Zeit für Zehn! Argumente für einen Mindestlohn, von dem man leben kann
Was der Mindestlohn bewirkt hat
Aufgrund zahlreicher Ausnahme-, Sonder- und Übergangsregelungen für einzelne Branchen bzw. Personen-gruppen (z.B. Langzeitarbeitslose, Jüngere ohne Berufsabschluss, Kurzzeitpraktikanten und Zeitungszustel-ler) sowie geschickter Ausweich- und Umgehungsstrategien der Arbeitgeber kam der Mindestlohn keines-wegs bei sämtlichen Niedrigstlöhnern in Deutschland an. Trotzdem war er gegenüber dem früheren, in gewisser Weise rechtlosen Zustand dieser Personengruppe ein riesiger Fortschritt. Annähernd 4 Millionen Beschäftigte (2,9 Millionen in West- und 1,1 Millionen in Ostdeutschland), die vor allem im Einzelhandel sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe tätig sind, haben unmittelbar von der Mindestlohnregelung profitiert, weil ihre Lohnhöhe unter 8,50 Euro brutto pro Zeitstunde lag.
Durch den Mindestlohn ist der Niedriglohnsektor nach unten abgedichtet und eine weitere Lohnspreizung verhindert worden. 58.000 Minijobber sind bis zum Herbst 2015 in sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gungsverhältnisse hinübergewechselt. Zurückgegangen ist auch die Zahl der meist schlecht bezahlten Praktika. Schließlich hat der Mindestlohn weder der Konjunktur noch dem Arbeitsmarkt geschadet, wie von seinen liberalkonservativen Kritikern prophezeit, sondern ganz im Gegenteil die Massenkaufkraft erhöht, die Binnennachfrage belebt und das Wirtschaftswachstum angekurbelt.
Allerdings ist es nur etwa 57.000 der seinerzeit 1,3 Millionen sog. Aufstocker durch den Mindestlohn gelungen, dem Hartz-IV-Bezug zu entfliehen. Die besonders schützenswerte Gruppe der Langzeitarbeitslo-sen hat offenbar in keiner Weise davon profitiert, dass diese generell sechs Monate lang vom Mindestlohn ausgeschlossen sind. Bei den Jobcentern haben sich nicht etwa lange Schlangen von Arbeitgebern gebildet, die Erwerbslose unterhalb des sonst üblichen Mindestlohnniveaus einstellen wollten. Vielmehr wirken die bekannten Vorbehalte gegenüber Menschen fort, die über einen längeren Zeitraum hinweg Transferleistungen wie das Arbeitslosengeld II bezogen haben. Zwischenfazit: Zwar hat der Mindestlohn für mehr (sozialversi-cherungspflichtige) Beschäftigung gesorgt, Armut und soziale Ausgrenzung aber nicht beseitigt.
Fluchtmigration und Mindestlohn
Als die Zahl der Zuwandernden im Spätherbst 2015 so stark anstieg, dass die Mainstream-Medien fortan nicht mehr die „deutsche Willkommenskultur“ feierten, sondern unter dem Schlagwort „Flüchtlingskrise“ überwiegend einer rigideren Fremdenabwehr das Wort redeten, sahen Wirtschaftslobbyisten und Neoliberale ihre Chance gekommen, eine Abschaffung bzw. Aufweichung des Mindestlohns zu fordern. Hans-Werner Sinn, damals noch (einflussreicher) Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München, schlug mehrfach vor, die seit dem 1. Januar 2015 gültige Lohnuntergrenze zu senken oder ganz aufzugeben, der CDU-Wirtschaftsrat verlangte eine befristete Ausnahmeregelung sowie niedrigere Einstiegslöhne für Flüchtlinge, und auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli-chen Entwicklung wollte Flüchtlinge auf der Suche nach einem Arbeitsplatz wie Langzeitarbeitslose behandeln und ihnen sogar zwölf Monate lang den Mindestlohn vorenthalten. Außerdem sollte dieser nach Meinung der „fünf Weisen“ vorerst nicht erhöht werden.
Ein solcher Maßnahmenkatalog würde nicht bloß die Armut der betroffenen Flüchtlinge vergrößern und erneut das gesamte Lohnniveau in Deutschland nach unten ziehen, sondern auch die Zahl der „aufstocken-den“ Hartz-IV-Bezieher erhöhen, also den Staatshaushalt zusätzlich belasten, die Massenkaufkraft verringern und damit die durch den Mindestlohn gestärkte Binnenkonjunktur abwürgen. Außerdem würde Wasser auf die Propagandamühlen der extremen Rechten geleitet, die vom sozialen Abstieg bedrohten Angehörigen der unteren Mittelschicht einzureden versucht, dass ihnen Zuwanderer die Jobs wegschnappen.
Messlatten für den künftigen Mindestlohn
Da sich die Mindestlohn-Kommission nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientieren soll und davon nur mit einer Zweidrittelmehrheit abweichen kann, seitens der Arbeitgeber jedoch mit Hinweis auf die Flüchtlingszuströme auf den Arbeitsmarkt sogar eine Absenkung des Mindestlohns ins Gespräch gebracht wurde, ist zum 1. Januar 2017 höchstens eine leichte Erhöhung auf 8,75 bis 8,85 Euro pro Zeitstunde zu erwarten. Diese Marke reicht jedoch selbst bei Vollzeitbeschäftigung nicht zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums aus. Zudem hätte Deutschland als stärkster „Wirtschaftsstandort“ damit immer noch den niedrigsten Mindestlohn in Westeuropa.
Wenn die Würde des (arbeitenden) Menschen gemäß Art. 1 Grundgesetz den entscheidenden Maßstab bildet, um den im Gesetzestext der Großen Koalition geforderten „angemessenen Mindestschutz“ der Beschäftigten zu garantieren, kann man vier unterschiedliche Messlatten an den Mindestlohn anlegen:
1. die Gewährleistung des Existenzminimums: Reicht er aus, um ohne den ergänzenden Bezug von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) leben zu können?
2. die Vermeidung von Erwerbsarmut: Reicht er aus, um nicht arm bzw. armutsgefährdet sein, d.h. wenigstens 50 bzw. 60 Prozent des mittleren Lohns zu erzielen?
3. die Überwindung der Niedriglohnschwelle: Reicht er aus, um wenigstens zwei Drittel des Medianlohns zu verdienen?
4. die Vermeidung von Altersarmut: Reicht er aus, um auch im Rentenalter ohne den ergänzenden Bezug staatlicher Grundsicherungsleistungen leben zu können?
Der geltende Mindestlohn ermöglicht es seinen Beziehern in den meisten Fällen nicht einmal, die niedrigste Hürde zu nehmen:
1. Nur wer keine Kinder und eine preiswerte Mietwohnung hat, gelangt durch den Mindestlohn in der bisherigen Höhe aus Hartz IV heraus. Denn man muss über den höheren Lohn erstens die Miete und die Heizkosten erwirtschaften, die bisher das Jobcenter bezahlt hat; zweitens die Differenz zwischen dem Kindergeld und dem Hartz-IV-Regelsatz für Kinder. Diesen entgeht auch noch das Bildungs- und Teilhabepaket, außer wenn Kinderzuschlag oder Wohngeld bezogen wird.
2. Nur wenn man sich mit dem Phänomen der „working poor“ auf Dauer abfindet, kann man einen Mindestlohn unterhalb der Armuts(risiko)schwelle von 60 Prozent akzeptieren. Hierzulande erreichte der Mindestlohn bisher nach WSI-Angaben gerade einmal 47,8 Prozent des mittleren Lohns. In einem rei-chen Land wie der Bundesrepublik darf der Mindest- allerdings kein Armutslohn bleiben!
3. Um mit dem ausufernden Niedriglohnsektor das Haupteinfallstor für Armut in Deutschland zu verschließen, müsste der Mindestlohn flächendeckend sein und allen Beschäftigten wenigstens zwei Drittel des Medianlohns sichern.
4. Um nach 45-jähriger Vollzeitberufstätigkeit eine Rente oberhalb der Grundsicherung im Alter zu gewährleisten, müsste der Stundenlohn nach Regierungsangaben sogar mehr als 11,50 Euro betragen.
Berücksichtigt man die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die sozialökonomische Großwetterla-ge und das politische Klima (Flüchtlingsdiskussion), muss analog zu der vom demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders unterstützten Gewerkschaftskampagne „Fight for Fifteen“ für einen Mindestlohn von 15 Dollar hierzulande die Losung ausgegeben werden, dass es Zeit für zehn Euro ist. Da alle westeuropäischen Staaten bereits heute einen – teilweise sogar erheblich – höheren Mindestlohn als die Bundesrepublik haben, Deutschland aber das wirtschaftsstärkste EU-Mitglied ist, sind 10 Euro pro Stunde notwendig, will man verhindern, dass es sich durch Lohndumping noch länger Wettbewerbsvorteile gegenüber schwächeren Konkurrenten, etwa den „Euro-Krisenstaaten“ Griechenland, Portugal und Italien, verschafft.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ sowie „Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition“ erschienen.