Auf die harte Tour: Wie ich die Freiheit lieben lernte

 In Buchtipp, FEATURED, Politik, Roland Rottenfußer

Vorwort zu Roland Rottenfußers Buch “Strategien der Macht. Wie die Eliten uns die Freiheit rauben und wie wir sie zurückerobern. In diesem sehr persönlichen Kapitel erzählt der HdS-Chefredakteur, wie es dazu kam, dass er Abscheu vor jedem Machtmissbrauch entwickelte und zu einem “Freiheitsjournalisten” wurde. “Corona” ist zwar der aktuelle Hintergrund, vor dem sein Buch entstand, die Betrachtungen gehen jedoch  tiefer. Warum will überhaupt jemand Macht ausüben, und warum lässt sich eine Mehrheit der Beherrschten immer wieder erniedrigen und dominieren? Und vor allem: Wie können wir es beim “nächsten Mal” besser machen? So sehr wir aber Unterdrückung auch hassen – wir werden unsere Situation kaum verbessern können, wenn wir nicht neu lernen, die Freiheit zu lieben. Denn ohne eine Vorstellung davon, was es bedeuten kann, frei zu atmen, kann es sein, dass wir den Despotismus als “alternativlos”, als selbstverständliche Begleiterscheinung unseres Erdenlebens akzeptieren. Roland Rottenfußer

 

1984 – durch Zufall wurde das berühmte Jahr auch für mich das Jahr einer ganz persönlichen Totalitarismus-Erfahrung. Dabei war Deutschland seinerzeit noch ein relativ freies Land. Aber egal, wie freiheitlich ein Gemeinwesen auch verfasst ist – wer dem Militär in die Hände gefallen ist, befindet sich in einer Diktatur. Ich stand also in besagtem Jahr an einem Sonntag im Winter in einer Münchner Kaserne Wache – das Gewehr über der Schulter. Ja, Sie haben richtig gelesen, ich habe meinen Wehrdienst abgeleistet. Wer jetzt dazwischenrufen möchte: “Selber schuld!”, wer anmerkt, das sei ein befremdliches Verhalten für einen Menschen, der sonst eher als halbwegs intelligenter, freiheitsliebender Autor bekannt ist, dem kann ich nicht widersprechen. Es war ein Fehler gewesen, zur Bundeswehr zu gehen – ein Fehler, zu dem mich Lauheit und mangelnde weltanschauliche Klarheit getrieben hatten, aber auch die damals relativ hohen Hürden, die “Verweigerern” in den Weg gelegt wurden.

Doch es gibt Fehler, die sich im Nachhinein als prägend und in gewisser Weise fruchtbar erweisen. Gemessen an den Erfahrungen, die andere Wehrdienstleistende mit dem “Bund” gemacht hatten, waren meine nicht sonderlich “hart” oder traumatisierend gewesen. Gerade dies betrachte ich aber im Rückblick als das Schlimme: Die Art, wie ich behandelt wurde und wie ich mich behandeln ließ, war “normal” – die Normalität fortdauernder Entwürdigung und Unterdrückung. Ich wusste damals noch nicht viel vom Leben und von Politik. Aber ich wusste fortan, wogegen ich war – was ich auf keinen Fall jemals wieder mit mir geschehen lassen wollte. Es war die Erfahrung, einem überlegenen “Regime” und seinem in kränkender Weise absurden Reglement absolut machtlos ausgeliefert zu sein und von nirgendwoher Hilfe erwarten zu können. Schon gar nicht von “meinem” Staat, denn der war es ja gewesen, der sich all das ausgedacht hatte, mit seinen Machtmitteln aufrechterhielt und schützte. Ich habe meinem Staat seither nie wieder wirklich vertraut, obwohl die Jahrzehnte, die auf meinen Wehrdienst folgten, gemessen an heutigen Verhältnissen eine gute und milde Zeit waren.

Ich stand auf Wache, mir war elend, mir war kalt und ich war müde. Denn in den kurzen Ruhestunden, die einem der Wachplan einräumte, konnte ich keinen Schlaf finden. Wer Wochenend-Wachdienst hatte, befand sich quasi im Herzen der Finsternis. Er hatte eine “Arbeitswoche” hinter und eine vor sich, in der er nicht nach Hause durfte. Wenn man überdies eine schlechte “Lage” – also eine noch unübersehbare Zahl von Diensttagen bis zur Entlassung – vor sich hatte, war die psychische Gesamtsituation des Rekruten nur als schwärzeste Verzweiflung zu beschreiben.

Ich lernte damals einiges über Macht: etwa, dass sie mit einer Arroganz und Unduldsamkeit auftritt, die umso größer ist, je läppischer und schäbiger die Forderungen sind, die sie an ihr Unterworfene stellt. Ich lernte, dass kein Durchkommen war für Vernunft und Menschlichkeit und dass es keinen Ausweg gab, da die “andere Seite2 immer Recht und Gesetz im Rücken hatte. Ich lernte auch, was damals allen Wehrpflichtigen bewusst war, wogegen sie aber machtlos waren: Sinnlose und erniedrigende Befehle wurden nicht “zufällig” oder nur ausnahmsweise erteilt – sie hatten Methode in einem System, dessen vordringliche Aufgabe es war, die ihm Ausgelieferten zu brechen. Selbst wenn man sich so weit auf die Militärlogik einlässt, das Töten von “Feinden” in einem bestimmten Kontext für ein sinnvolles und legitimes Ziel zu halten – die Formalitäten der “Ausbildung” sind es gewiss nicht. Sie zielten auf eine Dressur zu widerstandsfreier Unterwerfung ab – ohne Fragen zu stellen und den Sinn der Befehle zu hinterfragen. Nur der so Abgerichtete war fähig, später in einem möglichen Ernstfall wie besinnungslos in das Gewehrfeuer des Gegners zu laufen, für das “Vaterland” und die von ihm geführten sinnlosen Kriege zu töten und notfalls zu sterben. Das Militär – damals selbst noch im technisch vergleichsweise unterentwickelten Stadium – wollte den Maschinenmenschen, denn das Maschinenhafte am Soldaten war für dessen Zwecke weitaus besser brauchbar als das leider immer noch Menschliche.

All das ist nicht neu. Militärische Entwürdigung als System hat es vor 1984 gegeben, und es gibt sie bis heute. Gespenstischerweise erzählte mir mein Vater aus seinem Militärdienst unter Hitler etwas ganz Ähnliches. Ich zitiere aus seiner privat verlegten, bewegenden Autobiografie: “Der Umgang der Vorgesetzten mit uns Rekruten war willkürlich. Man ließ uns exerzieren, auf dem Boden robben und laufen. Ständig hieß es: ‘Hinlegen!’, ‘Auf, Marsch, Marsch!’ Wenn man einem Vorgesetzten nicht sympathisch war, waren verschiedene Strafmethoden üblich: eine Extrarunde um den Kasernenhof laufen, Kniebeugen mit dem Gewehr in den ausgestreckten Armen oder Scheißhaus reinigen mit einer Zahnbürste. Jeder eigene Wille wurde vollständig gebrochen, sodass man den gemeinsten und brutalsten Vorgesetzten hilflos ausgeliefert war.«[i]

In der guten alten Bundesrepublik lief das alles natürlich um einige Grade sanfter ab. Ich wurde im Gegensatz zu meinem Vater nie in einen “heißen Krieg” geschickt, wurde durch das militärische Geschehen somit nur mäßig traumatisiert. Dennoch hat sich das Erlebnis eingeprägt. Wie kann es dazu kommen, so fragte ich mich schon damals, dass sich ein solches System von Gewalt und Zwang überall auf der Welt und in praktisch allen Menschheitsepochen durchsetzen konnte? Es gibt ja neben dem Kasernenhof noch andere Zonen reduzierter Menschenwürde, die man auf der ganzen Welt findet: Gefängnisse, Lager, Erziehungsanstalten … Was geht in den Menschen vor, die uns als “Machthaber” gegenüberstehen, die das Werk der totalen Unterwerfung scheinbar ungerührt an uns exekutieren? Wie wurden diese Menschen zu dem, was sie geworden sind? Wie wurde aus dem weichen, nach Mutterwärme und Trost verlangenden Säugling der erbarmungslose Brüller und Schleifer? Was ist schiefgelaufen in deren Entwicklung? Manchmal glaubte ich in den Augen solcher “Ausbilder” etwas wie Befriedigung darüber zu bemerken, wenn es ihnen gelang, uns zu schikanieren – so als würden sie aus dem unhörbaren “Knacksen”, das man erahnen kann, wenn der Wille eines Unterworfenen bricht, eine Art giftiger Befriedigung saugen, mit deren Hilfe sie ihr labiles Selbstvertrauen nähren konnten.

Aufgrund welcher psychischen Vorgänge strebt jemand Macht an – auch in ihren erkennbar schäbigen und entwürdigenden Erscheinungsformen? Dieser Frage war ich seither auf der Spur und bin es bis heute. Nicht zu vergessen die sich daran anschließende Frage: Warum dulden die Opfer all das? Letzten Endes also auch ich. Denn ich bin in dieser Geschichte zwar der Protagonist, keineswegs aber der Held. Was hindert die vielen daran, gegen die wenigen aufzustehen, die sie drangsalieren und aller Würde berauben?

Meine Geschichte erfuhr aber vorübergehend eine positive Wendung. In jener Nacht, in der ich Wache stand, hatte nämlich einer meiner “Kameraden” – wie man die Leidensgenossen nennen musste – ein Buch dabei, das er in den Pausen in der Wachstube eifrig las. In einem Umfeld eher grob gestrickter, wenn auch teilweise menschlich integrer Kameraden erkannten sich die feineren, die sensibleren von ihnen instinktiv und rückten zu einer kleinen, wärmenden Gemeinschaft zusammen – oft nur für Stunden, die die Kälte des Zwangsregimes ein wenig erträglicher machten. Mein Kamerad also hatte ein Buch von Erich Fromm dabei: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen.[ii] Ich las nur wenige Abschnitte darin und war fasziniert. Sobald ich wieder nach Hause konnte, besorgte ich mir dieses und in der Folge noch viele weitere Bücher von Erich Fromm. Die Furcht vor der Freiheit[iii] war vielleicht dasjenige, das mich am stärksten prägte.

Erich Fromm also entzündete in diesem “Herzen der Finsternis” ein kleines Licht. Seine Bücher konnten mich nicht aus der Gewaltherrschaft des Militärs befreien – das hätte ich allenfalls unter Schwierigkeiten in Form von “nachträglicher Verweigerung” gekonnt; aber das Buch half mir, meine Erfahrungen einzuordnen und zu deuten. Es zeigte mir, dass mein innerer Widerstand gegen das System, das mich bis zum Ersticken einzwängte, einer gesunden Regung entsprang, dass nichts falsch daran war, in ein Umfeld, das ganz offenbar krank und böse war, nicht recht hineinzupassen. Meine “Ausbilder” beim Militär hatten mich wohl nicht gründlich genug gebrochen – vielmehr hatten sie in dem damaligen “Rekruten” vor allem einen zwar gewaltfreien, aber beharrlichen und zähen Gegner jeder Art von Machtmissbrauch rekrutiert.

Einige Jahre vor Erich Fromm hatten schon andere Dichter und Schriftsteller den Freiheitsfunken in mir entzündet. Friedrich Schillers Don Carlos[iv] vor allem und George Orwells 1984,[v] über das die Medien just im Jahr meiner schlimmsten Knechtschaft bei der Bundeswehr selbstgerecht vermeldeten: “George Orwells Schreckensvision hat sich nicht bewahrheitet.” Ja, damals noch nicht. Ich habe Bücher immer ernst genommen, und im Grunde – selbst wenn dies vielen merkwürdig vorkommen mag – werfe ich der Corona-Politik der Jahre 2020 bis 2022 vor allem dies vor: dass sie gegen Grundsätze verstößt, die von großen Denkern wie Schiller, Orwell oder Fromm lange vorher in sehr plausibler, ja begeisternder Form beschrieben worden waren. Ich werfe der heutigen Politik vor, ihre geistigen Wurzeln vergessen zu haben und die Welt mutwillig in eine Richtung zu lenken, von der für mich von vornherein feststand, dass sie ins Verderben führen würde.

Nach meinem Bundeswehr-Intermezzo und während meines Studiums forschte ich weiter, und die Freiheit begleitete mich. Man muss in relativer Freiheit leben, um überhaupt ungestört über Freiheit nachdenken zu können. Sobald der Despotismus sein Haupt erhebt, deformiert er die Gedanken der Menschen. Die bittere Wahrheit ist: Es ist gar nicht sicher, ob ein freies Denken, wie es mir geschenkt wurde und wie ich es mir in den darauffolgenden Jahrzehnten erarbeitet habe, heute für jüngere Menschen überhaupt noch möglich ist. Zumindest wird es durch die Umstände extrem erschwert. Umso wichtiger ist es, dass diejenigen, die die “alte Normalität” noch gekannt haben, nicht müde werden, an sie zu erinnern. Wir Älteren sind Bewahrer des Feuers. Es mag zwar auf einen beklagenswerten Rest heruntergebrannt sein – die Glut aber gilt es zu schützen, weil sich ohne sie ein neuer Flächenbrand des Freiheitsbewusstseins kaum wird entzünden lassen können.

Friedrich Schiller lässt in seinem Don Carlos dem Titelhelden ausrichten, “dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird. Jetzt bin ich ein Mann und nicht mehr der Allerjüngste. Bezogen auf die heutige politische Lage bedeutet das Zitat für mich, allem die Treue zu halten, was ich in jüngeren und empfänglichen Jahren als gut und heilsam erkannt habe: den Büchern, den Dichtern wie den Gedanken. Und diese Gedanken fruchtbar zu machen für die Zeit, in der wir jetzt das Glück oder Unglück haben zu leben.

Dennoch soll dieses Buch kein literarischer Gang durch ein Freiheitsmuseum werden. Es ist zutiefst geprägt und überschattet von einem aktuellen politischen Geschehen, das am besten unter dem Etikett “Corona” bekannt ist. Der schockierende und im Wesentlichen erfolgreiche Generalangriff auf unsere Freiheits- und Bürgerrechte hat mich aufgewühlt wie kein zweites politisches Ereignis zu meinen Lebzeiten. Ich bin schon lange ein Freiheitsjournalist gewesen. Blättere ich in den Listen meiner älteren Veröffentlichungen, so finde ich überall den Geist des Widerstands gegen jede Form der illegitimen Einschränkung unserer Spielräume – der körperlichen wie auch der geistigen und sprachlichen. Ich bin – ausgelöst sicher auch durch meine wenig ruhmreiche Erfahrung als “Wehrpflichtiger” – auf dem Freiheitsohr sehr hellhörig geworden und geblieben – und finde mich hineingestellt in ein gesellschaftliches Umfeld, das dabei ist, auf ebendiesem Gebiet gänzlich zu ertauben. Doch erst mit “Corona” war ich derart aufgescheucht, dass ich – in fast wöchentlichen Artikeln im Webmagazin Rubikon[vi] und anderswo – die Freiheit und deren illegitime Einschränkung zu meinem Hauptthema als Autor gemacht habe.

Es ist wohl die Tragik der Nachkriegskinder, die es in vielem leichter hatten als ihre Vorgängergenerationen, dass sie kaum gelernt haben, zu kämpfen und Schweres zu durchleben. Die Tyrannei, die wir lange wie ein fernes Märchen aus sicherem Abstand bestaunt haben, die wir zu “bekämpfen” meinten, als dies noch völlig gefahrlos war – viele von uns erkennen sie nicht mehr, jetzt, da sie direkt vor uns steht. Die Menschen unserer Generation sind ihren Ahnen nie näher gewesen als in ihrer derzeitigen Verblendung, in diesem wie gelähmten und lähmenden Akt der Unterwerfung. Der sicherste Weg, eine Bewährungsprobe nicht zu bestehen, ist, zu leugnen, dass es sich überhaupt um eine Prüfung handelt. Wir glauben, unsere Ketten wären erträglicher, wenn wir so tun, als existierten sie nicht. Wer nicht das Bedürfnis hat, seinen Radius um mehr als ein paar Meter zu erweitern, spürt nicht, wie ihm die Hundeleine seines Herrchens in den Hals schneidet – und meint vielleicht, er/sie sei frei. Wird die Leine kürzer gezogen, fühlt sich auch die Unfreiheit schmerzhafter an – und vielfach ist es dann schon zu spät.

Im Foyer des Gymnasiums, das ich neun Jahre lang besuchte, hing ein Metallschild, das den Kopf des “Namenspatrons” zeigte. Darauf stand: “Professor Kurt Huber – kämpfte und starb für Geistesfreiheit und Menschenwürde”. Nun, ich mache niemandem einen Vorwurf, der es dem großen Mentor der Widerstandsbewegung “Weiße Rose” nicht gleichtun kann und nicht bereit ist, für Freiheit und Würde zu sterben. Ich bin kein Held, im Grunde habe ich mich meinen Leserinnen und Lesern eher als eine Art Antiheld vorgestellt. Was mich aber traurig stimmt, ist, dass nur ein Bruchteil der Menschen, die mit Geschichten wie denen von Kurt Huber aufgewachsen sind, bereit zu sein scheint, wenigstens für die Freiheit zu leben – oder sich dafür einzusetzen, dass so viele Menschen wie möglich in Freiheit leben können.

Meine Bundeswehrzeit brachte ein ebenso pompöses wie skurriles Event mit sich: das Rekrutengelöbnis. Zu diesem Anlass mussten wir geloben, “der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen”. Mir bedeutet diese “Deutsches Volk”-Rhetorik nicht viel. Aber der Satz hat Kraft und er besitzt Würde, auch wenn er ständig missbraucht wird. Zunächst, weil Soldaten schon längst wieder in gefährliche und sinnlose Kriege geschickt werden – von Befehlshabern, die nie selbst unter Todesangst in Schützengräben übernachten müssen. Und dann auch, weil jegliches Militär ganz offensichtlich der Freiheitskiller Nummer eins ist. Weil zwar die Wahrheit in jedem Krieg vielleicht das erste Opfer ist, die Freiheit jedoch das zweite. Dennoch denke ich in letzter Zeit manchmal an den Spruch aus dem Rekrutengelöbnis, wenn ich sehe, mit welch perfiden und zugleich raffinierten Mitteln das Recht und die Freiheit der Bevölkerung heute mit Füßen getreten werden und wie weit entfernt unsere Mitbürger davon entfernt sind, diese “tapfer zu verteidigen”.

Ja, wir smarten, verwöhnten und lauen “Baby-Boomer”. Unser behütetes Aufwachsen war überschattet von einer Art Johannisnacht-Melancholie, von der dumpfen Ahnung, die sich manchmal auf dem Höhepunkt der Party einschleicht und die uns zuflüstert, dass wir das Dunkelste noch vor uns liegen haben. Wir sind die Generation, die Umweltzerstörung, Turbokapitalismus, neue Angriffskriege und jetzt diese völlig neuartige Form des Hygiene-Totalitarismus mehrheitlich in einer Haltung grotesker Duldungsstarre über sich ergehen lässt. Das Urteil der Nachwelt über uns dürfte nicht schmeichelhaft ausfallen.

Unsere Väter haben Schreckliches durchlebt, in einigen Fällen auch Schreckliches getan, uns Jüngeren aber eine bessere Welt hinterlassen. Bei uns dürfte es umgekehrt sein. Wir könnten als eine Generation in die Geschichte eingehen, der in historisch beispielloser Weise gute Startvoraussetzungen geschenkt wurden, die ihren Nachkommen jedoch eine spürbar schlechtere, ja eine in vieler Hinsicht bereits unerträgliche Welt hinterließ. Ja, wir sind dabei, die Freiheit zu verspielen, so wie man das unpassende Weihnachtsgeschenk einer ungeliebten Tante in den Mülleimer wirft, sobald die Tür hinter ihr zugefallen ist.

Wenn jetzt nicht etwas ganz Grundlegendes geschieht, dann war’s das mit der Freiheit. Sie dürfte nicht so sehr an den Angriffen sterben, die ihre erklärten Gegner geschickt gegen sie führen, sondern vielmehr an der Lauheit und Gleichgültigkeit derer, die sie so lange genossen haben. Hat irgendeiner der klassischen “Werte” unserer Kultur uns, die wir in ihrem Schutz lebten, mehr Gutes geschenkt als die Freiheit? Und wurde jemals einer schmählicher verraten? So lange schon wälzen wir uns im Bett der falschen Braut. Sie wurde fett von unserer Angst, von der sie sich nährt – und sie heißt “Sicherheit”. Wir haben verlernt, den blauen, den weiten Himmel zu lieben, und begnügen uns mit dem Blick auf den Gefängnishof durch vergitterte Fenster.

Was ich meinen Leserinnen und Lesern vor allem vermitteln will: Geben wir die Freiheit niemals auf! Sie wächst durch unsere Liebe, und sie stirbt, wenn man ihr keine Achtung zollt. In guten Zeiten ist sie mitunter unauffällig, kaum spürbar – wie das Wasser, von dem Fische stets umgeben sind. Erst wenn sie fort ist, merken wir schmerzlich, was sie für uns war. Freiheit ist manchmal unbequem, denn sie wirft uns auf uns selbst zurück. Sie sprengt jedes System – aber um die meisten davon ist es nicht schade. Wenn fast jeder sich von der Freiheit abwendet, müssen eben wir ihr Halt und Zuflucht sein. Denn fast alle treten auf in ihrem Namen, doch fast niemand tritt wirklich für sie ein.

Darum ist es jetzt an der Zeit zu kämpfen! Und wenn wir tausendmal verlieren, müssen wir jedes Mal wieder aufstehen und weiterkämpfen. Wir können nicht immer und sofort siegen. Doch manchmal ist schon viel damit gewonnen, wenn wir uns selbst nicht verlieren. Wir werden zu unseren Lebzeiten kaum erreichen können, dass die Tyrannei völlig vom Erdboden verschwindet – aber versuchen wir zu verhindern, dass sie ihren Wirkungsbereich um uns selbst erweitert. Wir sind nicht schwach, es herrscht nur starker Gegenwind. In vieler Hinsicht steht es schlimm um diese Welt, aber wir können sicher sein: Ohne uns wäre es schlimmer.

Wäre die Freiheit eine Person, eine Göttin, die vor mir steht – was würde ich ihr sagen wollen? Vor allem eines: Verzeih uns! Verzeih uns diesen erbärmlichen und völlig unnötigen Verrat. Und: Es soll nicht wieder vorkommen. Von nun an werden wir besser für dich kämpfen.

 

[i] Josef Rottenfußer, Ein Musikerleben, Eigenverlag, München 2015, nur in wenigen privaten Exemplaren vorhanden

[ii] Erich Fromm, Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen, Ullstein, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1984

[iii] Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, dtv, München 2012

[iv] Friedrich Schiller, Don Carlos, Reclam, Stuttgart 1984

[v] George Orwell, 1984, Ullstein, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981

[vi] https://www.rubikon.news/autoren/roland-rottenfusser

 

Am 20. März erscheint “Strategien der Macht” von Roland Rottenfußer im Rubikon-Verlg. Hier können Sie das Buch vorbestellen: als Taschenbuch oder E-Book.

 

Anzeigen von 3 Kommentaren
  • Sara T.
    Antworten
    Mir wurde früher empfohlen, eine Banklehre zu machen, das sei etwas mit Hand  und Fuß. Zum Glück kam es dann doch etwas  anders. Ich möchte mich jetzt nicht lustig machen, über Riester- Rentensparverträge, Vorsorgefond, die Bundeszentrale für politische Bildung, den Club of Rome oder Karlheinz Lautenbach, ganz im Gegenteil, alles hat ja ganz gewiss seine Berechtigung, und muss wohl so sein, ist möglicherweise so determiniert. Und vielleicht, was für ein schrecklicher Gedanke,  muss es auch Unfreiheit geben, damit man merkt, was Freiheit ist? Ich weiß es nicht. Aber das einzige was ich im Moment noch gelegentlich angucke, sind Sendungen über Leute, die versuchen, ihre Fesseln abzulegen, die dem Wahnsinn die kalte Schulter zeigen und  mutig sind, sich auf das Leben einzulassen, ich denke da gerade, ohne hier irgendwas romantisieren zu wollen an einen  Aussteiger-Kanal, namens Love Peace and Om,  mit Portraits von einigen Menschen, die , wie mir scheint, vieles richtig gemacht haben, nur zum Beispiel Vanessa. ()?) Ich wünsche denen alels Erdenkliche Gute und habe große Hochachtung!

    https://youtu.be/Y7jNcYhrM0E

    In diesem Sinne: Liebe in Freiheit buzw. ein Spatz auf dem Dach ist viel besser als ein Chip im Gehirn.

     

  • Freiherr
    Antworten
    Donnerwetter nochmal – ja mi lext !

    Ich erlebe gerade eine Metamorphose an diesem ” Kerl “, aus dem bisher eher ängstlich-verschreckten, eher immer vorsichtig zögerlichen ” Kerl ”

    schlüpft ein Freiheitskämpfer ! – ich zitiere ihn höchst erfreut:

    ” Darum ist es jetzt an der Zeit zu kämpfen! Und wenn wir tausendmal verlieren, müssen wir jedes Mal wieder aufstehen und weiterkämpfen ”

    Jetzt brauch ich einen Schnaps, einen mit der richtigen Umdrehung,

    ( just a moment please… )

    den brauche ich auch weil ich das nicht erwartet hatte und wie dramtisch schlecht muss es ja tatsächlich um unser URRECHT stehen wenn ein derart Gemäßigter ( bisher ) zum Kampfe aufruft !

    …und nochmal einen Doppelten in die Kehle, das muss verdaut werden…

    Tja – nun ist er aber auch in der Beweispflicht

    für mich selbst bedurfte es eigentlich nie eines besonderen Mutes für die Freiheit ( auch bedingungslos ) einzustehen, ich konnte nie anders,

    aber für ihn, diesen ” Kerl ” durchaus und deshalb höchst-anerkennenswert !

     

     

     

     

     

     

  • Ronald McFreiheit
    Antworten
    … Krass auch hier wieder die Youtube-Werbeunterbrechungen, Hase, die uns  aber daran erinnern, welche Fastfoodkette wir auf jeden Fall danken, für die Millionen, die investiert werden in die Beschäftigung und Finanzierung von Marketingexperten und Influenzern, die auch mit dem Gedanken spielen, auszusteigen. Und deren Niederlassungen wir natürlich konsequent vermeiden, auf dem Weg in die Freiheit 😉 Ich liebe selbstgemachte Rote Beete aus dem Garten, sie so einfach zubereitet und so lecker, fast wie eine Metapher, für die Freiheit, die ich meine., 😉

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