Zwischen den Fronten – immer noch? Teil 2/2

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Holdger Platta, Politik

Deutsche Soldaten 1940 in einem norwegischen Dorf. Bildquelle: ADN-ZB/ Archiv, Lizenz Creative Commons

Anmerkungen zur »Kriegskinder«-Debatte in der Bundesrepublik. Die Kriegskinder-Literatur, wie sie u.a. von den Werken Sabine Bodes repräsentiert wird, hat die Wahrnehmung der Folgen von Krieg, Vertreibung und deutscher Kollektivschuld in Nachkriegsdeutschland verändert. Nachdem es lange Zeit als »tabu« galt, auf deutsche Leiden – etwa die von traumatisierten Kriegsgefangenen und Soldaten – hinzuweisen. Dies wurde vielfach als „Relativierung deutscher Kriegsschuld“ gedeutet. Als dann die Welle der Aufarbeitungsbemühungen über Deutschland hereinbrach, atmeten viel auf: »Endlich sagt’s mal jemand«. Sicher haben die zutage geförderten Erkenntnisse über Familienprägungen und transgenerationale Traumata vielen geholfen, ihre eigene psychische Befindlichkeit besser zu verstehen. Aber ist ein solcher Diskurs nicht »rechts«? Dient er dem »Aufrechnen« der Leiden von Deutschen gegen die ihrer Opfer, also der psychologischen Selbstentlastung der Täter-Nachfahren? Holdger Platta bemüht sich in seinem ausführlichen, zweiteiligen Aufsatz um sorgfältige Abwägung und beschreitet einen mittleren Weg, der Schuldabwehr ebenso vermeidet wie eine Art Redeverbot mit Blick auf die eigene deutsche Versehrtheit. Holdger Platta

 

Die Kriegskinder verstehen, auch wenn sie 68er sind!

Mit großer Empathie und Genauigkeit gehen die Autorinnen Ursula Bode und Hilke Lorenz dem Schicksal der Kriegskinder nach; mit großer Empathie, Genauigkeit und wissenschaftlicher wie psychotherapeutischer Kompetenz widmet sich Hartmut Radebold, geradezu ein Pionier auf diesem – jawohl: das ist es auch – Forschungsgebiet, dem Schicksal dieser Menschen. Die Ergebnisse dieser Forschung sind in diesem Band zusammengetragen und zeigen, dass es dringend erforderlich ist, diese Forschung fortzusetzen – und ich scheue mich an dieser Stelle nicht zu ergänzen: derart wichtig, dass in viel größerem Ausmaß als bisher auch Finanzmittel für diese Forschung zur Verfügung gestellt werden müssten!

Die verschiedenen Traumata, die in den Beiträgen dieses Bandes und in den anderen hier erwähnten Publikationen erwähnt und geschildert werden, sind höchst unterschiedlicher Natur, unterschiedlich in ihren Auswirkungen, unterschiedlich in Intensität und Charakter, je nachdem, wie alt die Kinder beim Erleben ihrer traumatischen Erfahrungen waren, je nachdem auch – scheint mir -, wie die Kinder bei diesen Katastrophen ihre Eltern erleben mussten, wenn diese zugegen waren. Oft brach für die Kinder die Welt erst zusammen, wenn auch die Eltern zusammenbrachen.

  1. Verlust der Eltern oder zumindest Verlust eines Elternteils (vorrangig behandelt bislang: Vaterlosigkeit, aus der Perspektive der Söhne erlebt);
  2. Verlust sonstiger naher wichtiger Personen, zeitweilige Trennung vom Elternhaus (Stichwort »Kinderlandverschickung«);
  3. Verlust der Heimat (auch der »Übergangsobjekte«, nach Winnicott; siehe Literaturverzeichnis!);
  4. Vertreibung und Flucht;
  5. Gewalterfahrungen (Hinrichtungen, Erschießungen, Vergewaltigungen); Bombardierungen;
  6. Fliegerangriffe (direkt auf die eigene Person);
  7. sozialer Abstieg und Verarmung;
  8. Feindseligkeitserfahrungen am neuen Wohnort (oft über viele Jahre hinweg);
  9. Aufwachsen als »Schlüsselkind« (wenig beachtet bislang); psychische Abwesenheit von Vater und/oder Mutter .

Die Liste der traumatischen Erfahrungen, die da, insgesamt, die Kinder der Jahrgänge 1930 bis 1948 machen mussten, ist lang (am wenigsten noch zähle ich die spezifischen Erziehungserfahrungen der Kriegskinder zu diesem Katalog; sie waren, scheint mir, nicht kriegs-, sondern ns-bedingt und gingen auf die spezifischen Erziehungsmethoden des Dritten Reichs zurück, vor allem wohl auf den berüchtigten Nazi-Bestseller »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« von Johanna Haarer, 1934ff.; siehe dazu die Untersuchung von Sigrid Chamberlain 1997!). Es ist eine schrecklich lange Liste der Schrecknisse und des Grauens. Und zu Recht weist Radebold mit anderen Autorinnen darauf hin, dass es oft sogar zu kumulativen Traumatisierungen kam. Was da was auslöste, dürfte noch lange nicht zu Ende erforscht sein. Und sicher auch nicht im genügenden Ausmaß, was jeweils die richtigen, die wirksamsten therapeutischen Antworten auf diese verschiedenen Traumata und posttraumatischen Störungen sind.

Was aber bislang wenig bis gar nicht ins Auge gefasst worden ist, das ist der Zusammenhang zwischen dem Erleben dieser frühen Traumata und dem, was hie und da – nahezu isoliert von dieser Fragestellung – unter dem Stichwort »68er-Bewegung« angesprochen wird. Um es vorwegzunehmen: fast immer ohne jedes Verständnisbemühen, nahezu lieblos oft, in keinem Fall aber in einen sorgfältig analysierten Kontext gebracht mit den kriegsbedingten Traumata. Pointiert: hier sehen wir ein weiteres Mal die Kriegskinder zwischen den Fronten platziert (auch wenn diese – die gegenwärtigen – Fronten ungleich harmlosere Fronten sind als die Fronten während der Kriegszeit!). Als Kriegsgeneration von ihren frühen Traumata attackiert, sehen wir die nämlichen Menschen, als APO-Generation, nun auch attackiert von Befürwortern des »Kriegskinder«-Projekts. Ich habe das mit einiger Bestürzung registriert. Doch auch hier der Reihe nach:

Fälschlicherweise glaubte der Hamburger Historiker Naumann in seinem Beitrag für die Frankfurter Rundschau feststellen zu müssen, dass mit der »Kriegskinder«-Thematik eine ganze Generation – die Generation der 68er nämlich – umge»labelt« werden solle zu »Kronzeugen der Opfergesellschaft«: »Als 68er hatten sie gegen ihre Eltern gekämpft, jetzt ist die Klage an die Stelle der Anklage getreten«, hieß der entsprechende Satz, und Naumanns Schlussfolgerung war: Deutschland solle damit entlassen werden aus seiner Rolle der historischen Täterschaft in die Rolle der »Opferschaft«. Aus drei Gründen mindestens ist diese Feststellung falsch,  und zwar falsch in einem ganz basal-empirischen Sinne jenseits aller Deutungen:

  1. In den von dem FR-Beiträger angesprochenen Büchern kommt das Thema APO, analytisch in Zusammenhang gebracht mit der »Kriegskinder«-Thematik, gar nicht vor.
  2. In der Generation der »Kriegskinder« – übereinstimmend werden in allen Publikationen die  Jahrgänge  1930  bis 1948 genannt – , macht die 68er-Generation, schon  rein  arithmetisch,  schon  von der Jahrgangszugehörigkeit her, höchstenfalls eine kleine Teilgruppe aus: etwa die zwischen 1940 bis 1947 Geborenen;
  3. und selbst innerhalb  dieser Teilgruppe der zwischen 1940 bis 1947 geborenen Kriegs-  und  Nachkriegskinder  stellten  die  Akteure  der APO-Bewegung lediglich eine kleine Teilgruppe dar: fast ausschließlich war die APO-Bewegung eine Studentenbewegung –  und  selbst  als  Studentenbewegung  repräsentierte die APO nur eine starke aktive  Minderheit  an  den bundesdeutschen Universitäten (von Ausnahmen wie Berlin und Frankfurt am Main vielleicht abgesehen). Kurz:

Noch jeder 68er war – zumindest dem Alter nach – ein »Kriegskind« gewesen, doch nur wenige »Kriegskinder« waren auch 68er gewesen. Diesen grundlegend-faktischen Sachverhalt sollte man zuallererst nicht aus den Augen verlieren.

Aber was bedeutet das in psychologischer Hinsicht? Was haben die Autoren – soweit sie diese Thematik überhaupt ansprechen – aus dieser Tatsache gemacht? Genauer: aus deren Verkennung?

Nun, für Naumann, wie dargestellt, ist die Sache klar: »die« 68er werden bei der »Kriegskinder«-Debatte »umfunktioniert« oder »funktionieren« sich selber »um« – sie haben angeblich den Rückweg angetreten in die Klage und in die Re-Identifikation mit den eigenen Eltern (ich erinnere hier an das Welzer-Zitat). Und wie sehen die Autoren »von der anderen Seite« dieses Problem? Kommen da die 68er besser weg?

Ich gebe zu, ich habe lange gezögert, ob ich – der ich Kriegskind und 68er bin – die folgenden Sätze überhaupt aufschreiben sollte, und ich tue das auch jetzt nur mit jenem subjektiven Anspruch, der andere Beiträger in diesem Band von ihren Gefühlen, ihren Angstträumen und Assoziationen sprechen ließ (Gertraud Schlesinger-Kipp etwa, Dagmar Soerensen-Cassier und Jürgen Hardt): ich habe mich nach manchen Sätzen zur APO-Generation geradezu geohrfeigt gefühlt, es kam mir an einigen – einigen wenigen – Stellen so vor, als würde ich aus einem Zimmer, in das ich gerade freundlich eingeladen worden war, wieder zur Tür herausgeprügelt. Alle Einfühlung, alles Interesse, alle Zuneigung, so schien und scheint es mir, schlugen und schlagen an diesen Stellen um in Zurückweisung und Aggression. Ein Erleben, das mit seiner Heftigkeit wohl der Erklärung bedarf.

Zunächst (und ich bin nun genötigt, einen Moment lang von mir zu reden): ich weiß, was es heißt, ein »Kriegskind« zu sein. Mögen die Kriegsereignisse während meiner ersten Lebensmonate – ich wurde 1944, im August, in Niederschlesien geboren – noch vollkommen spurlos an mir vorübergegangen sein (freilich, ich habe Zweifel an dieser Folgenlosigkeit: panische Angst vor Feuerwerk bis etwa zu meinem sechsten Lebensjahr, schwere wiederholte Albträume – pavor nocturnus – bis etwa zu meinem zehnten Lebensjahr legen eher eine andere Deutung nahe): was für meine frühe Kindheit bis weit in die ersten Jugendjahre hinein auf jeden Fall prägend wurde und prägend blieb, das waren Verarmung und sozialer Abstieg meiner Eltern (vor allem die depressiven Reaktionen des Vaters darauf) und unmittelbar für mich (wie meinen älteren Bruder) vor allem der Hass und die Feindseligkeit, die uns an unserem neuen Wohnort im Ruhrgebiet von Seiten der Einheimischen entgegenschlugen: nach Flucht aus Niederschlesien im Güterzug, nach Auffanglager in einem ehemaligen Kinosaal und knapp zweijähriger Barackenzeit Beschimpfungen also als »Ausländerpack« und »Polackenbrut«, die in der »kalten Heimat« nur »Scheiße« besessen hätten, und eine Kindheit, in der man nie das Gefühl verlor, dort, wo man nun aufwuchs, im Grunde nur geduldet zu sein und unablässig auf der Hut sein zu müssen. Vor dieser Erlebnisperspektive verstand ich die Berichte der anderen Kriegskinder, wie sie bei Bode, Lorenz und Radebold nachzulesen sind, nicht nur mit dem Kopf: auch die eigene Vergangenheit lebte wieder in mir auf; was mehr oder minder verschüttet schien, war wieder präsent, gerade auch emotional. Ich nahm aber auch gleichsam in diesen Büchern Platz, es war, als ob ich einen Raum betreten hätte, in dem auch die eigene Lebensgeschichte wieder Geltung besitzt. Die Bücher sprachen nicht nur zu mir, empathisch und liebevoll, von anderen Menschen, sondern sie hörten auch mir, empathisch und liebevoll, zu. Ein Vertrauen entstand, das gleichzeitig auch ein wenig schutzlos macht. Mit dieser Identität und Gefährdung las ich also in den letzten Wochen vom Leid der anderen aus »meiner« Kriegskindergeneration – wie so viele andere vor mir: tief angerührt.

Aber natürlich auch mit meiner »anderen« Identität, die, wie ich es sehe, zu einem Teil aus dieser ersten Identität hervorgegangen ist – unbewusst wie auch höchst reflektiert. Und auch hier bin ich genötigt, kurz noch einmal persönliche Lebensgeschichte zu schildern (im sicheren Wissen, dass sie für viele anderer »meiner« 68er-Generation ebenso typisch  ist!). Ich glaube nämlich, dass ohne die Kriegsgrauen und Fremdenhass-Erfahrungen auch spätere Reflexe, Reflektionen und Entwicklungen nicht wirklich begreifbar sind. Das schloss die Übernahme von Verantwortung für die politisch-moralischen Entwicklungsprozesse in der Bundesrepublik ausdrücklich mit ein und geht in der Diagnose angeblich vorhandener unbewusster Schuldgefühle keinesfalls auf.

1961/192 war es, dass ich zum erstenmal, in einem Kino, Filmbilder von Auschwitz, Buchenwald und dem Warschauer Ghetto sah, in Erwin Leisers Dokumentarfilm »Mein Kampf«. Ich konnte mich gegen das Entsetzen nicht wehren, auch gegen die Tränen nicht, nicht gegen die Unfähigkeit, mit meinem Freund darüber sprechen zu können, als wir wie versteinert das Kino verließen. Und ich erinnere mich und weiß, dass es diese – vielleicht nicht traumatisch zu nennenden, aber schockartigen – Erlebnisse waren, die mich dann 1966/1967, nach Beginn meines Studiums in Göttingen, auf die Straße trieben, um gegen NPD-Aufstieg, Abbau demokratischer Grundrechte (= die sogenannten »Notstandsgesetze«), gegen die Völkermordaktionen einer befreundeten Weltmacht im fernen Vietnam, gegen den Staatsgastbesuch eines blutigen Diktators aus Persien in Deutschland zu protestieren, gegen die Erschießung eines  Studenten durch einen Beamten der Berliner Kriminalpolizei. Bei mir – und bei vielen Mitdemonstranten auch – ging die Sorge um, dass in Deutschland und weltweit Entwicklungen eintreten könnten, die wieder jenen Verhältnissen ähneln würden, die wir mittlerweile »kannten« – welch schwaches Wort! – aus der NS-Zeit. Und nun frage ich: zeugt es vor diesem Hintergrund nicht von tiefstem Unverständnis, behaupten zu wollen, der studentische Protest habe sich gegen die Demokratie gerichtet? Kommt es angesichts dieser doppelten Lebensgeschichte vieler von uns – als Kriegskinder wie Angehörige der APO-Bewegung – nicht einer Ohrfeige gleich, lesen zu müssen, hier hätten Söhne nur unaufgearbeitete Konflikte mit ihren Vätern ausagiert und es gäbe wohl heute noch »notorische« 68er, die in »komplexen Eltern-Kind-Beziehungsmustern« verstrickt geblieben sind – und dies auch bleiben mögen? Angesichts solcher Vereinseitigungen sei festgehalten: das Leben vieler »Kriegskinder« ist doppelt kontaminiert. Es wurde bestimmt von den Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit und den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik. Oder persönlicher gesagt:

Ich hatte keinen Bedarf an »nachträglichem Ungehorsam« gegenüber dem Vater – und viele andere auch nicht. In meiner Herkunftsfamilie gab es ohnehin keinen Anlass dafür, da mein Vater auf seine kleine bescheidene ängstliche Weise Widerstand geleistet hatte gegen das Dritte Reich – was mir bereits als Heranwachsender vollkommen bewusst geworden war – , und in den Familien zahlreicher anderer 68er war dieser dringend erforderliche »Ungehorsam« längst schon vor 1968 »nachgeholt« worden. Wer anderes behauptete, schriebe im Kern an überaus wichtigen Beweggründen der 68er-Bewegung vorbei. Derartige Sätze verstünden die jungen Menschen von damals nicht, sondern qualifizierten sie nur noch ab. Sie sähen auch keine Zusammenhänge zur Vorgeschichte – zur kollektiven wie zur individuellen – mehr, sie psychologisierten und polemisierten nur noch jegliches Wissen und jegliches Verständnis weg. Statt beizutragen – was noch Aufgabe jeder Psychoanalyse ist (siehe hierzu Bauriedl 1988, S. 101ff.!) –, Unbewusstheit aufzuheben, schüen sie neue Unbewusstheit und trügen damit zur Fortsetzung destruktiver Missverständnisse bei. Um gegen einen Ex-Nazi als Bundeskanzler zu sein, bedurfte es keines unaufgearbeiteten Ödipus-Komplexes in Drittauflage; um mit Entsetzen zu reagieren auf den Einsatz chemischer Massenvernichtungswaffen (= »Agent Orange«) in Vietnam,  musste man nicht neurotisch sein (das waren wir womöglich außerdem); um besorgt zu sein über den Einzug der »Nationaldemokraten« in nahezu alle bundesdeutsche Länderparlamente während der Jahre 1966 bis 1968, musste man nicht Anhänger sein des – nebenbei: eher selbst-persiflierend gemeinten – Slogans »Trau keinem über 30!«. Wir kannten den Unterschied zwischen einem Adolf von Thadden und einem Ernst Bloch. Und selbst derjenige, der durch die 68-Bewegung zutiefst verletzt worden sein mag – anders nämlich kann ich die Abqualifizierungen der 68er nicht verstehen – , muss sich doch fragen lassen, ob er zur Erklärung dieser Protestgeneration nicht auch andere Gründe ausfindig machen kann als eine – offenbar dann vom Himmel gefallene – antidemokratische Grundhaltung bei den Studenten oder – nahezu ein Deutungsklischee inzwischen! – neurotischerweise unaufgearbeitete Sohn-Vater-Konflikte. Die Unbewusstheit, die früher über dem Persönlichen gelegen haben mochte, sollte nicht verschoben werden und sich nun über alles Politische legen (siehe hierzu auch Hardt 2004!). Außerdem, scheint mir, weiß hier offenbar die eine Hand nicht mehr, was die andere tut. Was die einen – Bode, Lorenz, Radebold, Schulz, die vielen Beiträger der Buchedition hier – in präziser empirischer und empathischer Arbeit zutage gefördert haben an Folgewirkungen der kriegsbedingten Traumata bei jenen Kindern, die 1968 junge Erwachsene waren und sich zum Teil bei der außerparlamentarischen Opposition engagierten, das ist bei der Abqualifizierung der 68er durch derart negativ-eingestimmte Teilnehmer an der »Kriegskinder«-Debatte offenbar keinerlei Beachtung mehr wert. Ich konkretisiere:

Immer wieder wird in den Veröffentlichungen über die Kriegskinder – auch im vorliegenden Band – neben anderem konstatiert, dass oft zu den Nachwirkungen der Kriegs- und Nachkriegsgreuel die folgenden Symptome zu zählen sind:

  1. »Defizite der emotionalen Kompetenz«, »Beeinträchtigung der emotionalen Kommunikationsfähigkeit«, »Gefühlsabwehr und – verleugnung«, »ausgeprägte Beziehungsstörungen«, »Verpönung der Gefühle von Traurigkeit und Verzweif-lung« – so Radebold;
  2. »Ausbildung einer generellen Gefühllosigkeit im Sinne der sogenannten Alexi-thymie« – so Tillmann Greb;
  3. »kontraphobisches…provokant-unverschämtes Auftreten« – so Günter Jerou-schek;
  4. »eher misstrauische Einstellung« – so Elmar Brähler und andere;
  5. »Weitergabe von Schuldgefühlen« an diese Generation – so Dagmar Soerensen-Cassier;
  6. »unbewusste Motive wie Wiedergutmachung, Reparation und Ersatz« – so Bertram von der Stein.

Dies alles weiß man nun – oder glaubt man zu wissen – , dies alles wird als Belastung für die »Kriegskinder« diagnostiziert; doch sind diese »Kriegskinder« als 68er »auffällig« geworden, wird dies – merkwürdig genug – zum Belastungsmaterial gegen sie. Man stelle sich vor, was das für Psychotherapien bedeuten würde, diese widerspruchsvolle Doppelfront aus moralisch-psychologischer Abqualifizierung und Verständnis zugleich: Niemandsland? Double-bind? Hier, scheint mir, ist Rückbesinnung und Nacharbeiten erforderlich, Selbstreflexion und Selbstempathie bei denjenigen, die sich mit ihren Vorwürfen gegen die »bösen« »neurotischen« 68er derart in ihre Vorwurfshaltung verlaufen haben. Anderenfalls belasteten solche politischen Einseitigkeiten das gesamte Forschungsprojekt. Und ich stellte an früherer Stelle schon einmal fest: destruktive Differenzen treten dann auf, wenn Differenzierungen verloren gehen. Hier drohen sie das.

Jürgen Reulecke, der eine der beiden Autoren, an den ich mich mit diesem Appell wende – von ihm stammt die – völlig unbelegte – These, dass die APO-Bewegung eine antidemokratische Bewegung gewesen sei (s. Schulz u. a., S. 149! – Apropos: ich kenne nur eine empirisch-psychologische Untersuchung, die sich mit dem politischen Bewusstsein der Studenten zu dieser Zeit beschäftigt hat, und diese Studie belegt das genaue Gegenteil:  die zweibändige Studie von Sperling/Jahnke 1974 (1993), s. Literaturverzeichnis!) –, Jürgen Reulecke hat sich verdienstvollerweise zur Aufgabe gesetzt, die überkommene Geschichtswissenschaft zu ergänzen durch eine »psychohistorisch fundierte Mentalitätsgeschichte« (Schulz u.a., S. 145). Dies verlangt dem Forscher gleich mehrfache Qualifikationen ab, historische wie psychologische – was keine Kleinigkeit ist. Ausdrücklich ist dem Gießener Historiker zuzustimmen, dass es auch um »Erfahrung« und »Subjektivität« gehen müsse, wenn man Geschichte verstehen will (ibid., S. 145). Es ist zu wünschen, dass dies nicht in ersten Ansätzen stecken bleibt, wozu auch seine von mir kritisierten Missverständnisse zählen.

Und Angelika Trilling, die als Diplompädagogin im Bereich Altenarbeit tätig ist, zahlreiche Publikationen zu diesem Thema vorweisen kann und im vorliegenden Band interessante Vergleiche zwischen den Erinnerungskulturen in Großbritannien und Deutschland anstellt – von ihr stammen die von mir kritisierten Aussagen zu den »notorischen 68ern«, die, bitteschön, in ihren alten Konflikten stecken bleiben mögen, und sie ist es auch, die glaubt, Martin Walser als einen der »Wohlwollendsten« bei der Debatte über den deutschen Faschismus bezeichnen zu können – , Angelika Trilling möchte ich entsprechend zur selbstempathischen Klärung der eigenen Verletztheit ermutigen, die – so vermute ich – auf Verhaltensweisen der 68er zurückzuführen ist.  Denn um nicht missverstanden zu werden: es geht hier nicht darum, zurückzukritisieren – meinerseits nun –, sondern, um Kontextverständnis und Aufhebung der Unbewusstheit auf allen Seiten, damit aus dem Teufelskreis von Antihaltungen und Anti-Antihaltungen und Anti-Anti-Antihaltungen herausgefunden werden kann.

Wenn man – zu einem Teil ganz sicher zu Recht – uns 68ern vorgeworfen hat, dass unser Protest oft allzu  lieblos und aggressiv vorgetragen worden sei und unsere Kritik allzu oft auch geprägt erschien von einem moralischen Rigorismus, der für andere nur schwer erträglich war und auf ein sehr strenges – womöglich zwanghaft-starres – Überich zurückschließen lässt, dann sollte bei allem Verständnis für diese Kritik an der kritischen APO-Generation – gerade im Zusammenhang mit der »Kriegskinder«-Thematik hier! – doch auch festgestellt werden dürfen: man kann nicht andere Kinder erwarten, als von den Eltern erzogen worden sind – mit deren Begrenztheiten und deren Not! Und bedenkenswert ist doch sicher auch das Folgende noch:

  1. War dennoch nicht oft genug bei unseren Protesten die Sorge, die uns umtrieb, wahrnehmbar genug? Sollte sorgfältige psychohistorische Forschung nicht auch diese Frage klären: wie sah es auf der Gegenseite zur APO mit der Wahrnehmungsfähigkeit aus? Und vorher noch: was war mit dem Ursachenbündel der »Zweiten Schuld«? Nimmt man tatsächlich an, das habe nicht zur Entstehung der APO beigetragen?
  2. Trafen die genannten Vorwürfe – Aggressivität und moralischer Rigorismus – tatsächlich auf alle 68er zu? Stimmt wirklich dieses pauschale Verdikt, oder gab es nicht von Anfang an – ich glaube mich sehr genau zu erinnern! – auch die anderen 68er, von manchen »Genossen« als »systemimmanente Veränderer« oder auch »Psychofraktion« verschrien? Nicht zuletzt der Begründer des Verlages, in dem dieses Buch erscheint, kann ein Lied davon singen!
  3. Bestimmten nicht damals und bestimmen nicht heute vor allem auch medienspezifische Bilder den Blick? War es nicht damals so, und heute sieht das nicht anders aus, dass medientypischerweise vor allem die öffentliche Aufmerksamkeit gerichtet wurde auf die Extremformen dieser Bewegung? Rabatz machte fast immer Schlagzeilen. Aber auch das Argument? Also, quellenkritisch an die Adresse von Historikern und Psychologen gesagt: von welchen Quasigesetzlichkeiten der Mediengesellschaft wird bis auf den heutigen Tag das Bild von der APO nicht zuletzt auch – auch, sage ich – verzerrt? Und schließlich:
  4. Wie sah das eigentlich – in puncto Aggressivität und moralischer Rigorismusvor dem Entstehen der APO in der Bundesrepublik aus? Egal, ob man an Erziehungsdressuren im Haarer-Stil denkt oder an den Debattenstil im Bundestag? Kann man ex post von den 68ern an Reife verlangen, was kaum jemand sonst in der Gesellschaft vorher vorgelebt hat?

»Den richtigen Ton finden« für unsere Debatte, »differenziert analysieren«, eine »verantwortungsvolle Erinnerungskultur« entwickeln – das waren Brumliks Stichworte zum Beginn dieses Beitrags. Ich denke, dieser Forderungskatalog bedeutet für unsere Fragestellung hier:

  1. Durch die Erscheinungsformen der Geschichte und Geschichten hindurch ihr Wesen erkennen. Das ist, gerade wenn es ums »Subjektive« geht, nicht immer leicht; es schließt aber verstehende Einfühlung gerade auch in die unbewussten Prozesse mit ein, auf der eigenen wie auf der anderen Seite;
  2. zwischen Extremformen und Kerngeschehen unterscheiden lernen – und zwischen beidem den Zusammenhang erkennen;
  3. dabei Kenntnis berücksichtigen über die Quasigesetzlichkeiten der Mediengesellschaft; sonst droht die Gefahr selektiver Wahrnehmung bis zur völligen Entstellung der Wirklichkeit;
  4. der eigenen emotionalen Reaktionen bewusst werden und lernen, diese zu bearbeiten und zu verstehen – und dies nicht zuletzt so, dass auch der jeweils andere sie versteht oder verstehen kann.

Nur so, wenn sich Historiker dem Psychologischen öffnen und die Psychologen dem Historischen – und beide auch imstande sind, auf allen Seiten Unbewusstheit aufzuheben – , können wir Geschichte potentiell ganz verstehen: die Geschichte der »Kriegskinder«, die Geschichte der »APO-Generation« – und zwischen beiden Geschichten den Zusammenhang. Verständnis hier, Verurteilung da helfen nicht. Die Wahrheit ist nur als Ganze zu haben, der Mensch nur mit seiner vollständigen Geschichte ganz zu verstehen – oder gar nicht. Und ich meine: auch nur jenseits einer »Erinnerungspolitik« von links oder von rechts kann dies gelingen. Sonst lassen wir die »Kriegskinder«, die inzwischen erwachsen geworden sind, dort, wo sie das Leben als Grauen erfahren mussten: zwischen den Fronten.

 

»Literaturverzeichnis«

Aufbau Verlag Berlin (2004): Herbst 2004. Das Programm.

Bauriedl, T. (1988, Neuausgabe): Die Wiederkehr des Verdrängten. Psychoanalyse, Politik und der einzelne. München (Piper).

Bode, S. (2004): Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart (Klett-Cotta).

Brumlik, M. (2005, in Vorbereitung): Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin (Aufbau).

Chamberlain, S. (1997): Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher. Gießen (Psychosozial).

Dudenredaktion (Hg.) (2000): Die deutsche Rechtschreibung. Mannheim (Duden).

Frisch, M. (1966): Nun singen sie wieder. Versuch eines Requiems. In: ders: Frühe Stücke. Frankfurt am Main (Suhrkamp), S. 79-139.

Giordano, R. (1987): Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg (Rasch und Röhrig).

Haarer, J. (1934): Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. München (Lehmann).

Hardt, J. (2004): Die Frage nach dem Menschen stellen. Keine systemkonforme Psycho-technik neben anderen: Die Zukunft der Psychoanalyse und die Laienfrage am Beispiel von Hanns Sachs. In: Frankfurter Rundschau vom 8. Juni 2004, S. 19.

Heimannsberg, B., Schmidt, Chr. J. (Hgg.) (1988): Das kollektive Schweigen. Nazivergangenheit und gebrochene Identität in der Psychotherapie. Heidelberg (Asanger).

Lorenz, H. (2003): Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation. München (List).

Meyer, A. (1990): Die Kinder von Auschwitz. Göttingen (Lamuv).

Moser, T. (1996): Dämonische Figuren. Die Wiederkehr des Dritten Reiches in der Psychotherapie. Frankfurt am Main (Suhrkamp).

Naumann, K. (2004): Aus Anklage ist Klage geworden. Kronzeugen der Opfergesellschaft? In zahlreichen Buchveröffentlichungen melden sich die „Kriegskinder“ als eine neue Erinnerungsgemeinschaft zu Wort. In: Frankfurter Rundschau vom 17.4.2004.

Parin, P. (1988): Die Verarbeitung der Vergangenheit hat emotional nicht stattgefunden. In: die tageszeitung vom 12.11.1988, S. 3.

Platta, H. (1986): Der Kampf um Erinnerung. Anmerkungen zur Psyche-Kontroverse über die Rolle der Psychoanalyse im Nationalsozialismus. In: psychosozial 28, S. 92-104.

Platta, H. (1998): Ich-Vernichtung als Identitäts-Idee. Das Menschenbild der Neorechten in der Bundesrepublik. In: ders.: Identitäts-Ideen. Zur gesellschaftlichen Vernichtung unseres Selbstbewußtseins. Gießen (Psychosozial), S. 173-213.

Radebold, H. (2000): Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).

Schulz, H., Radebold, H., Reulecke, J. (2004): Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration. Berlin (Ch. Links).

Schwilk, H., Schacht, U. (Hgg.) (1994): Die selbstbewußte Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Berlin (Ullstein).

Sperling, E., Jahnke, J. (1974, Neuauflage 1993): Zwischen Apathie und Protest. Bde I und II. Bern und Göttingen (Huber).

Wahrig, G. (Hg.) (1978): dtv-Wörterbuch der deutschen Sprache. München (dtv).

Welzer, H., Moller, S., Tschugnoll, K. (2002): „Opa war kein Nazi!“ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main (Fischer).

Welzer, H. (2004): Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationsromane. In: Mittelweg 36, 1, S. 53-64.

Winnicott, D. W. (1999): Kind, Familie und Umwelt. München (Reinhardt).

Wirth, H.-J. (1988/89): Der Fall Jenninger und unsere Schwierigkeiten mit der deutschen Vergangenheit. In: psychosozial 36, S. 55-61.

Wirth, H.-J. (2001): Hitlers Enkel oder Kinder der Demokratie? Gießen (Psychosozial).

 

Anmerkung der Redaktion: Der zweiteilige Artikel von Holdger Platta überschneidet sich thematisch in vielerlei Weise mit dem Inhalt seines Gedichtbands “Ruhmesblatt mit Linsengericht”, den wir auf diesem Weg noch einmal wärmstens empfehlen. Rezension zum Buch hier.

Holdger Platta:
Ruhmesblatt mit Linsengericht. Erzählgedichte
Pop Verlag
82 Seiten, Euro 12,80

 

 

 

 

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