Demut – «Frieden, der mitten in den Rätseln steht» 2/2

 In Roland Rottenfußer, Spiritualität
"Würdest gern Brandung sein, endest als Gischt" (Konstantin Wecker)

„Würdest gern Brandung sein, endest als Gischt“ (Konstantin Wecker)

Die „altmodische Tugend“ fehlt gerade in unserer Zeit dringend, denn die Selbstaufbläher und Wahrheitsbesitzer haben Hochkonjunktur. Eine ganze Kultur der Hochmut ist zur Bedrohung für Umwelt, Frieden und Mitmenschlichkeit geworden. Und das stromlinienförmig optimierte Ego hat sich selbst an die Stelle gesetzt, an der Religionen früher Gott gesehen haben. „Ich“ bin sogar zum alleinigen Schöpfer „meiner“ Realität avanciert. Politisch verdächtig im Sinne von Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit ist Demut übrigens nicht – wenn sie richtig verstanden wird. (Roland Rottenfußer)

Eine andere Quelle von Demut, die grundsätzlich auch nicht-religiösen Menschen zugänglich ist, besteht in der Einsicht, dass es um uns eigentlich gar nicht so sehr geht. Dieser Gedanke ist ungewohnt, entzieht er doch allen Überlegungen, die wir gewöhnlich anstellen, den Boden: „Wie geht es mir gut?“ oder „Wie kann ich spirituell wachsen?“ Der Franziskaner-Pater Richard Rohr schreibt hierzu in: „Es ist seltsam, aber in unserem Leben geht es letztlich nicht um uns. Es ist Teil eines viel größeren Stroms. Ich bin überzeugt, dass der Glaube wahrscheinlich genau diese Fähigkeit ist, sich dem Strom anzuvertrauen, dem Fluss zu trauen und dem Liebenden. Er ist ein Prozess, den wir nicht verändern, erzwingen oder verbessern müssen. Wir müssen ihn zulassen.“ Die Annahme, es gehe gar nicht um uns, mag herabsetzend klingen für denjenigen, der in seinem Ich-Kokon eingesponnen ist, denn seine Sorgen und Nöte fühlen sich ja real an. Von sich abzusehen – dies kann für die Seele aber auch in höchstem Maße befreiend sein. Richard Rohr zitiert in diesem Zusammenhang einen Häuptling der Cherokee mit den Worten: „Weshalb verschwendet ihr eure Zeit mit Grübeln und Sorgen? Wisst ihr nicht, dass euch die großen Stürme über den Himmel treiben?“ Die Idee von der Wichtigkeit des Ichs steht hinter allen Sorgen um „mein“ Wohlergehen – und die Sorgen verflüchtigen sich mit dieser Idee.

Der Mensch als hilfloses Treibgut oder als vom Sturm getriebene Wolke – in manchem mag diese Vorstellung nicht so sehr Geborgenheit als Angst vor Kontrollverlust auslösen. Gibt es unter solchen Umständen überhaupt noch einen Grund, aktiv zu handeln? Oder anders ausgedrückt: beruht unsere Vorstellung, selbst zu handeln, nicht auf einer Illusion? Sicher ist: Solange es nicht völlig ausgeschlossen ist, dass wir einen Handlungsspielraum haben, sollten wir ihn nutzen. Dies gilt auch für politisches und mitmenschliches Handeln. Ich spende Geld, gehe für einen Kranken zur Apotheke und beteilige mich an einem Protestmarsch. Ob „ich“ es bin, der handelt oder – wie Dag Hammarskjäld sagte – „Gott in mir“, ist irrelevant bezüglich der Frage, ob das Gute und Hilfreiche getan werden sollte.

Hier geht es mir aber weniger um die Frage nach Freiheit und Schicksal, Aktivität und Passivität im praktischen und politischen Leben. Es geht mit vor allem um Demut als Grundhaltung im spirituellen Leben, Demut als einer mystischen Qualität. In diesem Zusammenhang besteht ein fundamentaler Gegensatz zwischen heroischer Selbstoptimierungsspiritualität auf der einen und mystischer Demut auf der anderen Seite. „Heroisch“ nenne ich vor allem die Auffassung, es hänge allein von meiner Willensanstrengung ab, einen spirituellen Fortschritt zu erzielen, das Paradies oder die Erleuchtung zu erlangen. Zu diesem Zweck versucht das willensstarke Ich, sich immer weitere Fähigkeiten und Qualitäten anzueignen: Yoga- und Atemtechniken, Kräfte „magischer“ Schicksalsmanipulation, Pluspunkte in einem imaginären himmlischen Bilanzbuch, in dem all unser Soll und Haben aufgezeichnet sind. Durch Hinzufügen wird unser Ich als „Fahrzeug“ spirituellen Fortschritts immer leistungsfähiger.

Demgegenüber bedeutet „Handeln“ im Sinne mystischer Demut eher ein Weglassen als ein Hinzufügen, eher ein Zulassen als ein Erzwingen. Es ist eine Spiritualität der „Schale“, nicht des „Pfeils“, von der ich rede. Die Schale, der nach oben offene Hohlraum, bereit Wasser von „oben“ aufzunehmen, ist das Bild für eine derartige mystische Haltung, nicht der durch Anspannung des Willensbogens in den Himmel abgeschossene Pfeil. Man könnte auch sagen: mystische Demut ist eher eine weibliche als eine männliche Qualität. Wenn wir überhaupt etwas „tun“ müssen, dann dies, dass wir die Absicht in uns stärken, Schale zu sein. Richard Rohr definiert mystische Demut so: „Kernaufgabe aller guten Spiritualität ist es, uns zu lehren, wie wir mit dem kooperieren können, was Gott längst tun will und bereits zu tun begonnen hat. Uns würde überhaupt nichts Gutes in den Sinn kommen, hätte sich Gott nicht unmittelbar zuvor in uns ‚bewegt‘. Wir sind immer und ewig nur die Zweiten, die der Bewegung folgen.“

Freilich liegt bei einer derart passiven Haltung der Vorwurf nahe, gerade politisch ließe sich damit nichts bewirken. Die von Lenin kritisierte falsche Demut der bereitwilligen Unterwerfung unter das Diktat der Mächtigen ist aber nicht das, was ich hier propagieren will. Demut ist dort am wenigsten am Platz, wo sie von den Nicht-Demütigen herrisch eingefordert und erpresst werden soll. Demut ist keine Tugend, die dem Gedemütigtwerden Vorschub leisten sollt. Vielmehr ist sie in zweierlei Weise hilfreich. Zum ersten hilft sie, in uns eine Geisteshaltung zu erzeugen, die es uns unmöglich macht, andere zu demütigen. Rechthaberei, Machtmissbrauch und falsches Selbstbewusstsein auf Kosten anderer werden so vermieden. Zum zweiten kann Demut – was scheinbar paradox ist – sogar verhindern, dass wir uns demütigender Behandlung durch andere unterwerfen. Das muss etwas näher erläutert werden: Der krankhaft Demütige betrachtet sich selbst ohne zureichenden Grund als wertlos und anderen Menschen unterlegen; gesunde Demut ist dagegen die Einsichten in die Grenzen des Menschlichen, was selbstverständlich auch für alle anderen Menschen gilt. Der Demütige im guten Sinn könnte also, wenn ihn jemand entwürdigend behandeln will, antworten: „Ich weiß, dass meine Einsichtsfähigkeit begrenzt ist, für dich gilt das aber ebenso; ich bestehe also darauf, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen.“ Er möchte am liebsten „niemands Herr und niemands Knecht“ sein, es sei denn in Form eines freiwilligen Dienstes am Mitmenschen. Er bevorzugt flache Hierarchie zwischen fehlerhaften Menschen, die jedoch ungeachtet ihrer Fehler grundsätzlich von Wert sind.

Ein stark hierarchisches Denken beruht ja darauf, dass große Unterschiede zwischen verschiedenen Menschengruppen gemacht werden. Hitler begründete seine Führungsrolle in einer Rede damit, dass er sich „weniger irren“ könne als seine Gauleiter, diese wiederum weniger als die Kreisleiter usw. Er unterschied ferner zwischen „Untermenschen“ und „Herrenmenschen“ Demgegenüber würde der auf gesunde Weise Demütige die grundsätzliche Wertgleichheit der Menschen betonen, in deren Charakter Licht und Schatten gemischt sind. Demut schützt ihn davor, andere Menschen (wie es Nietzsche formulierte) „als ein Unter-sich zu verachten.“ Er sieht sich selbst aber auch als jemanden an, den zu verachten niemand das Recht besitzt. Im Negativen wird diese Gleichheit der Menschen von Jesus z.B. in seinem bekannten Spruch „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ ausgedrückt. Einsicht in eigene Fehlbarkeit schützt vor der Verurteilung anderer. Im Positiven drückt sich diese Gleichheit im Gedanken der geschwisterlichen Gotteskindschaft aus.

Die evangelische Pastorin und Zen-Meistern Gundula Meyer schreibt, sie habe sich entschlossen, den Begriff „Ursünde“ nicht mehr zu verwenden und spreche stattdessen von „Ursegen“. Wer sich als „Kind Gottes“ oder in Besitz einer „Buddhanatur“ weiß, von dem ist ein Gutteil des destruktiven spirituellen Wachstumsdrucks und des psychischen Flagellantentums genommen, die leider die Religionsgeschichte verdunkelt haben. „Ursegen“ ist ein schönes Wort. Ich nenne es in Abgrenzung zur Erbsünde des Augustinus auch „Erbwürde“. Jörg Zink schreibt über diese unveräußerliche Würde: „In dem Augenblick, in dem du erkennst, dass du eine Wohnung Gottes bist, verliert aller Widerstand gegen dich selbst seinen Sinn.“ Ich definiere Demut also eben nicht als Widerstand gegen unser Sosein, sondern als gelassenes Einverstandensein damit – was Weiterentwicklung nicht ausschließt, sondern sogar die Voraussetzung für organische Selbstentfaltung ohne psychischen Druck ist. Jörg Zink schreibt sehr schön hierüber: „Gelassenheit ist Frieden mit der Kürze der Zeit. Frieden mit der Kleinheit unseres Lebens. Frieden mit dem geringen Maß an Kraft. Frieden, der mitten in den Rätseln steht und ein Lächeln hat für die eigene Ungeduld.“

Demut sollte nicht dem Unvermögen und der Feigheit als Mantel dienen; sie ist vielmehr die Geisteshaltung derer, die mit sich im Reinen sind und sich – nicht trotzdem, sondern gerade deshalb – mit anderen auf dieselbe Stufe stellen. Demut wird häufig, einer natürlichen Bewegung folgend, nach „unten“ fließen wie das Wasser, dorthin wo Bedürftigkeit, Not und damit auch Aufnahmefähigkeit vorhanden sind. Das beste Symbol für Demut ist die Fußwaschung, die Jesus bei seinen Jüngern vornahm – Vorbild für unzählige Gründonnerstagsrituale in den Kirchen. Der Meister bezieht sich auf seine Schüler als ein Dienender, was der Meisterschaft nicht widerspricht, sondern sie im Gegenteil auf das Deutlichste untermauert. Die Hinneigung zu den Erniedrigten und Beleidigten, den Armen, Ausgegrenzten und Leidenden gehört zu den Merkmalen des Heiligen im Leben vieler spirituell hoch entwickelter Menschen. Man muss dafür nicht immer nur „dramatische“ Beispiele anführen wie das des Franz von Assisi. Demut kann bedeuten, darauf zu verzichten, jemanden in Grund und Boden zu reden, den man für weniger intelligent hält als sich selbst. Es kann bedeuten, gelassen eine Niederlage einzuräumen, Müll wegzuräumen, den man nicht selbst verursacht hat oder einen Speichelfaden vom Mund eines Kindes zu wischen, auch wenn es einem ein wenig unangenehm ist. Es kann bedeuten, Geld zu spenden oder auf eine Fleischmahlzeit zu verzichten, ohne dass diese Handlungen gelobt oder auch nur bemerkt wird.

Wir können diese Dinge ohne Zögern tun, ohne uns dabei „selbst zu erniedrigen“; eher im Gegenteil: weil wir wissen, dass unser Wert dadurch in keiner Weise geschmälert wird und dass wir dem anderen Menschen oder der Gemeinschaft dadurch einen Dienst erweisen. Demut geschieht nicht aus einem Defizit heraus, sondern auf dem Boden einer Souveränität, die sich ihrer selbst sicher ist. In einer christlichen Lehre, die Jesus als göttlich betrachtet, erscheint Gott nicht mehr als der „Himmelsdiktator“, sondern selbst als der Demütige, der sich inkarniert und so Beleidigungen und Misshandlungen ausgehalten hat. Selbst wenn wir die mystische Gleichsetzung – „Der Vater und ich sind eins“ – nicht akzeptieren, können wir doch die Selbstentäußerung respektieren, die hier ein heiliger Mann auf sich genommen hat.

Gerade im Verzicht auf eine Macht, die wir haben könnten, zeigen sich Demut und Größe, und unser menschlicher Wert beweist sich im Umgang mit denen, die uns keinen Widerstand entgegensetzen können. Das kann damit beginnen ein Insekt nicht zu zertreten, das viel zu langsam und unbeholfen wäre, um uns zu entgehen. Machtverzicht ist eine der großen Lehren aus der symbolischen Geschichte von Jesu Versuchung durch den Teufel in der Wüste. Macht, Besitz und Gewalt sind dem Demütigen fremd, zumindest misst er ihnen – über das Notwendige an Besitz hinaus, das unvermeidbar ist – keine große Bedeutung bei. Dieses Nicht-wichtig-Nehmen hilft, den Frieden in der Seele und in der Welt zu vergrößern. Es bedeutet auch den Abschied von Bild unserer Welt als einer Wettkampfarena und von unserem Mitmenschen als einem durch Willensheroismus Niederzuringenden.

Dorothee Sölle schreibt in einem Kapitel über Martin Luther King: „Gewaltfreiheit heißt, auf das Siegenwollen zu verzichten und die Niederlage des Gegners, was auch seine Demütigung bedeutet, zu vermeiden.“ Gerade im politischen Kampf ist Demut die Einsicht in die nur begrenzte Gültigkeit des eigenen Standpunkts und die Kunst, die Interessen und Gefühle des Gegners so gut es geht von vornherein mit in den Blick zu nehmen. Denn ein gedemütigter Gegner ist einer, der darauf lauert, als Reaktion seinerseits zu demütigen. Daher ist der Demütige jemand, der den destruktiven Kreislauf gegenseitiger Herabsetzungen durchschaut und durchbricht – nicht um des „himmlischen Lohns“ willen, wie Lenin argwöhnt, sondern um des Friedens und der Menschlichkeit willen – hier und heute.

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