„Macht brauchst du nur, wenn du etwas Böses vorhast. Für alles andere reicht Liebe“, soll Charlie Chaplin gesagt haben. Demnach ist der Drang, Kontrolle über andere Lebewesen auszuüben, mit einer enttäuschten Liebe verbunden. Wir haben nicht bekommen, was wir wollten, und rächen uns damit, andere Menschen zu drangsalieren. Wenn wir schon nicht geliebt werden, dann soll man uns wenigstens respektieren. Und wenn man uns nicht respektiert, dann soll man uns doch immerhin hassen.
Nicht nur sich trennende Paare können ein Lied davon singen, wie Liebe in Hass umschlagen kann. In den meisten Fällen ist den Betroffenen auf beiden Seiten nicht bewusst, worum es eigentlich geht. Während wir uns einbilden, es ginge um eine gerechte Sache, geht es in Wirklichkeit um Macht, also darum, eine Situation bestmöglich zu kontrollieren, um nicht wiederholt eine ähnliche Verletzung erfahren zu müssen.
Für die Kontrollierenden wie für die Kontrollierten verlaufen diese Prozesse oftmals unbewusst. Diejenigen, die beherrscht werden, das haben vor allem die vergangenen Jahre gezeigt, merken nicht, was ihnen widerfährt. Wie der Frosch, der ins kalte Wasser geworfen wurde, spüren wir nicht, wie sich die Lage langsam erhitzt. Zu heiß wird es angeblich nur auf unserem Planeten. Wenn wir hier überleben wollen, dann muss schon ein bisschen härter durchgegriffen werden. Beweisen die scharfen Kontrollen nicht auch, dass dahinter eine starke Schulter steht? Gibt es nicht auch eine gewisse Sicherheit, drangsaliert zu werden?
Vom Homo sapiens zum homo obediens
Von Johannes Calvin über Adolf Hitler bis Richard David Precht — Roland Rottenfußer beschreibt, welche Gedanken dazu geführt haben, dass wir uns heute widerstandslos abführen lassen. Calvin war von der Idee besessen, dass der Mensch in seinem Fundament böse ist. Er muss unbedingt gezähmt werden, da er aufgrund seiner verdorbenen Natur gar nicht anders kann, als die Hölle auf Erden zu erschaffen. Hitler verglich das Volk mit einem Weib, das sich lieber dem Starken beugt, als den Schwächling beherrscht. Er war davon überzeugt, dass es die Masse geradezu erleichtert, wenn ihr jemand die unerträgliche Freiheit abnimmt.
In seinem Buch „Von der Pflicht“ (2) warnt der Philosoph Precht, dass für einen toten Menschen die Freiheit egal ist. Wenn es jedoch an erster Stelle um Sicherheit geht, so fragt Roland Rottenfußer, erlischt dann die Menschenwürde, wenn Gefahr im Anzug ist? Sollten wir demnach nicht freudig in ein Szenario einwilligen, in dem etwa die Polizei jederzeit in Privatwohnungen eindringen kann, ohne dass dafür eine gerichtliche Genehmigung nötig ist? Ist es dann nicht geradezu wünschenswert, dass der Staat allen Bürgern jederzeit verbieten kann, ihre Wohnung zu verlassen und auf der Straße zu demonstrieren? Wäre dann auch ein bisschen Folter in Ordnung, um Staatsfeinden ihre Geheimnisse zu entreißen?
Machen sich nicht indirekt alle, die die Freiheit hochhalten, zu Advokaten des Todes? Ist Freiheitsliebe eine versteckte Ermutigung zum Massenmord? Wenn also die Freiheit tötet und im Umkehrschluss Diktatur Leben rettet, müssten sich nicht alle Menschen, die nur einen Funken Mitgefühl in sich tragen, der Diktatur willig hingeben wie eine zur Hochzeit geschmückte Braut?
Ist, so wie es vor allem die linken Parteien forderten, die Staatsmacht vor diesem Hintergrund nicht noch viel zu lasch gewesen? War es verantwortbar, dass 2020 und 2021 überhaupt noch jemandem erlaubt wurde, ohne plausiblen Grund mit jemand anderem zusammenzutreffen?
Mit diesen Fragen stellt Roland Rottenfußer zur Diskussion, was Leben überhaupt bedeutet. Ist unser höchstes Gut, wie es uns immer wieder vermittelt wird, wirklich unsere Sicherheit? Ist nicht sie es, die uns geradezu dazu auffordert, das Opfer der Freiheit zu bringen? Sind Zwang, Kontrolle, Verbote und Strafen nicht im Grunde notwendig, um wenigstens die Folgsamen am Leben zu halten? Müssten wir dann nicht konsequenterweise zivilisatorische Rückschritte in Kauf nehmen, um die Zivilisation zu retten?
Gefährliche Verdummung
Es ist das Tote — das Kulturideal der Faschisten, der Technokraten und des Militärs —, das im Zentrum dieser Fragestellungen steht. In diesem Denken wird der Leib nur so lange am Leben gehalten, wie er nützlich ist. Die Lebendigkeit der Seele wird heruntergedimmt, denn wer lebendig ist, der gehorcht nicht gern. Zugunsten eines militärisches Maschinengehorsams werden Unbefangenheit, Optimismus, Geselligkeit, Freiheitsliebe, Widerspruchsgeist, selbstständiges Denken, Berührung, Nähe — also alles Natürliche, Spontane, dem Herzen Entspringende — unterdrückt.
Systematisch wird der Mensch in die Ohnmacht getrieben. Ohnmacht macht dumm, denn sie verführt dazu, der Verdummungsrhetorik der Macht zu trauen. Wir wagen es erst gar nicht, an unsere eigene Übermacht und an unsere Möglichkeiten zu denken.
Um den Schmerz der Unterdrückung nicht zu spüren, reden wir uns ein, dass da gar keine Unterdrückung ist oder dass die Einschränkungen unserer Freiheit zu Recht erfolgen. Schließlich schützen sie ja auch.
Es ist diese Selbstzufriedenheit, so Rottenfußer, die der wohl gefährlichste Begleiter der Dummheit ist. Sie versperrt uns den Ausweg aus dem mentalen Gefängnis, in das uns die Ideologie sperrt. Wir sehen die fortschreitende Unterdrückung und Entrechtung einfach nicht. Die uns mittels moderner Marketingstrategien eingeimpften Introjekte setzen sich in unseren Köpfen fest und schaffen die Voraussetzungen dafür, dass uns unser Lebensenergie regelrecht abgesaugt wird.
Die Freiheit nehmen
Befreiung findet statt, wenn wir uns dieser Strukturen und Mechanismen bewusst werden. Der erste Schritt besteht also darin, sich möglichst vielseitig zu informieren. Ziel ist es nicht, die Freiheit zurückzuerhalten, die wir vor Corona hatten. Denn hier war die Entrechtung bereits angelegt und hatte sich tief in die Gesellschaft hineingefressen. Die Freiheit, von der Roland Rottenfußer spricht, ist kein Hundekuchen, den man erfolgreich Dressierten gönnerhaft hinwirft. Es geht ihm nicht darum, es sich im Gefängnis möglichst gemütlich zu machen und hier für eine gerechte Essensverteilung zu sorgen. Hier geht es nicht um die kleine, sondern um die große Freiheit.
Freiheit ist für uns alle so notwendig wie die Luft zum Atmen. Sie tut auch denen gut, die sie gerade verleugnen und Drangsalierung, Zurechtweisung und Strafandrohung gutheißen. Freiheit bedeutet, in Ruhe gelassen zu werden. Diese Freiheit wird uns nicht gegeben. Sie ist kein Privileg für gute Leistungen oder vorbildlichen Gehorsam. Diese Freiheit müssen wir uns nehmen, denn sie steht uns von Geburt an zu.
Wenn wir uns die Freiheit nehmen, wird die Welt nicht im Chaos versinken. Wir müssen nicht zwischen Despotismus und einem destruktiven Laisser-faire wählen, sondern können darauf vertrauen, dass Menschen dazu in der Lage sind, sich vernünftig zu verhalten, ohne dass man sie dazu zwingen muss. Anstatt Ohnmacht, Gängelei und Unterwerfung hinzunehmen, können wir also den Gedanken pflegen, dass der Mensch in seinem Wesen eben nicht schlecht und verdorben ist, sondern voller wunderbarer Fähigkeiten.
Die Kraft der Erinnerung
Es ist unser negatives Menschenbild, basierend auf einem negativen Selbstbild, das die fortschreitenden Freiheitsbeschränkungen erst ermöglicht hat. Dieses Bild gilt es zu verändern. Hierzu ist es notwendig, dass wir uns erinnern an eine Zeit, in der wir in Frieden und gemäßigtem Wohlstand miteinander lebten. Diese Zeit gab es. Sie existierte, bevor patriarchale Herrschaftssysteme die Welt in Spaltung und Kriege führte.
Am Anfang waren die Mütter. Es ist, so Rottenfußer, die Erinnerung an die matriarchal geprägten Formen des Zusammenlebens, die uns den Weg in eine freie und friedliche Welt weisen kann. In den matriarchalen Gesellschaftsformen stand die Fürsorge im Zentrum, nicht die Dominanz, die Kooperation und nicht die Konkurrenz. Sie erinnern uns daran, wieder zusammenzufinden und zur Ganzheit zurückzukehren, in eine Mitte, in der Weibliches und Männliches einander ergänzen und befruchten.
Selbstbewahrung
So ist „Strategien der Macht“ eine Einladung, sich auf den Weg zu machen. Wir müssen es selbst tun, oder es wird nie geschehen. Verbarrikadieren wir uns nicht weiter hinter Mauern, die uns einerseits Schutz geben und uns andererseits einsperren.
Lassen wir uns, so ermutigt Roland Rottenfußer, in eine Weite führen, wo uns das Ungeahnte trifft. Beschreiten wir einen konstruktiv-libertären, basisdemokratischen, auf Toleranz und Pluralismus fußenden Weg.
Hierfür müssen wir etwas loslassen: unseren Drang, uns beliebt machen zu wollen. Entledigen wir uns wie Franz von Assisi unseres Bedürfnisses, nach außen hin etwas gelten zu wollen und uns selbst gegenüber möglichst gut dazustehen. Halten wir es aus, dass man uns für nicht gut hält, dass man uns missversteht und verspottet, uns als Sünder oder Verrückte ansieht. Halten wir durch. Bleiben wir unversehrt. Lassen wir uns nicht brechen. Überleben wir die Herausforderungen unserer Zeit und versprechen wir uns, nicht an dem organisierten Wahnsinn kaputtzugehen.
Bewahren wir uns das wertvolle Gut der Freiheit. Haben wir den Mut, allein im eisigen Wind zu stehen und bei unseren Entscheidungen auf uns gestellt zu sein. Lassen wir die entscheidenden Fragen zu. Bin ich bereit, auf jede Ausübung von Herrschaft zu verzichten, darauf, Macht über meine Frau, meinen Mann, meine Kinder, meinen Hund, meine Nachbarn, meine Kollegen auszuüben und wirklich kooperativ zu sein, auch wenn es unbequem ist? Wer hier wirklich authentisch ist, der hat das Zeug dazu, an der Erschaffung einer Gemeinschaft der Freiheit und des Friedens mitzuwirken.
Das Neue, Heilsame, so Rottenfußer, wird nicht aus der Sphäre der Politik kommen. Es setzt eine radikal unpolitische Lebenshaltung voraus wie die Fähigkeit, sich Zwängen um der Selbstidentität willen zu entziehen, Gegensätze zu vereinigen, in Zusammenhängen zu denken, das kleine Schicksal als von höheren — oder tieferen — Kräften beeinflusst zu erkennen und sich zu demütiger Größe zu erheben.
Wenn wir das tun, dann braucht niemand für die Freiheit zu sterben. Eine Vielzahl kleiner Helden sorgt dafür, uns aus dem Repressionssumpf herauszuziehen und aufzubrechen in eine neue, herrschaftslose und wirklich freie Gesellschaft.