Aufklärung 2.0

 In FEATURED, Philosophie, Politik

Yuval Noah Harari setzt das Werk Wolf Schneiders fort. Foto: Daniel Naber, Lizenz Creative Commons

Corona beschäftigt uns alle, egal, ob wir ‚dran glauben‘ oder nicht. Die deklarierte Pandemie teilt die Welt ein in ein historisches B.C und A.C; die Welt vor und nach Corona. Dennoch lohnt sich ein Blick weit hinaus über das, was der Virus in 2020 und 2021 mit uns macht. Ein Blick nicht nur über ein paar Jahre, sondern über Jahrhunderte hinweg. Wolf Schneider, www.connection.de

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts erschien uns Europäern als der phänomenale und irreversible Eintritt in eine Welt, die freier, gleicher und solidarischer sein würde als die Epochen davor. Sie hat uns die moderne Art der Demokratie gebracht, mit einer Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative. Sie hat uns auch ein gewisses Maß an Befreiung von der Dominanz von Klerus und Adel gebracht. Was ihr fehlte, ist eine echte Aufklärung über Religion und Spiritualität, über unsere biologische Abstammung (Darwin ff) und die Macht ungezähmter Märkte auf unsere Psyche und die uns – wer weiß, wie lange noch – tragende Natur. Höchste Zeit für ein Update. Was genau sollte ein solches Update der Aufklärung beinhalten?

Woran glauben wir?

Die Religionskritik von z.B. einem Atheisten wie Philipp Möller, hier in einem Auftritt von 2011, ist zwar rhetorisch brillant formuliert, witzig und in ihrer Logik überzeugend, sie ist jedoch unvollständig, denn auch Kommunismus und Faschismus sind Religionen, wenn man damit Ideologien meint, die kontrafaktisch sind, unbeweisbar und von ihren Anhängern Glauben verlangen. Diese Kriterien von Religion gelten zudem auch für den Liberalismus mit seinem Glauben an das Geld und das letztlich Gute in der »unsichtbaren Hand« egoistischer Märkte. Auch Humanismus und Dataismus – der Glaube, dass ein immer ausgefuchsterer Umgang mit Daten uns retten wird – kann man in diesem Sinne als Religionen verstehen, wie Yuval Harari das in seinen Büchern so wortgewaltig und unterhaltsam darlegt.

Die Macht der Narrative

Brauchen wir Menschen solche Narrative, an die ganze Gesellschaften kollektiv glauben, um in großer Anzahl kooperieren zu können? Offenbar ja. Dass in der aktuellen, von Corona geprägten Situation zur Jahreswende 2020/21, Verschwörungserzählungen mächtig grassieren, liegt auch daran, dass der Konsens der Erzählung des Neoliberalismus mit seinem Glauben an die Weisheit und ethische Autorität des Wählers, der alle vier Jahre an die Urnen gerufen wird, am Erlöschen ist. Ebenso der Glaube an die Weisheit der Entscheidungen des Kunden auf Märkten, die von Lobbyisten und anderen verdeckten Kräften beherrscht werden. Offensichtlich schaden beide sich selbst: die Wähler mit den Politikern, denen sie ihre Stimme geben; ebenso die Käufer mit einem Großteil der Produkte, die sie kaufen. Das resultierende Wachstum der Wirtschaft schadet der Natur und unserer Gesundheit. Zudem schaden wir schon längst in krasser Weise unseren Verwandten, die mit uns diesen schönen Planeten bewohnen, den Tieren und Pflanzen; v.a. den Milliarden von »Nutztieren«, deren Eiweiß wir für unsere Ernährung zu brauchen glauben. Solche Ignoranz oder Dickfelligkeit gilt auch für Vegetarier, die ihre Hunde und Katzen lieben, dabei aber das Leiden der Tiere ignorieren, deren Fleisch ihre Lieblinge essen. Unsere alltäglichen Entscheidungen auf den Märkten, in der Politik und auch im Privaten sind offensichtlich keineswegs »frei«.

Auf den Schultern von Riesen

Nochmal zu Harari, auch wenn einige meiner Leser inzwischen denken, ich hätte in ihm nun einen neuen Guru gefunden. Nach Buddha, Osho und Ken Wilber würde ich nun Harari auf einen Thron stellen. Keine Sorge, Buddha und Osho haben mich beide von jeglicher Autoritätsgläubigkeit geheilt. Harari bewundere ich für sein Wissen, die Tiefe seiner Einsichten und die Eloquenz und Dichte seines sprachlichen Werks. Ich empfinde ihn als geistigen Bruder und Freund, der als 24 Jahre Jüngerer nun mein Werk, das ich mit Connection begonnen habe, fortsetzt, ebenso wie das Werk so vieler anderer Pioniere. »Team« und »Dialog« sind heute angesagt, Schwarmintelligenz wird gehypt, die Weisheit Einzelner inmitten all der Herden von Lemmingen hat demgegenüber grad nicht groß Konjunktur. Dem zum Trotz möchte anlässlich von Hararis Büchern behaupten, was ich schon in Bezug auf Buddha, Osho und Ken Wilber gerne sage (Wilber und Harari würden mir darin sicherlich zustimmen): Auf den Schultern eines Riesen stehend sieht man weiter! Auch »diese Großen« brauchen kontinuierlich Updates ihrer Weisheit. Auch Hararis Thesen werden eines Tages überholt sein, die Entwicklung geht weiter. Falls Homo sapiens nicht das Schicksal der anderen fünf Homo-Spezies ereilt. Geschätzte 98% aller Arten, welche diese Erde bevölkert haben, sind ausgestorben. Ähnliches dürfte für die Kulturen des Homo sapiens gelten. Auch in dieser Hinsicht kann »der Tod« aka die Endlichkeit unser Lehrer sein.

Umgang mit dem Tod

In der ARD lief am 23.11.ein 92-min-Film über Sterbehilfe: Gott, von Ferdinand von Schirach. Mit faszinierenden, (fast) überzeugenden Argumenten pro und contra Erleichterung der Sterbehilfe. Schauspielerisch hervorragend, philosophisch dicht und … vom Spiegel verrissen.

Auch der folgende Film in der Serie »SWR Leute«, in der ich 2008 von demselben Journalisten interviewt wurde, hat mit dem Tod und dem Sterben zu tun. Er zeigt Rainer Langhans’ Umgang damit. Vor ein paar Monaten bekam er einen agressiven, metastasierenden Prostatakrebs diagnostiziert und entschloss sich zur Homontherapie mit Östrogen. Die scheint ihn milde zu stimmen: zu Beginn des Interviews erlebt man Rainer als sympathisch angstfrei und emotional offen dem Tod gegenüber. Im Rest des Gesprächs zeigt Wolfgang Heim vom SWR mitfühlend und respektvoll, wie diese prominente Figur der 68er zwischen Guruverehrung, Harems-Komödie, spirituellem Jenseitskitsch, Körperverachtung und originellen Einsichten in politische Zusammenhänge seinen sehr eigenen Weg gefunden hat.

Die Wirkung eines Pamphlets

»Ein Gespenst geht um in Europa« schrieb Karl Marx in seinem Kommunistischen Manifest von 1848. Als Student war ich von dieser Schrift sehr beeindruckt, überwiegend positiv. Inzwischen blicke ich mit Millionen anderer auf die Zeit von 1848 bis 1989 zurück, also auf mehr als 140 Jahre Wirkungsgeschichte dieses Pamphlets: die Bismarckschen Sozialgesetze, die Entstehung der Sozialdemokratie, seit 1917 des auch politisch mächtigen Kommunismus, mit all seinen Rebellionen, Revolutionen und gefochtenen Bürgerkriegen, bis hin zum Kalten Krieg. Auch die Geschichte und heutige Wirklichkeit von Ländern wie Cuba, Nordkorea und Kambodscha hängen, wie die so vieler anderer, kausal mit dieser Schrift zusammen. Werden die Schriften von Yuval Harari ähnlich machtvoll wirksam sein, um dann auch durch die eigene Wirkung verursacht sich als obsolet zu erweisen? Ich halte das für möglich, auch wenn ich mir sicher bin, dass es im Falle von Harari nicht 140 Jahre dauern wird.

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