Das Grund-Übel 1/2
Privateigentum an Boden gehört neben dem Zinssystem zu den häufig übersehenen Wurzeln sozialer Ungerechtigkeit. Auch 200 Jahre nach Abschaffung der Leibeigenschaft in Europa gilt für das Verhältnis von Bodenbesitzern und Bodennutzern noch immer vielfach: Wer arbeitet, besitzt nicht; wer besitzt, arbeitet nicht. Privatbesitz an Boden muss an legitimen Eigenbedarf und am Gemeinwohl orientiert sein. Ohne sinnvolle Nutzung ist Privatbesitz nichts als eine mit Gewalt, durch List oder durch die Gnade der reichen Geburt erzwungene gemeinschaftsschädliche Anmaßung. Formen des Missbrauchs von Eigentum wie Raubbau, Bodenspekulation und neofeudalistische Ausbeutung der Landlosen durch Pacht und Mieten müssen durch eine Bodenreform konsequent unterbunden werden. (Roland Rottenfußer)
Die gefährlichsten Missstände sind nicht diejenige, die von der Presse lauthals beklagt werden, sondern jene, die gar nicht bemerkt werden, weil sie als selbstverständlich gelten. Menschen können sich Abschnitte der Erdoberfläche kaufen und zur alleinigen, privaten Nutzung reservieren. Dieses Grundeigentum kann weitervererbt werden. Für die Nutzung des Bodens kann sein Besitzer dem Benutzer eine Gebühr abverlangen. Gegen diese simple Tatsache gibt es derzeit keinen nennenswerten Widerstand, denn Eigentum ist beliebt, auch bei denjenigen, die bei diesem System weit mehr draufzahlen als sie profitieren (übrigens eine Parallele zum Zinssystem). Ein Grund für die Popularität des Privateigentums ist sicher der „Gemütlichkeitsfaktor“, der Wunsch jedes Menschen nach Geborgenheit in einem abgeschlossenen Raum, wo er sich frei, ohne Störung und ohne Beobachtung (es sei denn durch freiwillig gewählte Lebensgefährten) entfalten kann. Daher die erste meiner 5 Thesen über Grundbesitz:
Privateigentum an Boden entspringt dem Wunsch, einen Ort ungestört zur freien Nutzung bewohnen zu dürfen.
Als ich ein Kind war und mir Erwachsene den Kommunismus erklären wollten, ging das ungefähr so: „Wenn die Kommunisten herrschen würden, käme die Polizei in unser Haus und würde befehlen, dass jetzt eine fremde Familie bei uns im Keller wohnen würde. Sie wären immer da, und wir müssten alles mit ihnen teilen.“ Eine schreckliche Vorstellung, denn ich liebte unser kleines Haus, meinen Freiraum und auch die Möglichkeit, sich im Vertrauten gegen außen abzuschirmen. Der Kommunismus war für mich damit auf lange Sicht passé.
Segen oder Fluch des Privateigentums sind jedoch immer eine Frage der Perspektive. Als ich vor einigen Jahren mit einer Freundin im Schlauchboot im italienischen Ledro-See paddelte, kamen wir einmal von der Seeseite aus an eine wunderschöne Bucht. Wir legten an, stiegen aus und genossen die Sonne auf dem weichen Rasen. Ein deutsches Paar scheuchte uns auf und fragte uns, ob wir von „den Müllers“ eingeladen worden wären. Als wir verneinten, forderte uns die Frau mit scharfer Stimme auf, mit unserem Boot von hier zu verschwinden. „Das ist Privateigentum“. Obwohl mir aus meinem Elternhaus der Wunsch vertraut ist, nicht von jedem im heimischen Garten gestört zu werden, blieb von der Episode ein unangenehmes Gefühl zurück: das Empfinden, mit einem rigiden Machtgefälle konfrontiert worden zu sein, das mich eines harmlosen Vergnügens berauben durfte und dafür jederzeit der polizeilichen Unterstützung hätte sicher sein können.
Was eigentlich störte die Besitzer (oder deren Freunde) an unserer Anwesenheit? Platz genug wäre für noch weit mehr Sonnenhungrige gewesen. Letztlich war es wohl (abgesehen davon, dass es „ums Prinzip“ ging), der Wunsch, allein und ungestört sein zu können, d.h. in Sichtweite überhaupt nicht mit dem Anblick fremder Körper konfrontiert zu sein. Ein paar hundert Meter weiter, auf dem öffentlichen Badegeländer tummelte sich dagegen das Volk wie die Heringe – gegenseitiges Anrempeln und eine lebhafte Geräuschkulisse inklusive. Mehr als 6 Quadratmeter Space durfte dort niemand für sich in Anspruch nehmen. Was die Besitzer des Seegrundstücks zu ihrem Kauf bewegt hatte, war vielleicht genau das: von zu großer Dichte, vom Andrang einer unberechenbaren, lauten und taktlosen „Meute“ verschont zu bleiben. Das Paradoxe dabei: Die Besitzer wollten sich durch den Grundstückskauf vor eben jener Menschendichte schützen, die ohne die fast lückelose Belegung des Seeufers durch Privatgrundstücke gar nicht entstanden wäre. Wäre das Seeufer überall frei zugänglich, müsste das „gemeine Volk“ sich nicht so drängen. Für jeden wäre genug Platz da.
Privateigentum an Boden beinhaltet das Recht, andere vom Betreten und von der Nutzung eines Grundstücks ausschließen zu können.
Wer ein Land besetzt, kauft oder zu seinem erklärt, sagt damit zugleich, wem dieses Land nicht gehört, nämlich allen anderen. Das Recht, andere ausschließen zu dürfen, nimmt in den USA teilweise recht rabiate Formen an. Während meine Freundin und ich auf besagtem italienischen Grundstück noch recht glimpflich davon kamen, kommt es in den USA gelegentlich vor, dass Menschen, die ein Privatgrundstück ungebeten betreten, vom Besitzer mit der hauseigenen Knarre erschossen werden – und damit vor Gericht durchkommen. Steht der Schutz des Privateigentums höher als das Recht auf Leben? In manchen Fälle ja. Solche Auswüchse sind nur mit tief verwurzelter Angst zu erklären, die – jedenfalls auf einer unbewussten Ebene – als Todesangst erlebt wird.
Privateigentum an Boden erscheint uns selbstverständlich, weil wir daran gewöhnt sind. In Wahrheit ist es nicht selbstverständlicher und nicht besser begründbar als Privateigentum an Atemluft. In meiner Satire „Luftanbieter wollen schärfer gegen Schwarzatmer vorgehen“ habe ich die Vision einer fortschreitenden Privatisierung der Atemluft und ihrer Umwandlung in eine gebührenpflichtige Ware gesponnen. Der Gedanke wirkt übertrieben und skurril, Tatsache ist aber: Der Raum des Privaten weitet sich immer mehr aus, und der Raum des Öffentlichen und Gemeinschaftlichen schrumpft. Die Globalisierungskritikerin Naomi Klein hält Privatisierung generell für einen Angriff auf die Demokratie. Begründung: Wenn die gesellschaftlichen Funktionen öffentlicher Plätze (z.B. als Treffpunkt) immer mehr auf Privatgrundstücke verlegt werden, gelten auf diesem Grund und Boden die Regeln der Besitzer. Neben den Gesetzen des Landes, in dem wir leben und der zu unserem Schutz bestellten Obrigkeit gelten dann zusätzlich Privatgesetze, hält eine zweite, private Obrigkeit (z.B. Privatpolizei) das Heft in der Hand. Die Erde könnte also durch Privatisierung im schlimmsten Fall zu einem Fleckerlteppich aus Zonen privater Parallelgesetzgebung werden. Das Terrain unserer verfassungsgemäßen „freien Selbstentfaltung“ schrumpfte dann auf das Wenige zusammen, was privaten Regelmachern mit „Hausrecht“ genehm ist.
Die vermeintliche Selbstverständlichkeit des herrschenden Systems gerät ins Wanken, wenn man Grundbesitz nicht vom Jetzt-Zustand aus, sondern von seinen Anfängen her betrachtet. Wir wissen, dass es Menschen gibt, denen auf rätselhafte Weise praktisch die ganze Ortschaft gehört und dass es auf der anderen Seite eine Mehrheit von Boden-Habenichtsen gibt. Wie aber kamen die Grundbesitzer oder deren Vorfahren zu ihrem Grund? Ein konkretes Beispiel: In Brasilien besitzen 2 Prozent aller Grundbesitzer 43 Prozent allen fruchtbaren Bodens. Hier die Geschichte dazu: „Brasilien wurde Anfang des 16 Jahrhunderts von portugiesischen Invasoren ‚entdeckt’, soll heißen: unterworfen, besetzt und ausgeplündert. Die den indigenen Bevölkerungen gestohlenen Ländereien vergab der König von Portugal nach einer simplen Methode: Er teilte die brasilianische Atlantikküste in Parzellen auf. Alle seine Generäle, Admiräle, Bischöfe und Kurtisanen erhielten ein Stück Küste. Der neue Grundeigentümer suchte nun seinen Besitz gegen das Landesinnere hin zu vergrößern. Aller Boden, den er beim geradlinigen Vordringen ins Herz des unbekannten Kontinents betrat, gehörte ihm.“ (Quelle: Jean Ziegler: „Die neuen Herrscher der Welt“).
Eine skurril wirkende Geschichte aus grauer, barbarischer Vorzeit, möchte man meinen. Das Problem ist nun, dass diese ursprünglichen Riesengrundbesitze, capitanias genannt, zum großen Teil bis heute in den Händen der Nachkommen besagter Kapitäne und Kurtisanen sind. An die einmal getroffenen Entscheidung des portugiesischen Königs, eines Mannes, der für die Ausrottung der Indianer in Brasilien verantwortlich ist, wagte bis heute niemand zu rühren, auch nicht „demokratische“ Nachfolgerregime der portugiesischen Monarchie. Heutige Großgrundbesitzer sind noch immer berechtigt, über Riesenlandstriche zu verfügen, die sie und ihre Familien nicht annähernd privat nutzen, geschweige denn zum allgemeinen Wohl mit Nutzpflanzen bebauen können. Daher knöpfen sie den armen Bauern, die aus „ihrem“ Land tatsächlich etwas machen, hohe Pachtgebühren ab oder lassen das Land gleich ungenutzt brach liegen.
Dieses Beispiel zeigt nicht nur, dass Diebstahl und Gewalt oft am Beginn des Eigentumserwerbs stehen. Es relativiert auch scheinbare Selbstverständlichkeiten, etwa die Annahme, dass ein Staatsoberhaupt das Recht haben könnte, Gemeinschaftseigentum in Privateigentum umzuwandeln. Woraus sollte sich dieses Recht ableiten? Warum darf ein Volksvertreter den Besitz des Volkes, das er vertritt, an Einzelne verkaufen? Die Frage ist angesichts der momentanen Privatisierungswelle brisant und nicht unabhängig von der Zinsthematik zu sehen. Der Zwang, Zinsen zu bezahlen, führt zu Schuldenwachstum im Bundeshaushalt. In seiner finanziellen Not greift der Staat als letztes Mittel zum Verkauf von Gemeinbesitz, z.B. von Boden – teilweise an dieselben Personen, die durch ihre hohen Zinsforderungen die Misere erst herbeigeführt haben. Als Folge sind die Bürger, deren gemeinschaftlicher Besitz der Boden vorher war, den betreffenden Privateigentümer tributpflichtig. Oder der Staat als ganzes muss sich das Nutzungsrecht an seinem früheren Eigentum gegen Zahlung einer „Pacht“ zurückholen. Die zusätzlichen Ausgaben holt er sich durch Steuern von der Allgemeinheit zurück. Das Ergebnis wäre eine doppelte Tributpflicht des Normalbürgers: 1. über direkte und versteckte Zinsen, 2. über direkte oder versteckte Mieten, Pachtzahlungen u.ä.
Privateigentum an Boden beinhaltet das Recht, von anderen Gebühren für die Nutzung des dieses Grundes zu verlangen.
Im mittelalterlichen System des Feudalismus haben wir den Prototyp des organisierten finanziellen Missbrauchs der Bodennutzer durch die Bodeneigentümer. Der Feudalismus entstand im Frühmittelalter als Synthese zwischen dem römischen Recht auf Privateigentum an Boden und dem germanischen Treueverhältnis zwischen Lehnsherr und Lehnsmann. Das alte germanische Bodenrecht kannte noch keinen Privatbesitz an Boden, sondern eine Form der gemeinschaftlichen Nutzung. Das allgemein zugängliche dörfliche Gemeindeland (Allmende), war der Normalfall. Dieser „kommunistische“ Umgang mit Grund und Boden wurzelte wohl noch im Erlebnis gemeinschaftlicher Rodung und Urbarmachung des Bodens, die niemals allein, sondern immer im Rahmen der Sippe möglich war. Wer arbeitete, durfte auch (gemeinschaftlich) besitzen, wer besaß, musste auf und für diesen Gemeinschaftsbesitz auch arbeiten. Was jeder Einzelne für sich und seine Familie dem Grund entnahm, richtete sich nach dem Bedarf.
Im Feudalismus bildete sich nun eine Spaltung zwischen dem Grundbesitz auf der einen und der Bewirtschaftung des Grunds durch die abhängigen Bauern auf der anderen Seite heraus. Vereinfacht gesagt: Wer arbeitete, besaß nicht; wer besaß, arbeitete nicht. Das System der Leibeigenschaft war für die Bauern mit erheblichen persönlichen Einschränkungen verbunden. So durften sie ohne die Erlaubnis ihres Lehnsherrn z.B. nicht ihre Scholle verlassen oder heiraten. Sie waren der Rechtsprechung ihres Herrn unterworfen und zu Abgaben verpflichtet, die entweder als Frondienste, als Naturalien oder als Geldzahlungen fällig wurden.
Zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Leibeigenschaft in den deutschen Teilstaaten nach und nach abgeschafft. In Russland existierte sie noch bis 1861 weiter. Wir können uns von dem schon damals als anachronistisch geltenden System ein Bild machen, wenn wir die Werke des großen Schriftstellers Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828-1910, „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“) studieren. Tolstoj besaß selbst Land und rang in vielen seiner Werke wie im wirklichen Leben mit der Frage von Leibeigenschaft, Bauernbefreiung und Grundbesitz. In seinem Spätwerk „Auferstehung“ entdeckt Tolstojs Alter Ego Nechljudow, „dass das ganze Elend des Volkes oder zumindest die wichtigste und nächste Ursache für das Elend darin lag, dass die Erde, die das Volk ernährte, nicht in dessen Händen war, sondern in den Händen von Menschen, die sich dieses Recht auf den Boden anmaßten und von der Arbeit des Volkes lebten.“ Noch grundsätzlicher ist diese Aussage Tolstojs: „Der Boden kann nicht Gegenstand des Kaufes und Verkaufes sein, ebenso wenig wie Wasser, wie Luft oder wie die Strahlen der Sonne. Alle haben das gleiche Recht auf den Boden und auf allen Nutzen, den er den Menschen bringt.“
Silvio Gesell (1862-1930), der Vater der Freiwirtschaftslehre, sagt es ähnlich radikal: „Der Erde, der Erdkugel gegenüber sollen alle Menschen gleichberechtigt sein. (…) Jeder soll dorthin ziehen können, wohin ihn sein Wille, sein Herz oder seine Gesundheit treibt. Und dort soll er den Altangesessenen gegenüber die gleichen Rechte auf den Boden haben. Kein Einzelmensch, kein Staat, keine Gesellschaft soll das geringste Vorrecht haben. Wir alle sind Altangesessene dieser Erde.“ Es scheint, als hätten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche historische Persönlichkeiten und bedeutende Geister mit der Problematik des Grundeigentums auseinandergesetzt (z.B. Gesell, Lenin, Tolstoj, Rudolf Steiner) und als sei dieser „Gärungsprozess“ heute einer abgestumpften Hinnahmebereitschaft gewichen.
Wie steht es heute mit dem „gleichen Recht auf den Boden?“ Der heute Geborene findet eine parzellierte Welt vor – mit vorgegebener Raumaufteilung und diesen Räumen zugeordneten Besitzverhältnissen. Im günstigsten Fall gehört eine der Parzellen seinen Eltern und wird für ihn als Erbe in einer späteren Phase seines Lebens zur Verfügung stehen. Sobald ein Kind jenem Wohnraum entwächst, der von seinen Eltern gekauft oder gemietet wurde, muss er für sein bloßes Dasein, für sein Raum-Nehmen als Lebender, Essender, Arbeitender, Schlafender Gebühren an andere zahlen. Diese anderen haben sich den Raum weit vor der Zeit angeeignet, in der er mit ihnen in Wettstreit hätte treten können. Das System privaten Grundbesitzes gleicht also einem Monopoly mit ungleichen Startchancen. Würden Sie ernstlich an einem Monopoly-Spiel teilnehmen, bei dem die meisten Straßen – Schillerstraße, Opernplatz oder Schlossallee – schon vorab an Mitspieler vergeben sind, so dass diese für das Betreten „ihrer“ Straßen Gebühren kassieren können? Dem Spiel des Lebens aber können wir nicht entgehen.
Am Montag lesen Sie an dieser Stelle den zweiten Teil des Artikels “Das Grund-Übel”. Was sagte Karl Marx zum Bodenrecht? Was bedeutet es, wenn Boden zum Spekulationsobjekt wird? Wie könnte eine gerechte neue Bodenordnung aussehen?