Auslaufmodell Toleranz 2/2

 In Politik (Inland), Roland Rottenfußer

PegidaGegen die „Islamisierung des Abendlandes“ lassen sich heute die Massen mobilisieren. Aber welches Abendland ist eigentlich gemeint? Bach, Beethoven, Brahms oder doch eher BILD, Bohlen, Ballermann? Es steckt auch viel peinliche Selbstbeweihräucherung darin, wenn gerade Pegida-Anhänger, die nicht den hellsten Eindruck machen, „unsere Kultur“ hochhalten. Und es ist naiv anzunehmen, dass der kriegerische Mammonismus des Westens anderswo nicht auf Widerstand stoßen würde. Skepsis gegenüber der grassierenden Neoliberalisierung des Morgenlandes ist nur allzu verständlich. Weigern wir uns Feinde zu sein und schauen wir speziell beim viel gescholtenen Islam genauer hin! Lassen wir uns Toleranz, Pluralismus und Menschlichkeit nicht von Zynikern in Politik und Medien schlecht reden!

Wozu überhaupt Feindbilder? Warum wurde das durch die Domestizierung „der Russen“ in der Ära Gorbatschow entstandene „Vakuum“ so rasch wieder gefüllt: durch die Muslime? Und warum feiert heute der Popanz „Böser Russe“ in den Medien und in den Köpfen vieler eine grandiose Auferstehung? Die Antwort ist nicht neu: Feindbilder schweißen zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört: Arm und Reich, Ausgebeutete und Ausbeuter. Sie dienen der Ablenkungen von brisanteren Problemen. Sie kompensieren Selbstsicherheitsdefizite der einheimischen Bevölkerung, die die Politik durch zunehmende Enteignung und Entrechtung der Menschen selbst mit verursacht hat.

Natürlich weiß der gewaltbereite Jung-Türke mit dem Bushido-Jargon nichts von den Ausführungen des Sufi-Mystikers Ibn Arabi zum Thema „Toleranz“. Aber genau darauf will ich ja hinaus: Bildungsmangel, Gewalttätigkeit, Unmenschlichkeit entstehen unabhängig vom Islam, oft auch im Gegensatz zu ihm. Auch ich bin dafür, dass möglichst viele Migranten möglichst gut Deutsch lernen. Das ist besser für die Mehrheits- wie für die Minderheitsgesellschaft. Ich kritisiere aber, dass der öffentliche Diskurs weitgehend darum kreist, wie man den Willen von „Integrationsunwilligen“ brechen kann. Weder wird nach den Ursachen der „Unwilligkeit“ gefragt, noch gibt es irgendwelche Zweifel an der Qualität der „Leitkultur“.

Selbstüberschätzung der „Leitkultur“

Von der Mehrheitsgesellschaft, für die angeblich „Christentum“ und „Aufklärung“ prägend sind, wird von Politikern und Pegida-Anhängern ein idyllisches Bild gezeichnet, das von verzerrter Selbstwahrnehmung zeugt. Statt das christliche Abendland zu bemühen, sollten wir ehrlich sagen, dass wir in einer Profit- und Sachzwang-Gesellschaft leben, in der überholte Kleriker-Privilegien gepflegt werden. Die Entscheidung, dem „Herrn oder dem Mammon zu dienen“ ist im „christlichen“ Kulturkreis längst zu Gunsten des letzteren ausgefallen. Und den „Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant über die Aufklärung) drehen wir gerade zurück, indem wir uns von Verdummungsmedien auf eine „alternativlose“ Politik für Konzerninteressen einschwören lassen. Mich in diese Gesellschaft zu integrieren, fällt auch mir schwer, obwohl ich über einen kernig-deutschen Namen und garantiert migrationsfreien Stammbaum verfüge.

Bei der derzeitigen Integrationsdebatte greift der Vorwurf der Doppelzüngigkeit, den Jean Ziegler in seinem neuesten Buch „Hass auf den Westen“ erhebt. Der Westen, der den Sklavenhandel auf dem Gewissen hat und wieder dabei ist, die Völker des Südens mittels Schuldendienst zu versklaven. Der Westen, der Kriege für Öl und Absatzmärkte anzettelt und tausende von Zivilisten im Bombeninferno sterben lässt – dieser Westen versäumt keine Gelegenheit, um sich als Sachwalter der Menschenrechte aufzuspielen. Die Wut darüber wächst in der „Dritten“ und der islamischen Welt. „Schon lange macht sich der Westen nicht mehr klar, wie viel Ablehnung er hervorruft. Ob bei Abrüstung, Menschenrechten, Kontrolle von Atomwaffen, globaler sozialer Gerechtigkeit – der Westen spricht fortwährend mit gespaltener Zunge. Und der Süden reagiert mit abgrundtiefem Misstrauen. Er hält diesen Westen, der in seiner Praxis ständig die von ihm verkündeten Werte Lügen straft, für schizophren.“ (Ziegler)

Es mag sein, dass solche globalen Zusammenhänge den „Deutsch-Türken von nebenan“ nicht bewusst sind. Widerstand gegen eine gefühlte Heuchelei könnte aber durchaus für die beklagte „Deutschenfeindlichkeit“ mitverantwortlich sein. Politiker halten Muslimen das Christentum vor als hätte es keine Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gegeben. Sie brüsten sich mit Humanismus, als hätte es kein Massaker von Kundus gegeben. Manche erdreisten sich sogar, von einem „christlich-jüdischem Erbe“ zu sprechen, als hätte es keine Judenvernichtung gegeben.

Von den „Anderen“ lernen

Die Wahrheit ist: Unserer mammonistischen Gesellschaft sind Begriffe wie Ehre, Anstand, Familie und Gott fremd geworden. Wir verorten sie nun bei den Muslimen – als etwas von Außen in unsere Kultur Eindringendes. Wir kritisieren dabei aber nur die übertriebenen Ausprägungen dieser Werte, also Ehrpusseligkeit, Prüderie, familiären Psychoterror und religiösen Fundamentalismus. Diese Phänomene bekämpfen wir nun wie einen übermächtigen Schatten. Wir vergessen dabei aber zweierlei: 1. Das „christliche Abendland“ kennt ähnliche Missstände. 2. Die gegenteiligen Übertreibungen, wie sie im „modernen“ Westen üblich sind, haben uns auch nicht unbedingt glücklich gemacht.

Ein „smartes“ Vorteils- und Profitdenken hat bei uns die Kategorie der Ehre abgelöst. Der Begriff ist uns peinlich, so dass wir ihn am liebsten nur noch im Zusammenhang mit Ehrenmorden erwähnen und entsorgen würden. Auch Kommerz-Pornografie, sexuelle Reizüberflutung und Wegwerfbeziehungen haben uns nicht wirklich gut getan. Ebenso wenig wie der Zerfall der Familien, an deren Stelle heute oft blinde Identifikation mit den Arbeitgebern getreten ist. Auch darauf, dass unsere Gesellschaft heute spirituell weitgehend ausgehöhlt ist, müssen wir nicht unbedingt stolz sein. In all diesen Bereichen stünde es uns gut an, von den Stärken der „Gegenseite“ zu lernen, ohne bestimmte Grundwerte, die uns wichtig sind, aufzugeben. Dazu gehören auf jeden Fall die Religionsfreiheit und die Freiheit der Partnerwahl.

Die Angst der Politik vor Machtkonkurrenz

Gläubige Menschen, mag ihr Glaube nun „rational“ begründbar sein oder nicht, irritiert unsere technokratische Sachzwang-Politik. Es macht Politikern Angst, dass sich Menschen in ihrem Machtbereich nach Regeln richten könnten, die nicht von ihnen erschaffen und kontrolliert werden. Der Gott der großen christlichen Kirchen diente der Politik zur Stabilisierung ihrer Macht. Ein vermeintlich fremder Gott wird als Machtkonkurrenz gefürchtet. Deshalb wird auch gebetsmühlenhaft beschworen: „Hier gilt das Grundgesetz, nichts anderes“. Es ist eine fast kindlich-trotzige Bekräftigung des eigenen Machtanspruchs: „Wir bestimmen hier, sonst niemand.“ Dabei sagte schon Jesus: „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögen.“ Dies kann als Aufforderung gelesen werden, die weltliche Obrigkeit nicht zu wichtig zu nehmen. Erschafft Religiosität eine noch tyrannischere geistliche Obrigkeit, so können wir auf sie verzichten; verweist sie den Menschen dagegen auf sein Innerstes, sein Gewissen, kann sie befreiend wirken. Und welcher Machthaber ist schon an wirklicher, innerer Freiheit seiner Untergebenen interessiert? Vielleicht ist auch dies ein Grund dafür, dass die islamische Religion gern als irrational und fundamentalistisch abgekanzelt wird.

Ein weiteres Mantra der Politiker ist: „Es darf keine Parallelgesellschaften geben“. Ich selbst beschäftige mich schon lange mit dem Gedanken, wie eine postkapitalistische, nachhaltige, sozial ausgewogene, liebevolle Parallelgesellschaft aufgebaut werden kann. Sie sollte weitgehend unbehelligt vom organisierten Irrsinn des Mainstream gedeihen, diesen aber mit ihren Ideen inspirieren. Eine türkische oder islamische Parallelgesellschaft wäre nicht die meine. Es fasziniert mich aber, dass dergleichen möglich ist. Die Ablehnung von Parallelgesellschaften zementiert den Anspruch der kapitalistischen Leitkultur, jeden Winkel eines Staatsgebiets regulierend zu durchdringen. Wenn es um Menschenrechte geht, ist das Grundgesetz noch immer verlässlicher als seine Alternativen. Andererseits ist das Niveau der politischen Klasse, die heute Gesetze macht, nicht so hoch, dass man mit deren alleiniger kulturelle Dominanz zufrieden sein könnte.

Letztlich ist die Alternative zwischen „Scharia“ und einer Plutokratie mit demokratischen Restinstitutionen nur eine scheinbare. Sie ist uns aufgeschwatzt worden, um unsere Solidarität mit der letzteren zu stärken. Schon Arundhati Roy machte darauf aufmerksam, „dass die Völker der Welt nicht zwischen einer böswilligen Mickey-Maus und wild gewordenen Mullahs zu entscheiden brauchen.“ Was wir wollen, ist ein dritter Weg. Um ihn zu finden können uns die positiven Aspekte der islamischen Kultur wertvolle Anregungen geben. Ebenso wie die der jüdischen Kultur, der Indigenen in Südamerika und anderer.

Wer Migranten verteidigt, hat „keine Ahnung“

„Sie machen sich die Welt, wie sie Ihnen gefällt“, warf Alice Schwarzer Christian Ströbele in einer Talkshow vor fünf Jahren vor. Der Vorwurf, man habe keine Ahnung, wenn man nicht in den modischen Chor der Migranten-Kritiker einstimmt, ist durchaus üblich. Suggeriert wird, ein Wohnort in Neukölln würde automatisch Ausländerhass produzieren, weil man dort mit der „Realität“ konfrontiert ist. Die Wahrheit ist: Ausländerfeindlichkeit tritt oft dort massiv auf, wo relativ wenige leben, die Menschen also an den Umgang mit ihnen nicht gewöhnt sind. Ein Beispiel sind die ausländerfeindlichen Übergriffe in Sachsen gleich nach der Wende, als Asylantenheime brannten. Heute machen die Muslime ca. 1 % der sächsischen Bevölkerung aus, weit unter dem deutschen Durchschnitt. Wir haben es also bei Pegida mit einer Muslimenfeindlichkeit (fast) ohne Muslime zu tun. Ich lebe hier in Peißenberg in einem Wohnblock mit einem Ausländeranteil von gefühlten 40 %. Ich habe Kontakt mit einer Sufi-Gruppe, in der Muslime und Nicht-Muslime zusammenkommen. Wir Nicht-Xenophobiker machen uns keine „Illusionen“ über die Wesensart von Migranten; wir haben lediglich andere Erfahrungen mit ihnen gemacht, was vielleicht auch etwas mit uns zu tun hat. Und wir haben uns entschieden, andere Schlussfolgerungen aus diesen Erfahrungen zu ziehen als die Protagonisten der aktuellen medialen Diffamierungskampagne.

Mitglieder diskriminierter Gruppen sind nicht perfekt. Müssen sie auch nicht. Fehlerlosigkeit darf keine Voraussetzung dafür sein, von Diskriminierung verschont zu werden. Wir tun gut daran, uns immer wieder an die einfachen Erkenntnisse zu erinnern, an das, was wir längst wissen, was aber in der medialen Aufregung leicht untergehen: Schau immer auf den Einzelmenschen und hüte dich vor Vorurteilen und Pauschalisierungen. Begegne Fremden respektvoll und aufgeschlossen, um die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass sie dich auch so behandeln können. Wehre bei negativen Entwicklungen den Anfängen, denn „die Nacht bricht nicht plötzlich herein“. Es wäre eigentlich ganz einfach. Wenn man mit einer solchen Einstellung heute bespöttelt, diffamiert und niedergeschrieen wird, dann macht mir das Sorgen. Es ergreift mich ein Gefühl, das Thomas Mann die „Trauer über den Abfall der Epoche vom Humanen“ genannt hat. Und Angst: vor dem schneidenden Selbstbewusstsein der Vorboten des Inhumanen. Kommen wir zur Besinnung! Wenn wir es 70 Jahre nach Kriegsende nicht mehr „in Verantwortung für die Vergangenheit“ tun wollen, dann wenigstens in Verantwortung für unsere Zukunft.

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