei auf die herkömmlichen Stilmittel wie Reime oder bestimmte Versformen zurückzugreifen, ohne ins Leiern zu geraten, ohne immer denselben Rhythmus zu bemühen; sein Erzählen passt sich den Inhalten auf ganz unangestrengte Art an. Dadurch erhalten seine Gedichte eine eigentümliche Schönheit, ohne bei den schönen, angenehmen Erinnerungen ins Kitschige abzudriften oder die finsteren zusätzlich zu dramatisieren.

Das erste Gedicht, das er mir schickte, ist das letzte der vorliegenden Sammlung: Ein schöner Augusttag. Es beschwört nicht, wie die meisten anderen Gedichte, die fünfziger, sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit ihrem Gestank nach Muff und verdruckstem schlechten Gewissen wegen der Untaten, die von den Generationen von Holdger Plattas (und meinen) Eltern und Großeltern begangen worden sind, greift aber das große, von Brecht im Begriff des noch fruchtbaren Schoßes bleibend festgehaltene Thema auf, indem er erzählt, wie im Sommeridyll einer Ostseeinsel ein Obdachloser gemeuchelt wird, woraufhin weißgeschnürte Schuhe davon stolpern. Es sind die Springerstiefel derer, die heute diesen
Schoß weiter fruchtbar halten, indem sie auf Wehrlose, Arme, Berber, Sinti, Flüchtlinge einprügeln und dabei von den politisch Verantwortlichen viel zu wenig gehindert werden!

Ich durfte dieses Gedicht einmal bei der Lesung einer Krimiautorin vorstellen: Beate Baum: Dresden rechts unten, auf dessen Buchdeckel die genannten Springerstiefel zu sehen sind. Und die Reaktion des Publikums war eindeutig, der Beifall zustimmend und begeistert.

Ich habe dann doch eins seiner Gedichte vertont: Eine kleine Liebesgeschichte, er selbst sagt, es stamme „aus seiner B-Produktion“. Und weil es so kurz ist und einen weiteren Blick auf Holdger Plattas Texte ermöglicht, zitiere ich es hier kurz:

 

Dürstend nach dem Menschenblut

sirrt eine Mücke voller Glut.
Doch denkt der Mensch: Was soll der Quatsch

und seine Hand macht einfach Patsch.

Ja, wieder mal erglühte Liebe

nur einerseits im Weltgetriebe.

So klingt also, wie gesagt, Holdger Plattas „B-Produktion“!

Holdger Platta hat diese Gedichtsammlung in drei Teile gegliedert:

 

1. Kutschfahrten, letzte Gespräche, in einem eisigen Land. Vor den Geschichten

In den sechs Gedichten dieses Abschnitts wird die Zeit zwischen den Weltkriegen, vielleicht sogar noch weiter zurück, erinnert. Dass es Erinnerungsbilder sind, verweist darauf, dass Plattas Gedichte in radikal persönlicher Sicht vorgetragen werden, die die Erinnerungen des Kindes mit dem Wissen des Erwachsenen verschmelzen lassen. Der zweite Teil ist noch stärker von den Erinnerungsbildern des Kindes und Heranwachsenden geprägt:

2. Armut, ostpreußische Tränen, ein Junge, der fast nichts begreift. Die Geschichten, die zu erzählen sind

Hier erzählen 24 Gedichte von den Erfahrungen der Flucht, den Fremdheitsgefühlen in der neuen, westlichen Gesellschaft, dem Verdrängen der faschistischen Verbrechen, der schwarzen Pädagogik der fünfziger Jahre, von Not, karger Versorgung, Angst, die sich von den Eltern und Großeltern auf die Kinder überträgt. Als Geschichten, Geschichts- Erzählungen wären diese Inhalte schwer auszuhalten, aber sie sind zu Kunst geformt und dadurch können sie „gefallen“, ohne ihre Schrecken zu verlieren. Besonders eindringlich wirkt auf mich in vielen dieser Gedichte, wie hier Gegensätzliches vor uns aufscheint, das auch von einem sensitiven, intelligenten Kind kaum verstanden werden kann, wie etwa in dem Gedicht

Als ein Knabe aus einem düsteren Haus floh.

Weihnachten, Erwachsene wünschen sich ein frohes Fest, sogar mit einer Flasche Rotwein, und dann heißt es:

Der Großvater aber las eine Geschichte inmitten der Wärme,
inmitten des Lichts unter der Lampe am flackernden Kamin,
von einem Knaben, der in der Nacht aus dem Haus floh,
weil es Väter gibt, die nur aus Prügeln bestehen.

Diese Erinnerung an einen prügelnden Vater ist auch meine, und sie einigermaßen zu bearbeiten, hat mich viele Therapiestunden gekostet.

Im letzten Teil

3. Fallende Blätter, ein Praxisschild, kein Stein. Nach den Geschichten

kommt Holdger Platta auf die Jahre nach seiner Kindheit und Jugend zu sprechen, zum Beispiel mit dem oben besprochenen Ein schöner Augusttag.

Zum Abschluss dieser Besprechung möchte ich aber noch einmal auf ein Gedicht aus dem zweiten Teil zurückkommen: Poesieblatt aus der Pubertät. Es ist mein Lieblingsgedicht in dieser Sammlung.

Auch hier wieder dieser Kontrast: argwöhnische Greise, versteinerte Väter, und dann das Glück einer ersten Liebe, das Suchen des anderen Körpers, das Erkunden, die Seligkeit der ersten sexuellen Begegnung, und das alles ganz zart dargestellt, ganz ohne Machismo, nur Schönheit und Seligkeit, und so ging es mir beim ersten Lesen, dass sich in mein Erstaunen über dieses wunderbare Gedicht ein Bedauern mischte über die vage Andeutung im letzten Vers, dass es so nicht bleiben konnte:


. . .Und sie radelten

und radelten, die Gedanken flogen mit ihnen, als gäbe es kein  Ende des Wegs,
alles ganz blau, und sie verwechselten Zukunft tatsächlich mit Seligkeit.

 

Holdger Platta:
Ruhmesblatt mit Linsengericht. Erzählgedichte. Pop Verlag. 82 Seiten. Euro 12,80

 

 

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