Belohnen statt Strafen

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

Entwurf eines innovativen Justizsystems. Zeit: In der nahen Zukunft. In dem (fiktiven) Zwergstaat Nirgendstein, in einer unzugänglichen Bergregion an der Grenze zwischen Österreich und Italien gelegen, wurde seit der Justizreform von 2012 das Strafprinzip zur Gänze durch ein Belohnungsprinzip abgelöst. Es gibt ein Belohnungsgesetzbuch und eine Belohnungsprozessordnung. Der Nirgendsteiner Polizeiapparat wacht 24 Stunden täglich – ausgestattet mit modernsten Fahndungsmethoden – darüber, dass keine belohnenswerte Tat eines Bürgers unbelohnt bleibt. Neben Geldbelohnungen sind wird den Belobigten von Richtern auch der Aufenthalt in extra dafür konzipierten Belohnungszentren (analog zu Gefängnissen) auf Staatskosten ermöglicht. Reporter Roland Rottenfußer, zunächst skeptisch, reiste nach Nirgendstein, um den dortigen Justizminister Tomaso Moro über das innovative Justizsystem des Landes zu befragen: Wir veröffentlichen zentrale Passagen aus dem Interview. Roland Rottenfußer

Frage: Ist es wirklich so, dass in Nirgendstein massenweise Straftäter frei herumlaufen?

Moro: Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass es doch bezeichnend sind, dass Sie sich schon zu Beginn unseres Interviews derart auf das Strafen fixieren. Das ist natürlich das Ergebnis einer jahrtausende alten Fixierung der Menschheit auf das Strafen. Generationen sind in dem Sinn erzogen worden, dass schädliche Taten bestraft werden müssen, während nützliche nicht weiter der Rede wert sind. Sie können einem Menschen das Leben retten, indem Sie ihn mit hohem persönlichem Risiko aus einem reißenden Fluss ziehen. Wenn Sie am selben Tag vergessen haben, Ihre Parkscheibe an der Windschutzscheibe zu platzieren, ist das Ergebnis eine Strafe von 20 Euro.

Frage: Sicher wird man bei uns nicht belohnt, aber einen Straftäter frei zu lassen ist doch ungleich schlimmer.

Moro: Warum denn das?

Frage: Er könnte wieder zum Mörder werden.

Moro: Da haben Sie einen wesentlich Punkt angesprochen: die Verbrechensprävention. Die Frage ist also nicht, ob man Verbrechen vorbeugen und potenzielle Opfer schützen soll, sondern wie man das am besten tut. Dazu gibt es allerlei zu sagen. Mein erster Punkt ist: Der einfachste Weg, um Kriminalität zu vermeiden, besteht darin, etwas gar nicht erst zu verbieten.

Frage: Meinen Sie das im Ernst?

Moro: Durchaus. Ein Gesetzesverstoß ist etwas, das per definitionem erst durch ein Gesetz geschaffen wird. Und Gesetze sind ein Spiegel der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die, wie Sie sicher wissen, nicht immer gerecht sind. Wenn Sie die Kriminalitätsrate herabsetzen wollen, überlegen Sie zuerst, welche im Gesetz verankerte Delikte Sie ersatzlos streichen könnten. Es gibt Fälle, in denen das Verbot eigentlich selbst das größte Verbrechen ist.

Frage: Haben Sie Beispiel?

Moro: Da sind zuerst einmal die typischen politischen Delikte, deren Fixierung im Strafgesetzbuch lediglich nur dient, die alten Machtverhältnisse aufrecht zu erhalten. Verstöße gegen Demonstrationsauflagen, Majestätsbeleidigung, Geheimnisverrat in der Presse, Verschwörung zu terroristischen Aktivitäten usw. Dazu kommen dann haarsträubende Eingriffe in die persönliche Freiheit des Bürgers, z.B. das in einigen Staaten übliche Verbot, Alkohol auf freien Plätzen zu genießen. Ein zweiter Themenkomplex sind Drogen. Menschen werden in der so genannten freien Welt noch immer dafür ins Gefängnis gesteckt, dass sie nichts anderes verbrochen haben als sich selbst zu schädigen.

Frage: Und Eigentumsdelikte?

Moro: Wenn Sie die Zahl der Eigentumsdelikte verringern wollen, sorgen Sie zunächst für Gerechtigkeit. Verringern Sie vor das Volumen des im Überfluss vorhandenen Privateigentums und sorgen Sie dafür, dass ein beträchtlicher Anteil am Eigentum Gemeinschaftseigentum ist.

Frage: Wie erklären Sie es sich dann die einhellige Meinung von Experten aus aller Welt, dass der Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch ein unkalkulierbares Risiko für eine Gesellschaft darstellen würde?

Moro: Unser einseitiges Belohnungssystem birgt ein gewisses Restrisiko, dass es zu Ungerechtigkeiten kommen kann. Dies gilt allerdings für das alte Strafsystem nicht weniger. So viel Schaden, wie durch das unmenschliche Gefängnissystem tagtäglich verursacht wird, können wir mit unserem Belohnungssystem gar nicht anrichten. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gern Oscar Wilde: „Wenn man die Geschichte erforscht, dann wird man völlig von Ekel erfüllt, nicht wegen der Taten der Verbrecher, sondern wegen der Strafen, die die Guten auferlegt haben.“

Frage: Da ist was dran, aber soll der Staat deshalb dem Schaden, den Verbrecher anrichtet, tatenlos zusehen? Wo bleibt die Solidarität mit den Opfern?

Moro: Wir respektieren den Schmerz und den Verlust der Opfer und tun für deren psychische Betreuung mehr als die meisten anderen Länder. Wir fühlen uns allerdings dem Wohl der Opfer verpflichtet, nicht deren Rachegelüsten, und das beste, was man zugunsten der Opfer tun kann, ist, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, dass Menschen zu Opfern und Tätern werden.

Frage: Und das wollen Sie schaffen, indem Sie auf Abschreckung völlig verzichten!?

Moro: Wenn Abschreckung Verbrechen abschaffen würde, hätten wir längst eine vollkommene Welt. Sehen Sie, manche Verbrechen kann man bis zu einem gewissen Grad wieder gut machen, und unser System macht reuigen Tätern diesbezüglich Angebote. Manche Taten kann man allerdings leider nicht rückgängig machen. Das erzeugt Hilflosigkeit, die die meisten Menschen nicht ertragen können. Und so suchen sie ihrer Verzweiflung Luft zu machen, indem sie ein Mittel wählen, das völlig untauglich ist, diesen Schmerz zu heilen: Sie lassen den Verursacher des Geschehens leiden. Dadurch geschieht aber nichts anderes, als dass das Leiden verdoppelt wird.

Frage: Opfer empfinden es oft als Entlastung, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Die Vorstellung, dass der Schuldige – z.B. bei einem Autounfall – frei herumläuft und sich seines Lebens freut, ist für viele unerträglich.

Moro: Glauben Sie denn im Ernst, dass sich ein Unfallverursacher nach der Tat „seines Lebens“ freut? Ich denke, wenn er nur ein bisschen sensibel hat, wird er seines Lebens nicht mehr froh. In den Wochen und Monaten nach der Tat durchläuft so ein Unglücksrabe meist einen Prozess der Reue und der Selbsterkenntnis. Für diesen inneren Prozess ist es äußerst schädlich, wenn die Justiz einen Menschen über Jahre durch Strafmaßnahmen an seine Vergangenheit fesselt und ihm die Zukunft verbaut. Unser Motto ist immer: „Frage nicht, was jemand getan hat. Frage lieber, was er hätte werden können.“

Frage: Sie zeichnen da ein reichlich idealisiertes Bild von den Tätern. Es gibt nicht nur Menschen, die nach ihrer Tat Reue empfinden.

Moro: Ja, aber ich bitte Sie, solche Menschen sind doch krank. Wer ein Kind überfährt und dabei nichts empfindet, der gehört in Behandlung – nicht in eine Bestrafungsmaschinerie, die ihn dazu zwingt, nur noch mit anderen Kranken zusammen zu sein und die ihn noch kränker macht als er es ohnehin ist. Was in so einem Fall allein zählt, ist, den Schaden zu begrenzen, auf Opfer- und Täterseite Heilung zu bewirken und eine Wiederholung möglichst unwahrscheinlich zu machen.

Frage: Das heißt konkret?

Moro: Zunächst gibt es bei uns eine Art „Schuld-Coaching“, eine therapeutische und potenzialorientierte Betreuung. Zweitens sind konkrete Angebote zum Schadensausgleich notwendig, die dem Täter unterbreitet werden, ohne ihn zugleich seiner Würde zu berauben. Man muss den schuldig Gewordenen sagen: Wenn du das tust, hast du ebenso viel Nützliches geleistet, wie du Schaden angerichtet hast. Drittens muss der Täter in jeder Phase der Verarbeitung von seiner Umwelt mit eben dem Respekt behandelt werden, den er seinem Opfer vielleicht in konkreten Fall verweigert hat. Man darf ihn nicht als „von Natur aus böse“ behandelt, sondern als jemanden, der das Potenzial zur Umkehr besitzt. Viertens müssen wir alle dafür sorgen, dass die Bedingungen, unter denen die Tat geschehen konnte, so verbessert werden, dass sie sich nicht wiederholen kann. Im manchen fällen ist die Tat ein Warnlicht, das eine ganze Gesellschaft zur Umkehr mahnt. Brecht sagte: „Wir nennen den Fluss böse, der über die Ufer tritt, aber das Ufer, das ihn begrenzt, nennt niemand böse“.

Frage: Aber man wird nie erreichen können, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft dem Gesetz zustimmen. Man kann von der Minderheit der Unzufriedenen zumindest verlangen, dass sie sich aus Respekt vor der Mehrheit ruhig verhalten.

Moro: Sie können dies hoffen, aber sie können es nicht erzwingen, jedenfalls nicht, ohne eben jene Prinzipien zu opfern, auf denen das Gemeinwesen aufgebaut ist: Freiheit, Würde und Selbstbestimmung. Hier kommen wir zu einem wesentlichen Punkt: Nirgendstein ist überwiegend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit aufgebaut. Die Zustimmung zu unserem Sozial- und Justizsystem erfolgt aus freien Stücken, und wir sind als System stabil genug, um die wenigen Ausnahmen zu tolerieren. Das Justizsystem der alten Welt basiert auf der Vergewaltigung derer, die diesem Rechtssystem nicht oder nicht in allen Punkten zustimmen. Wenn sich Delikte auf einem bestimmten Feld häufen, reagiert Ihr mit dem Ruf nach mehr Polizeiknüppeln und mehr Gefängniszellen. Wir überlegen uns dann eher, ob ein Gesetz, das so viele Bürger als nicht zumutbare Einschränkung ihres Freiraums empfinden, nicht abzuschaffen wäre.

Frage: Aber das ist doch eine Gutwetter-Philosophie! Sie funktioniert, solange die Kriminalitätsrate nicht eskaliert.

Moro: Eine hohe Kriminalitätsrate ist immer auch die Folge eines Versagens der Staatsmacht. Sie zeigt, dass der Staat eigentlich nicht zu seinem Volk passt, und dieses ist ja in der Demokratie der Souverän, also liegt die Notwendigkeit, sich anzupassen, auf der Seite des Staates, oder nicht? Die Tatsache, dass Regelverletzungen bei uns nicht bestraft werden, ermöglicht dem Volk endlich eine ehrliche Stellungnahme zu dem betreffenden Gesetz. Es ist sozusagen eine Abstimmung mit den Füßen: Kommt das Gesetz beim Volk an oder eher nicht?

Frage: Das ist schlüssig bei kleinen Vergehen wie Parksünden, aber nicht bei Mord und Totschlag …

Moro: Sie fokussieren sich sehr stark auf extreme Ausnahmen. Wir aber gehen davon aus, dass der Staat nicht das Recht hat, eine ganze Gesellschaft mit Blick auf die wenigen möglichen negativen Abweichungen zu terrorisieren. Es gibt ja in den meisten Staaten auch mächtige Interessengruppen, denen daran gelegen ist, das Zerrbild, des zutiefst bösen, unbelehrbaren Extremtäters an die Wand zu malen.

Frage: Von welchen Interessen sprechen Sie?

Moro: Das Justiz- und Justizvollzugssystem in der alten Welt ist von Straftätern in ähnlicher Weise abhängig wie das Gesundheitssystem von den Kranken. Beide Sparten nähren sich vom Leid und von der Fehlbarkeit der Menschen. Der größte Alptraum für einen Richter wäre das plötzliche Ausbleiben jeglicher krimineller Energie. Anders herum: So lange noch ein einziger Bürger frei herum läuft, besteht für die Gefängnisindustrie noch Wachstumspotenzial.

Frage: Gefängniswärter und Richter profitieren vielleicht vom Verbrechen, aber sie „machen“ es doch nicht!?

Moro: Es besteht ein eher indirekter Zusammenhang. In der alten Welt ist das Verbrechen sozusagen das Brennmaterial, ohne dessen beständige Erneuerung das Feuer des ganzen Justizapparats erlöschen würde. So besteht die Tendenz, einen immer größeren Teil der menschlichen Verhaltenspalette zu Verbrechen zu erklären, den Bezirk des Erlaubten immer weiter zusammenschrumpfen zu lassen. Denn dieser Lebensbereich ist, das Erlaubte, stellt ja die größte Bedrohung für das ökonomische Florieren der Justizbranche dar.

Frage: Und wie sollten wir dieses Problem lösen?

Moro: Es muss eine Berufsgruppe geben, die sich mit der Verbrechensprävention befasst und ein garantiertes Einkommen bezieht, selbst für den Fall dass das Verbrechen völlig ausstirbt. In diesem Fall besteht das Verdienst der Behörde für Verbrechensprävention gerade darin, dass sie ihr Ziel vollständig erreicht hat, und wir werden sie dann eben gerade nicht auflösen, da wir ja sicher stellen wollen, dass sie ihre erfolgreiche Arbeit fortsetzt. Vergessen Sie auch nicht, wie viele zusätzliche Arbeitsplätze wir durch den Belohnungsvollzug schaffen!

Frage: Ist denn Ihre Bevölkerung wirklich einverstanden mit dem neuen Recht? Ich könnte mir vorstellen, dass es massive Proteste dagegen gibt, dass „Verbrecher frei herum laufen“.

Moro: Die Frage ist berechtigt. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass Schuldzuweisungen seelische entlastend wirken. Diese Entlastungsfunktion fällt in einem Belohnungssystem weg. Wenn Sie auf jemanden mit dem Finger zeigen können und „Du bist schuld“ sagen, dann lenken Sie damit von einem quälenden Zweifel in ihrem Inneren ab, der Ihnen sagt: „Ich bin schuld“.

Frage: Moment, ich habe sicher schon Schuld auf mich geladen, aber ich habe noch keinen Menschen ermordet.

Moro: Ihre naive Meinung, Sie könnten nicht zum Mörder werden, ist so viel wert wie die im Brustton der Überzeugung ausgesprochene Behauptung eines Achtjährigen, er würde nie in seinem Leben ein Mädchen küssen, weil das eklig wäre. Dieser Junge kennt noch nicht die Macht der Sexualität, und Sie kennen noch nicht die Macht mörderischer Aggression.

Frage: Dennoch bezweifle ich, dass man eine Gesellschaftsordnung auf „Gnade“ aufbauen kann.

Moro: Warum nicht? Teilweise passiert das ja schon, auch in Ihrem Land. Manager, die massiv Steuern hinterzogen haben, Banker, die ganze Volkswirtschaften in den Ruin treiben, Politiker, die die Verfassung brechen oder sich mit völkerrechtswidrigen Angriffskriegen solidarisieren – all dies wird von der Justiz mit einem Mantel der „Gnade“ zugedeckt. Um nun Gerechtigkeit herzustellen, hat der Staat zwei Alternativen. Er kann eine strenge Bestrafung dieser Politiker fordern, oder er kann aufhören, die „kleinen Leute“ zu strafen. Wir haben uns für die zweite Lösung entschieden.

Frage: Wenn ein Strafsystem, wie Sie andeuten, den Schatten „anständiger Bürger“ auf die Bestraften projiziert, welche Funktion hat dann ein Belohnungssystem?

Moro: Unser Belohnungssystem bringt endlich den „lichtvollen Schatten“ der Menschen ans Tageslicht bringt: die Vielzahl der sonst unbeachteten kleinen und großen „guten Taten“. Wenn Sie unser Archiv mit zur Anzeige gebrachten Belohnungstaten einmal für einen halben Tag durchblättern würden, dann wären Sie gerührt, in welchem Ausmaß Menschen liebenswert, hilfsbereit und gütig sein können. Es wird sehr viel darüber geklagt, wenn irgendein Übeltäter einmal „ungestraft“ davon kommt. Tatsächlich ist es aber ein weit größerer Skandal, dass die meisten Staaten der Welt all diese wunderbaren Menschen unbelohnt davon kommen zu lassen. Ein Staat, der nicht fähig ist, zu würdigen, hat sein Recht verspielt, zu strafen. Tatsächlich bleibt selbst im strengsten Überwachungsstaat das Böse oft unbemerkt. Das Gute dagegen bleibt immer unbemerkt. Deshalb kann es nicht wachsen, weil es im Schatten verkümmert wie eine Pflanze, die kein Sonnenlicht bekommt.

Kommentare
  • Utopia
    Antworten
    Schöne Idee, danke.

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