Yanis Varoufakis und das Denkmal des unbekannten Aktivisten der Pariser Sektionen

 In Politik (Ausland), Prinz Chaos II.

Sturm auf die Bastille, 1789

Prinz Chaos II. beschäftigt sich in dieser anarchischen Thronrede mit Potenzialen und Grenzen des linken Denkers Yanis Varoufakis, gerade zurückgetretener Finanzminister Griechenlands und Gottseibeiuns aller kapitalismusfrommen EU-Politiker. Er erinnert an das Volk als eigentliches Subjekt der Geschichte, wie es sich während der Französischen Revolution gezeigt hat. Könnte dergleichen wieder geschehen? (Quelle: Webseite von Prinz Chaos II.)

Yanis Varoufakis ist zurückgetreten, um zu bleiben. Seit seinem Rücktritt hat er sich in einer ganzen Reihe von Artikeln und Interviews artikuliert. Das ist eine gute Nachricht. Varoufakis ist ein Intellektueller mit Niveau – sowas kennen wir in Deutschland gar nicht mehr. Er ist ausgestattet mit großer theoretischer Ernsthaftigkeit, mit einem redlichen Charakter und globaler medialer Reichweite (beispielweise über 500.000 Follower auf Twitter). Seine Stimme wird gebraucht. Es ist gut, dass sie nicht verstummt ist.

Alles weitere wird sich zeigen – vor allem an seinem Abstimmungsverhalten im Parlament und an seinem Umgang mit der unzweifelhaft kommenden Spaltung von Syriza. Die entscheidende Grenze im Denkens von Yanis Varoufakis aber hat sich bereits gezeigt.

(Wenn ich diese Grenze nunmehr beschreibe und kritisiere, so tue ich das nicht in einer herunterreisserischen Stimmungslage, als Vorwurf oder Verdammungsurteil, sondern als Beitrag zu einer Debatte unter Genossen. Ein Hinweis, der nur deshalb nötig scheint, weil eine solidarische, aber schonungslos ehrliche Debattenkultur erst wieder entwickelt werden muss.)

– – –

Vor einigen Monaten fiel mir ein Buch in die Hände. Und zwar entdeckte ich es direkt vor mir, im Regal über meinem Schreibtisch. Ich habe keine Ahnung mehr, woher ich es habe. Es war Band zwei der „Geschichte der Großen Französischen Revolution (1789 – 1794)“. Autor ist der russische Anarchist Peter Kropotkin.

Dieses Buch könnte auch betitelt sein: „Das Volk in der Französischen Revolution“ oder auch: „Die Rolle des unbekannten Aktivisten in der Französischen Revolution“. Denn im Zentrum der Darstellung welthistorischer Ereignisse, die einer ständigen Achterbahnfahrt gleichen, stehen bei Kropotkin nicht die großen, legendären Namen, die VIPs der Revolution, kein Danton und kein Marat, kein Robespierre und kein Brissot.

Ohne diesen Männern nun ihre historische Größe absprechen zu wollen, erscheinen sie bei Kropotkin weit davon entfernt, Geschichte zu „machen“, wie ein deutscher Historiker wähnte. Vielmehr sieht man sie tänzeln und springen, schreien in Wut, Enthusiasmus oder Verzweiflung, hektisch manövrieren, siegen oder fliehen, aufsteigen und fallen auf dem Resonanzboden einer revolutionären Gesellschaft, die durch wiederkehrende Erdbeben und Vulkanausbrüche diese Figur emporhebt und jene in einer Schlucht versinken lässt, die Sekunden zuvor nicht zu existieren schien!

Es ist die Menge, die Masse, das Volk von Paris, das bei Kropotkin die treibende Kraft der Geschichte ist. Immer wieder platzen an den entscheidenden Wendepunkten der Französischen Revolution Hunderttausende und Millionen oftmals ganz unerwartet auf die Bühne der Weltgeschichte, packen den geschichtlichen Prozess mit ungezählten Händen bei den Haaren, zerren damit auch ihre Führer und Helden binnen Stunden an einen zuvor unbekannten Platz und wuchten den geschichtlichen Prozess auf eine neue Ebene.

So geschehen 1789, als aus einem hilflosen Protest vor der Bastille der Sturmlauf der Revolution wurde. So geschehen, als Millionen in die Revolutionsheere strömten, um die Revolution gegen äußere Feinde zu halten. So geschehen in den Septembertagen 1792, gegen die inneren Feinde, die Konterrevolution und wieder 1793, am 27. Mai, als Paris sich erhob gegen den korrupt gewordenen Konvent.

Solche Vorgänge sind uns, die wir 2015 in Deutschland leben, freilich ein einziges Abstraktum. Wir leben in einer postpolitischen, durch und durch formierten Gesellschaft, ja, in einer Lage von solcher Vereinzelung, dass schon der Begriff „Gesellschaft“ fragwürdig geworden ist, um diese hiesigen Zustände adäquat zu beschreiben.

Allerdings macht Kropotkin auch deutlich, dass diese rebellierende Masse nicht einfach ein unstrukturierter Menschenbatz gewesen ist, der da rätselhafter Weise, immer wieder, sehr plötzlich und wie von unsichtbarer Hand geformt, als eine zielklare, aktiv eingreifende Menge die Bühne der Weltgeschichte erstürmte.

Die vielen Hände, die diese Menge formten, werden vielmehr sehr sichtbar in Kropotkins Darstellung, wenngleich sie körperlos bleiben, namenlos: es sind die Aufrührer und Revolutionäre der Pariser Sektionen! Jene Aktivisten, die der Geschichtsschreibung unbekannt geblieben sind. Vielleicht konnten sie nicht lesen und schreiben, anders als Danton und Robespierre, die Rechtsanwälte waren. Sicher hatten sie wenig Sinn dafür und keine Zeit, die Berichte ihrer Taten persönlich zu signieren, im Buch der kollektiven Erinnerungen.

Diese Mutigen der Vorstädte und Helden der Elendsquartiere mögen namenlos geblieben sein. Aber diese unbekannten Aktivisten waren die entscheidende Triebkraft der Revolution.

Sie, die vielleicht nur ihren Straßenzug organisiert hatten oder ihre Manufaktur, hielten den mächtigsten Hebel der Veränderung in vielen tausend Händen. Sie wirkten nicht immer richtungsgleich auf diesen Hebel. Manchmal blockierten sie sich gegenseitig. Die eine Sektion war schneller zu aktivieren als die andere. Jene neigte mehr zu den Besitzenden, jene war tief verankert in der Masse der Besitzlosen. Aber dieses Netz der Aktivisten war eng geknüpft. Die Sektionen von Paris waren durch und durch organisiert. Und erst die Beseitigung dieser Volksmacht in den Sektionen ermöglichte 1794 den letztlichen Durchmarsch der Konterrevolution.

Zurück nach Griechenland. Wir sehen hier alles, was uns in Deutschland fehlt. Zum Beispiel kämpfende Gewerkschaften, politisierte Universitäten, Strukturen solidarischer Selbstorganisation.

Die Serie von über 30 Generalstreiks, die ungeheuerlichen Massenkämpfe seit 2011, die Platzbesetzungen, die Kämpfe mit der Polizei und ums tägliche Überleben jedenfalls haben hier eine ganze Generation von politischen Führern entstehen lassen. Sie sind Aktivisten in ihrem Betrieb oder in ihrem Stadtviertel, an ihrer Schule oder Universität. Vielleicht sind sie eine entlassene Krankenschwester, die nun auf eigene Faust hilft und heilt und dabei für den Aufstand wirbt oder ein arbeitsloser Jugendlicher, der liest und liest und das Gelesene aufgeregt plappernd weitergibt oder ein Blogger, ein DJ oder eine militante Rentnerin.

Diese Aktivisten waren die Kraft hinter dem massenhaften OXI, das die Regierung Tsipras so sehr überrrascht hat, dass sie es in Windeseile verraten musste. Aber vergessen wir dieses OXI nicht. Nehmen wir es ernst und an und lernen wir davon. Denn das „OXI“ war so ein Moment, in dem sich die Sektionen von Athen und Thessaloniki mit ihren vielen Tausend Händen vereinigt haben, um den Hebel der Geschichte entschlossen in ihre Richtung zu ziehen: weg vom geschäftigen Treiben der großen Männer auf den großen Bühnen; nach unten, in die Tiefe eines rebellierenden Volkes!

Romantik. Ich höre schon den Vorwurf. Romantik! Peinlich…

Ja, Romantik! Romantik in ihrem eigentlichen, in einem revolutionären Sinne. Und Realität in Griechenland – wenn auch ferne Traumbilder für Deutschland.

Diese Kraft von unten ist nicht unbeeinträchtigt von den Machinationen der großen Männer und Frauen. Diese Kraft hat einen Niederlage erlitten, weil Tsipras nicht bereit war, diese Kraft zur Grundlage seiner Politik zu machen. Aber diese Kraft des OXI kann auch nicht einfach weggewischt werden am Verhandlungstisch zu Brüssel. Diese Kraft wird weiter streiken, weiter kämpfen, neue Formationen ausbilden, wenn Syriza zerbricht.

Yanis Varoufakis nun beschreibt seit Tagen Syrizas strategisches Dilemma in fünf Monaten an den Tischen der Macht. Er beschreibt die Fallstricke und Hinterhalte auf den Fluren der Macht. Er empört sich über die wirtschaftspolitische Verantwortungslosigkeit dieser Macht und fröstelt beim Gedanken an die kalten, undurchdringlichen Blicke dieser Macht.

Aber die Macht, von der er spricht und schreibt, ist immer die Macht des Feindes, die Macht schrecklicher Menschen im Auftrage anonymer, kalter Mächte.

Für die Macht der Sektionen fehlt Varoufakis jeder Blick; für die Schönheit der Rebellinnen und Rebellen von Athen hat er noch keinen Sinn entwickelt; für den Donnerhall der Schreie aus Schmerz und Wut und für die verführerischen Melodien ihrer Lieder fehlt ihm das Gehör und die Traummacht ihrer ungestillten Sehnsüchte ist ihm ein Rätsel. Noch.

Noch? Vielleicht wird Yanis Varoufakis all dies demnächst erlernen, jetzt, wo er vom Schleudersitz der Macht katapultiert wurde in jenes offene, unbekannte Land, das zu betreten Syriza als Ganzes nicht bereit war. Tsipras – der ein Freund ist, der unter dem Ansturm der Feinde zusammengebrochen ist – wird das nun nicht mehr lernen können. Vielleicht wird er demnächst zu einem Feind werden.

Wichtiger aber als dieses Werden und Wehen großer Männer ist auch für uns, dass wir für alles das unsere Sinne entwickeln und schärfen, was sich in den Tiefen der Sektionen tut! Dass wir hineinhören, hineinschauen in diese dem deutschen Aktivisten noch so fremde Welt der revoltierenden, sich selbst ermächtigenden Masse. Dass wir in Kontakt kommen mit dieser eigentlichen geschichtlichen Triebkraft.

Dies alles denke ich, schreibe ich drei Tage vor Abflug nach Athen; in großer, liebender Leidenschaft; als Romantiker und Revolutionär: sitzend am Denkmal des unbekannten Aktivisten der Pariser Sektionen.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen