Ärzte des Grauens

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

Die letzten Wochen im Leben des Patienten Rupert R., rekonstruiert aus seinem hinterlassenen Tagebuch. Ende November suchte mich die Krankenschwester Aïsha Özgyl (Name von der Redaktion geändert) in der Redaktion auf, um mir ein – wie sie sagte – brisantes Dokument zu überreichen. Es handle sich um das Tagebuch meines unlängst an der Eichhörnchengrippe verstorbenen Freundes Rupert R. Die in 60 % der Fälle zum Tode führende virale Infektionskrankheit, war in den Monaten zuvor in einer beispiellosen Medienkampagne zur neuen gefährlichen Volksseuche ausgerufen worden. Angst und Misstrauen grassierten in der Bevölkerung, und umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen – teilweise verbunden mit der vorübergehenden Aufhebung von bürgerlichen Grundrechten – wurden von den Gesundheitsbehörden verhängt. Ruperts Tagebuch ist ein erschütterndes Dokument. Die dort enthüllten Sachverhalte sind wirklich kaum zu glauben, würden aber, wenn sie zuträfen, unser Bild vom ärztlichen Beruf und von der Aufgabe des Gesundheitswesens in unserer Gesellschaft grundlegend erschüttern.  Ein satirischer Thriller von Roland Rottenfußer

25.07.09

Ich darf um keinen Preis krank werden. Zum Glück reichen die Multivitamin-Präparate von Dr. Kroll eine Weile. Hochdosierte Antioxydantien sind der wirksamste Schutz. Dazu mache ich täglich meine bioenergetischen Übungen, um den Energiefluss im Körper zu aktivieren, und gehe in die Sauna, um meine Toleranz gegenüber extremen Temperaturschwankungen zu erhöhen. Ich tue wirklich, was ich kann. Die Ärzte dürfen gar nicht erst auf mich aufmerksam werden.

Meinen Kollegen Wimmer haben sie vor zwei Wochen im Städtischen Sanatorium eingeliefert. Er hatte eigentlich nichts. Manchmal so ein Jucken an den Nasenflügeln. Gestern kam die Nachricht, Wimmer sei an Eichhörnchengrippe verstorben. Die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen. Ich hatte ihn noch gewarnt: «Fliehen Sie, Herr Wimmer! Die haben Sie auf dem Kieker. Die Krankl, die alte intrigante Ziege, die denunziert doch jeden, der nur dunkle Ringe unter den Augen hat. Und wenn die Ärzte Sie erst mal haben, kommen Sie so schnell nicht wieder raus.» Aber Wimmer wollte mir nicht zuhören. Immer wieder sagte er: «Was wollen Sie? Ärzte sind doch dazu da, uns zu helfen!» Jetzt ist er tot.

(…)

01.08.09

Seit die Medien die Sache mit der Eichhörnchengrippe lanciert haben, sind die Kontrollen strenger geworden. Gefahr für die öffentliche Gesundheit, heisst es. Jeder, der Anzeichen der Krankheit bei sich entdeckt – z.B. ein trockenes Hüsteln, Niesen oder Mundtrockenheit – ist verpflichtet, sich unverzüglich bei einer ärztlichen Bereitschaftsstation zu melden. Auch wenn wir solche Symptome bei Anderen bemerken, bei Kollegen, bei Freunden, bei unserem Partner, sind wir verpflichtet, sie zu melden. Letzte Woche, als mir beim Schulterstand das Hemd aus der Hose gerutscht ist und das Fenster einen Spalt offen war, hatte ich das Gefühl, ich erkälte mich. Ein paar mal habe ich laut gehustet. Aber die Nachbarn waren zum Glück ausser Haus. Es hat sicher niemand gehört – ausser Anna. Sie würde mich nie verraten.

(…)

09.08.09

Sie haben mich erwischt. Irgendjemand muss mich denunziert haben. Ich habe im Büro ein paar Mal laut geschnieft – wohl wegen der Staubschicht auf den alten Akten, die ich sortieren musste. Die Krankl hat dabei so komisch zu mir rüber gekuckt. Da hab ich eigentlich schon geahnt, dass es zu spät ist.

Der ÄET, der Ärztliche Eingreif-Trupp kam durch’s Fenster, als ich gerade mit Anna beim Fernsehen sass. Sie haben es einfach eingeschlagen, nachdem ich auf ihr Klingeln nicht reagiert hatte. Sie trugen Gasmasken und sterile Gummi-Anzüge, eine Art Ganzkörperkondom. Sie haben mich am Arm gepackt, die Treppe herunter geschleift und in einen Krankenwagen gestossen, der mit Blaulicht vor dem Haus parkte. Die Nachbarn haben zugeschaut, aber keiner hat eingegriffen. Es sind immerhin Ärzte. Und wenn Ärzte etwas tun, hat das Hand und Fuss und basiert auf unzweifelhafter fachlicher Autorität.

Gott sei Dank wirkte Anna gefasst bei meiner Festnahme. Ich weiss nicht, ob ihr klar ist, was da geschehen ist und dass sie mich vielleicht nie wieder sehen wird. Vier meiner Freunde und Bekannten sind im Städtischen Sanatorium verschwunden, seit Eichhörnchengrippe ausgebrochen ist. Das Sanatorium hat einen gesegneten Appetit. Es verschluckt lebendige Menschen, gesunde, kräftige Männer und Frauen, die durch das zahllose Maul des grossen Eingangstors eingeliefert werden, und scheidet sie durch den Hinterausgang als Leichen wieder aus.

Es steht alles in den Marquardtsfelder Mitschriften, die zurzeit in Insider-Kreisen im Internet kursieren. Da steht haarklein, was die Ärzte wollen und was sie mit uns vorhaben. Auch von den Riesenprofiten, die der Pharmakonzern mit dem Patenten auf Dimitylpirazolon, dem einzigen wirksamen Medikament gegen die Grippe, gemacht hat. Aber niemand wollte mir glauben. (…)

 

10.08.09

Sie haben mich auf die Quarantänestation gesteckt. Bei der Anmeldung musste ich unterschreiben, dass ich mit meinem Vermögen für alle Behandlungskosten hafte. Bei der Einlieferung war ich noch top fit, aber seit sie mir die antivirale Medikation gegeben haben, fühle ich mich nur noch elend. Fünf mal am Tag muss ich auf die Toilette zum Erbrechen. Mein Kopf ist schwer und dumpf und schwirrt wie nach einer durchzechten Nacht. Ich sehe alles nur noch verschwommen. Alles wirkt so seltsam fremd und unwirklich. Es juckt überall, so als wäre meine ganze Haut ein riesiges nässendes Ekzem.

Dabei geht es mir noch gut im Vergleich zu Huber, meinem Nachbarn. Als ich hereinkam und ihn da liegen sah, dachte ich zuerst: «Ist es schon so weit, dass sie mich ins Leichenschauhaus bringen?» Huber sieht tatsächlich so aus, als ob kaum noch Leben in ihm wäre. Sein Gesicht ist wie eine hauchdünne Schicht Hefeteig – auf einen Totenschädel aufgespannt. Es hat die Farbe von Post-it-Zetteln, während seine Augenränder ins Schwärzlich-Lilane spielen. Ich schätze ihn auf 60-65. «Eichhörnchengrippe im fortgeschrittenen Stadium», sagen die Ärzte.

Bei mir ist es aber noch im Anfangsstadium. Dr. Sägebrecht macht mir auch durchaus Hoffnung, zu überleben. «Wir können Sie durchbringen», sagt er, «aber wir werden nicht umhinkommen, die Dimithylpyrazolon-Dosis zu erhöhen.» (…)

12.08.09

Schwester Aïsha mag mich, glaube ich. Trotzdem tut es natürlich weh, dass mich Anna seitdem kein einziges Mal besucht hat. Naja, Gespräche wären sowieso nur durch Glasscheibe und Sprechanlage möglich gewesen, wegen der Ansteckungsgefahr. Sicher hat sie etwas sehr schwer Wiegendes daran gehindert, zu kommen.

(…)

16.08.09

Herr Huber ist unlängst aufgewacht und hat wirres Zeug geredet. Ein Wunder, dass er überhaupt noch sprechen kann. «Fliehen Sie!», hat er mir zugemurmelt. «Schauen Sie, dass Sie hier rauskommen, solange Sie noch die Kraft haben. Für mich ist es schon zu spät.» Dann röchelte er noch etwas Unverständliches – es klang wie «Sie werden sein wie ich» – und wurde wieder bewusstlos.

Am Tag darauf fragte ich Schwester Aïsha, wie alt Herr Huber ist. Sie schaute in ihre Unterlagen und sagte: «43». Vielleicht hat sie sich ja geirrt. Das wäre ja ungefähr so alt wie ich selbst bin. Obwohl ich auch schon ziemlich schlecht aussehe, ich traue mich schon kaum mehr in den Spiegel zu sehen. Scheiss Dimithylpyrazolon!

Ich habe einen Trick angewandt, den ich in «Einer flog über das Kuckucksnest» gesehen habe. Die Tabletten unter der Zunge verschwinden lassen, sie später wieder ausspucken und ins Klo spülen. Ich fühle mich schon viel kräftiger.

In ein paar Tagen kann ich daran denken, zu entkommen. Ich fahre mit dem Fahrstuhl im Nordflügel ins zweite Untergeschoss, wo die Pathologie und die Organentnahme untergebracht sind. Nachts hält sich kein Lebender mehr dort auf. Eine Treppe führt am anderen Ende des Ganges zur Oberfläche, in den Garten des Sanatoriums. Vielleicht kann ich irgendwie rauskommen, ein Fenster einschlagen … Schwester Aïsha hat mir die Pathologie genau beschrieben. Wir kamen darauf zu sprechen, weil sie immer solche Angst davor hat, dort hinunter zu gehen. Sie gruselt sich vor den sterilen Seziertischen mit den Abflussrinnen und den langen Schubfächern, wo die Toten aufbewahrt sind. Ich habe Schwester Aïsha gebeten, dass sie mein Tagebuch aus dem Nachtkästchen nimmt, falls mir was passieren sollte, und dass sie es einem Freund von mir überbringt, einem Journalisten.

Ich denke, übermorgen wäre ein guter Tag für die Flucht.

(…)

19.08.09, 10.45 Uhr

Sie haben mich erwischt. Ich bin noch bis in die Pathologie gekommen. Dann stiess ich, weil es dunkel war, an eines dieser Gläser auf dem Seziertisch, in dem menschliches Gewebe in Flüssigkeit eingelegt ist. Es hat einen grossen Krach gegeben, alles ist auf dem Boden verspritzt worden, und da muss wohl ein Alarm ausgelöst worden sein. Sie haben mich gegriffen, mir eine Spritze in den Oberrarm gerammt und mich an mein Bett gefesselt.

Jetzt sind meine Arme und Beine wieder frei, wohl weil sie wissen, dass ich zu schwach bin, um jemals wieder zu fliehen. Gott sei dank haben sie nicht daran gedacht, mein Tagebuch zu überprüfen. Dies ist vielleicht mein letzter Eintrag, und meine Hände zittern von dem Betäubungsmittel und der verschärften Dosis Dimithylpyrazolon, die sie mir eingeflösst haben, um mich ruhig zu stellen. (…)

 

19.08.09, 15.50 Uhr

Ich werde nicht mehr lange leben … Das Dimithylpyrazolon … Gerade hatte ich ein Büschel Haare in der Hand und auch einer meiner Zähne ist mir ausgefallen. Zwei andere beginnen zu wackeln. Ich will auch nicht mehr leben. Wozu auch? Ich weiss jetzt definitiv, wer mich beim Ärztlichen Bereitschaftsdienst angezeigt hat. Es war Anna. Schwester Aïsha hat es für mich im Krankenhauscomputer nachgeschaut und mir den Ausdruck gezeigt. Wahrscheinlich wollte mich Anna loswerden, um mit dem jungen Doktor zusammen zu sein, den sie bei der Vorsorgeuntersuchung kennen gelernt hat. Er ist immerhin Arzt, und Ärzte imponierten ihr schon immer.

(…)

19.08.09, 21.30 Uhr

Dr. Sägebrecht hat mir die Wahrheit gesagt, als wir allein waren am frühen Abend, im Krankenzimmer. Wohl weil er dachte, ich wäre nicht mehr in der Lage, es irgendjemandem weiter zu erzählen. Ich habe ihn auf den Kopf zu gefragt, ob es wahr ist, was in den Marquartsfelder Mitschriften steht: dass Eichhörnchengrippe ein von Ärzten gezüchteter Virus ist, der bewusst in Umlauf gebracht wurde, um die Gesundheitskosten in die Höhe zu treiben. Dr. Sägebrecht hat dann nur so in sich hineingelächelt, aber nicht um mich auszulachen. Es war, als ob er mir sagen wollte: «Wenn Sie wüssten …!»

Ich konnte dann mit meiner immer schwächer werdenden Stimme nur noch eine Wort herauspressen: «Warum?»

Dies ist, was Dr. Sägebrecht antwortete. Ich versuche es nach bestem Gewissen aus dem Gedächtnis wiederzugeben:

«Die Bettenbelegung ist in den letzten Monaten kontinuierlich zurückgegangen. Fälle von wilder Selbstmedikation, das verantwortungslose Treiben von Naturmedizin-Dealern, die grassierende Präventionsmentalität in der Bevölkerung. … Unser grösster Alptraum schien in greifbare Nähe gerückt: Ein Millionenheer von Bürgern, denen es tatsächlich gut geht. Wir konnten da nicht länger tatenlos zusehen. Die wissen ja gar nicht, was sie anrichten, diese selbst ernannten Gesundheitsapostel. Es hängen doch hunderttausende von Arbeitsplätzen an der Gesundheitsindustrie und am Krankenhausbetrieb dran. Ein Wirtschaftsfaktor ersten Ranges und einer der wenigen mit nahezu unbegrenztem Wachstumspotenzial. Die Situation ist viel zu ernst, als dass wir den Gesundheitszustand der Bevölkerung länger hätten dem Zufall überlassen können. Ich gehe so weit zu sagen: es besteht unter den gegebenen Umständen sogar eine Pflicht für die Menschen, krank zu sein. So lange es auch nur einen einzigen gesunden Menschen im Land gibt, besteht im Gesundheitssektor noch Wachstumspotenzial …«

 

Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle bricht das Manuskript ab. Die Schrift wird unleserlich. Wenige Stunden später, gegen Mitternacht, verstarb Rupert R. Laut Totenschein an Eichhörnchengrippe im fortgeschrittenen Stadium.

Kommentare
  • Piranha
    Antworten
    Köstliche Satire 🙂

    Wachstum, Wachstum ist das Mantra.

    Tatsächlich ist das DRG-System wachstumsgenerierend: es sind all die Krankheiten in die Höhe geschossen, die besonders viel Geld erwirtschaften, allen voran Operationen an Gelenken, Herzkatheteruntersuchungen und ein paar weitere.

    Und je früher ein Patient keiner mehr ist, desto höher die Gewinnmarge. „Blutige Entlassung“ nennt man das, wenn ein Patient zu früh aus der Behandlung entlassen wird. Das Entgelt bleibt immer gleich, ob jemand die vom DRG festgelegte Zeit bleibt, oder früher rausgeschmissen wird.

    Dennoch dürfen wir die Not in Krankenhäusern nicht übersehen, das fehlende Personal, die Erschöpfung derer, die die Lücken füllen. Aber Hilfe ist in Sicht: ganz Deutschland pilgerte nach Mexiko, um sich dort die Qualifiziertesten abzugreifen. Verschwiegen wird, dass diese in ihrem eigenen Land schmerzlich fehlen; das verschweigt Spahn. In der Rolle des Wohltäters gefällt er sich besser.

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