Auf Seiten der Menschlichkeit: Rudolph Bauer

 In FEATURED, Holdger Platta, Kultur, Poesie

Harold Pinter bei der Verleihung des Literatur-Nobelpreises, Bildquelle: Illuminations Film

Für lange Zeit unterbrochen, nehmen wir heute die Lyrikreihe wieder auf – unregelmäßig zwar, doch immerhin –, in der AutorInnen mit ihren Gedichten vorgestellt werden, die sich unserer Auffassung nach auf die Seite der Menschlichkeit stellen. Holdger Platta

Vor einer guten Woche stellte ich Euch den neuen Gedichtband von Rudolph Bauer hier vor. Und schon dort versuchte ich aufzuzeigen, dass man oft hinter den Text blicken sollte, um noch einen weiteren, einen zweiten Text hinter dem ersten Text entdecken zu können, einen Text, der noch mehr Wahrheit enthält, als der erste Blick zu offenbaren vermag. Für das Gedicht, das ich Euch heute aus der Feder des Bremer Autors Rudolph Bauer präsentieren möchte, gilt das in einem ganz besonderen Maße – und auch auf eine ganz besondere Weise.

Natürlich wird da – auf der Oberfläche sozusagen – vor allem von der Dankesrede gesprochen, die Harold Pinter, der britische Autor (1930-2008), im Jahre 2005 gehalten hat, aus Anlass der Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn. Und folglich kommen viele politische Geschehnisse und Lügen zur Sprache, die Pinter der versammelten Weltöffentlichkeit vorhielt, die Lüge zum Beispiel, mit der die USA 2003 ihren völkerrechtswidrigen Einmarsch in den Irak zu “begründen” versuchten, das Gerede von der Existenz diverser Massenvernichtungswaffen nämlich, über die Saddam Hussein angeblich verfügte. Es war übrigens der Anlass für Konstantin Wecker und seine Frau Annik, dieser Irak-Krieg der USA, dem wir die die Existenz unserer Website verdanken, die Gründung von www.hinter-den-schlagzeilen.de. Aber das Thema hinter den vielen Themen, die Pinter in seiner Dankesrede zur Sprache brachte – und mit ihm Rudolph Bauer in seinem Gedicht „Kunst, Wahrheit und Politik“ –, die vielen Kriegsinterventionen der USA weltweit, war eben das Thema der „Wahrheit“ selbst. Konkret:

Wenn es an einer Stelle in Bauers Gedicht heißt, es gehe um die „wahre Wahrheit“, so wirkt diese Formulierung zunächst so, als habe der Autor einen „weißen Schimmel“ produziert, das also, was die gestrenge Germanistik einen „Pleonasmus“ nennt, eine „unnütze“ Verdopplung und Verbindung zweier Wörter, deren eines – der „Schimmel“ – ja bereits das zugeordnete Attribut, das „weiß“, enthält. Als gleiches Kaliber wäre ein „schwarzer Rappe“ zu werten. Aber Rudolph Bauer weist mit dieser Wortverdopplung darauf hin, daß es eben auch „unwahre Wahrheiten“ gibt – die Propagandawelt offiziell verbreiteter Lügen. Und darum geht es in diesem Gedicht vor allem – und um eine Art von Lesetraining, mit solchen rhetorischen Lügen aufklärerisch umzugehen. Doch hier zunächst Rudolph Bauers Gedicht:

 

Kunst, Wahrheit und Politik

Hommage für Harold Pinter

 

statt abzulehnen

den blutbefleckten preis

den des erfinders

transportfähigen scharfen

schießpulvers auf dem

transportweg

 

an die feindesfronten

um millionenfach zu töten

so dass kein grashalm

wieder aufsteht wieder wächst

die nachtigall verstummt ist

totenstill

 

nahm harold pinter

in stockholm den preis entgegen

nicht ohne freilich

vorzurechnen der mehrheit

der politiker ihr interesse

sei gering

 

an wahrer wahrheit

denn an der macht vor allem

sei ihnen nur gelegen

und an der macht an ihr

der nackten macht

erhaltung

 

wie jeder weiß von allen

die sich hier versammelt haben

sagt pinter ist es das muss

für allen machterhalt

dass nicht die wahrheit

gültig ist

 

dass vielmehr unkenntnis

der wahrheit der menschen eignen

lebens dass finstre propaganda

und die verlogenen

das sagen haben und die

lüge herrscht

 

die invasionen des irak

mit der behauptung legitim

gemacht dass saddam

hussein ein massenvernichtungs-

waffenarsenal todbringend

befehligt

 

das sei die wahrheit

hieß es aus dem weißen haus

die wahrheit war es

nicht ein lügendrahtverhau

ist es gewesen verlogener

betrüger

 

als kerker und totalitär

bezeichnete der präsident

der USA herr reagan

das nicaragua der sandinisten

die gegen armut hunger

es wagten

 

aufzustehn den kampf

zu führen gegen unterdrückung

erniedrigungen knechtschaft

des reagan mörderbanden brachen

brutal den widerstand

des volkes

 

die USA paktierten sie

machten sich gemein mit militärs

mit diktatoren sie foltern töten

zivilisten mit killerdrohnen verfolgen

den wen immer sie erklärt zu

ihrem feind

 

durch ihre überfälle starben

unzählige von kindern greisen zivilisten

doch niemand spricht davon

kein kriegsverbrechertribunal

die medien schweigen nicht

die waffen

 

mit hilfe der sprache wird

im zaum gehalten das denken denken

überhaupt ist überflüssig

im wertewesten ruhen sanften gewissens

die befürworter von menschenrechten

auf kissen

 

gewissenlos sind ihnen gleich-

gültig die mehr als vier millionen armen

die jugendlichen mexikaner schwarzen

zuchthausinsassen ohnmächtig eingelocht

zu hunderttausenden in gottes

eignem land

 

auf dem gesamten globus

dröhnt die mörderische kriegsmaschine

befehlen sie atomsprengköpfen

tausendfach und herrschen weiterhin

mit lügen falscher auskunft

über uns

 

den kolossalen widrigkeiten

zum trotz sind unbeirrbar wir jedoch

entschlossen die wahrheit

auszusprechen die wahrheit zwingend

wieder herzustellen die würde

des menschen

 

Was habe ich nun mit dem „aufklärerischen Lesetraining“ gemeint, das ich vor der Wiedergabe des Gedichtes oben angesprochen habe? Nun, zwei Stellen mögen das verdeutlichen. Sie zeigen, dass ein argloses Lesen nicht reicht, das Gedicht auch in seiner Tiefe zu verstehen. Es arbeitet, wenn man so will, mit hochbewusster rhetorischer Fallenstellerei, mit einer Fallenstellerei, die uns nötigt, manche Stellen in diesem Gedicht mindestens zweimal zu lesen, um den beabsichtigten Doppelsinn voll zu verstehen.

Das erste – eher harmlos zu nennende  – Beispiel vorweg:

Beim Übergang von der ersten zur zweiten Strophe dieses Gedichts lesen wir zunächst, eher naiv, von einer Nachtigall, die verstummt ist und nunmehr nicht mehr ihren Gesang ertönen lassen kann. Sie, die Nachtigall, ist „totenstill“. Doch erst ein zweites Lesen offenbart, dass dieses „totenstill“ auf den schweigenden Harold Pinter zu beziehen ist, der erst später – formulierungsgewaltig und kühn – das Wort ergreift. Die Erkenntnis des eigenen „Lesefehlers“ deckt die eigentliche Wahrheit an diesem Übergang der beiden Strophen auf. Die „Fallenstellerei“ im Gedicht führt zum Erkenntnisgewinn beim Leser.

Ungleich bedeutungsvoller ist aber, viele Strophen später, die folgende „Fallenstellerei“. Da lesen wir: „die medien schweigen nicht“ und dann erst, in der nächsten Zeile, „die waffen“. Hoppla, ein zweites Mal sind wir, dank entsprechenden Zeilenbruchs, auf einen Lese-Irrtum “reingefallen”: die spontane Textinterpretation „die medien schweigen nicht“ – die Medien haben also gesprochen (= die Wahrheit gesagt!) – müssen wir fallenlassen und austauschen gegen die Erkenntnis, dass die Medien sehr wohl geschwiegen haben, nicht aber die Waffen! Noch einmal also:

Erneut mutet uns der Gedichttext eine Selbstkorrektur zu, ein Nochmal-Lesen dieser Gedichtpartie, und fordert uns damit auf, auch mit den Verlautbarungen der Politiker auf dieser Welt ebenso vorsichtig umzugehen. Fast könnte man sagen: „Kunst, Wahrheit und Politik“, dieses Gedicht, stellt so etwas dar wie „Erziehung zur Mündigkeit“ (frei nach Immanuel Kant). Und wie sehr sich damit dieser Text – wie die vielen anderen Texte in diesem Gedichtband auch – auf die Seite der Menschlichkeit stellt, das zeigt nicht nur die letzte Strophe dieses Gedichtes, dieses Bekenntnis, „die Würde des Menschen“ wiederherstellen zu wollen, das zeigt auch die gar nicht bösartige „Fallenstellerei“ dieses Gedichtes.

„Wieso sollen Lyriker immer dumm sein?“ hat der hochbegabte Windbeutel Hans Magnus Enzensberger in einem Fernsehinterview einmal gefragt. – Nun, Rudolph Bauers Gedichtband zeigt, dass tatsächlich Lyriker nicht immer dumm sein müssen! Und: dass die Klugheit eines Gedichtes sogar Freude bereiten kann, Entdeckerfreuden und auch andere.

 

 

 

Kommentare
  • paulo h. bruder
    Antworten
    Wäre ich Harold Pinter (H. P.), würde ich Holdger Platta (H. P.) aus dem Grab – oder aus der Urne – heraus grüßen und mich bei ihm bedanken, dass er das Gedicht “Kunst, Wahrheit und Poltik” so co-poetisch würdigt und auf diese Weise meine immer noch gpltige Überzeugung zur Geltung bringt.

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