Demut – «Frieden, der mitten in den Rätseln steht» 1/2

 In Roland Rottenfußer, Spiritualität
Fußwaschung, Meister von Messkirch

Fußwaschung, Meister von Messkirch

Die „altmodische Tugend“ fehlt gerade in unserer Zeit dringend, denn die Selbstaufbläher und Wahrheitsbesitzer haben Hochkonjunktur. Eine ganze Kultur der Hochmut ist zur Bedrohung für Umwelt, Frieden und Mitmenschlichkeit geworden. Und das stromlinienförmig optimierte Ego hat sich selbst an die Stelle gesetzt, an der Religionen früher Gott gesehen haben. „Ich“ bin sogar zum alleinigen Schöpfer „meiner“ Realität avanciert. Politisch verdächtig im Sinne von Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit ist Demut übrigens nicht – wenn sie richtig verstanden wird. (Roland Rottenfußer)

Demut gehört nicht gerade zu den beliebtesten Werten aus den religiösen Traditionen. Schon gar nicht ist sie bei den politisch Aktiven der „Linken“ hoch angesehen. Zu sehr steht Demut in dem Geruch, dass sie die Menschen klein macht und dadurch leichter in Ausbeutungsstrukturen einfügbar. Dass sie Anlass und Erlaubnis zur wortverwandten Demütigung gibt und den Menschen so zurichtet, dass er dem Tretenden gleichsam bereitwillig eine Trittfläche bietet. Lenin „würdigte“ die Demut in einer berühmten religionskritischen Äußerung („Sozialismus und Religion“, 1905): „Demjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft.“

Der Vorwurf ist sicher zum Teil berechtigt. Im Zustand unerträglicher Unterdrückung sind Demut und Geduld kontraproduktiv und verewigen das Unrecht. Geringer Selbstwert trägt dazu bei, eine falsche Duldsamkeit aufrecht zu erhalten, die ihrerseits wieder das Selbstwertgefühl herabsetzt – ein Teufelskreis. Andererseits: Lenin selbst ist einer Revolutionärskrankheit verfallen, die der Schriftsteller Boris Pasternak zutreffend als „politischen Hochmut“ bezeichnet hat. Die eigene Weltanschauung als maßgeblich für alle Menschen zu erachten, sie ihnen gar mit Gewalt als verbindlich aufzuzwingen – kaum etwas hat in der Weltgeschichte größere Verheerungen angerichtet als gerade diese Form von Arroganz, die man auch als Mangel an gesunder Demut interpretieren kann.

Ja, Demut im Sinn von „Sich-klein-Machen“ ist als Kategorie des politischen Kampfes nur bedingt brauchbar, denn sie bedeutet Zustimmung zur profitgetriebenen Entwertung des Einzelmenschen, z.B. als „Produktionsmittel“. Alles ist aber – wie beim Gift – eine Frage der richtigen Dosierung. Es gibt ein schädliches Maß an Demut, und es gibt einen schädlichen Mangel daran. Als geistige Haltung ist richtig verstandene Demut in unserer Zeit not-wendig wie kaum eine andere Tugend. Sie ist das Gegengift für eine ganze Reihe von „Geistesgiften“ (wie der Buddhismus schädliche Gefühle und Einstellung nennt).

– Die Auffassung, dass der Mensch „Krone der Schöpfung“ ist, dass er Mitmenschen, Tiere und Umwelt als beliebig manipulierbare und ausbeutbare Objekte behandeln kann.

– Die speziell in der Esoterik und dem „Positiven Denken“ verbreitete Auffassung, dass wir allein Schöpfer unseres Schicksals und Ursache unserer Erfahrung im Leben sind.

– Damit verbunden die Auffassung, dass wir völlig unabhängig von Einflüssen und „Interdependenzen“ (gegenseitigen Abhängigkeiten) aufgrund von Willensentscheidungen unseren Weg gehen.

– Die Auffassung, dass wir die Wahrheit, insbesondere in spirituellen Fragen, mit Hilfe unseres Verstandes eindeutig erkennen können.

– Die Auffassung, dass „wir“ als Einzelpersonen wie als Gruppe anderen gegenüber von höherem Wert sind.

– Die Auffassung, dass andere Menschen und Lebewesen nach unserer Vorstellung handeln sollten und dass es deshalb unverzichtbar ist, deren eigenen Willen zu brechen.

– Allgemein: die Auffassung, dass es in allen Fragen des Lebens hauptsächlich oder ausschließlich um uns geht.

Fasst man die hier angesprochenen Lebenshaltungen zusammen, so kommt man zu dem Schluss: Ohne sie lebte es sich leichter und besser auf diesem Planeten. Umweltzerstörung, Machtmissbrauch, spirituelle Überheblichkeit, religiöser Fundamentalismus, Faschismus und Rassismus, im privaten Rahmen auch Egoismus, Besserwisserei, Dominanzstreben, Mangel an Mitgefühl – alle diese „Syndrome“ können auch als Mangel an Demut bzw. als Gegenkräfte zur Demut gedeutet werden. Demut in Fragen der Wahrheit kann Agnostizismus sein, Demut in Fragen der Ethik karitativer Dienst, Demut in den Beziehungen zu unseren Mitgeschöpfen Umweltschutz, usw.

Nennen wir als Beispiel für eine demütige Haltung Magnus Schwantje, Pazifist, Antirassist und Vorreiter der Tierrechtsbewegung in Deutschland (1877-1959). Schwantje war Veganer, längst bevor es den Begriff gab. Sein Grundsatz war – vergleichbar mit der Lehre seines Zeitgenossen Albert Schweitzer – die Ehrfurcht vor dem Leben. Zugleich war er, was in diesem Zusammenhang interessant ist, Agnostiker, also jemand, der sich nicht anmaßte, über die „letzten Dinge“ letztgültige Aussagen machen zu können. Schwantje nannte als sein Motiv „die heilige Scheu vor der Vernichtung irgendeines Lebewesens (…) die Scheu davor, etwas zu zerstören, was wir nicht neu schaffen können, einem Wesen etwas zu nehmen, was wir ihm nicht wiedergeben und nicht ersetzen können und eine Tat auszuführen, von deren Folgen wir Menschen nur sehr wenig erkennen können.“ Und in der Tat: Haben wir einen Ast abgebrochen, können wir ihn nicht wieder ankleben; haben wir eine Ameise zertreten, ist selbst der genialste Biologe oder Genforscher unfähig, sie zu „reparieren.“

Dem Wissen um die eigene Unfähigkeit, auch nur das kleinste und „primitivste“ Lebewesen selbst zu erschaffen (Demut des Nichtkönnens) entspricht die Einsicht in die Grenzen des eigenen Erkenntnisvermögens (Demut des Nichtwissens). Beides – Ehrfurcht vor dem Leben und Agnostizismus – sind Grundhaltungen des Mystikers. Der Franziskaner-Pater Richard Rohr schreibt hierzu: “Die echten Mystiker sind immer demütig und mitfühlend, denn sie wissen, dass sie nichts wissen.“ Demut bedeutet zunächst eine realistische Selbsteinschätzung, beginnend mit der Erkenntnis, dass wir die „einzig wahre Wahrheit“ niemals erkennen können, dass wir Wesen des Übergangs sind, halbblind von einer Vorläufigkeit zur nächsten stolpernd. „Demut und Aufrichtigkeit sind in Wahrheit dasselbe“, schrieb Richard Rohr. „Du und ich, wir sind vor ein paar Jahren hier aufgetaucht, und in ein paar Jahren werden wir hier wieder verschwinden. Demut ist die einzig aufrichtige Lebensweise.“

Damit verwandt ist auch das Wissen, dass wir nicht die eigentlich Ursache unserer Qualitäten und Fähigkeiten sind. „Gott, von dem auf uns alles Gute her fließt“, schrieb Augustinus in einem seiner Gebete. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, deren Werke seien gar nicht aus ihnen selbst heraus entstanden. Vielmehr seien sie (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, Gabe, Gnade. So sagte der vor einigen Jahren verstorbene Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseitetreten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“ Um ein für dieses Webmagazin passenderes Beispiel zu zitieren: Konstantin Wecker gibt zum kreativen Prozess immer wieder an, Gedichte und Melodien „passierten ihm“, ein gelungenes Kunstwerk sei also nichts, worauf er stolz ist, da er sich nicht als dessen Urheber betrachte.

Selbst wenn man die Abhängigkeit von Gott beiseitelässt, an die nicht jeder glauben will oder kann, ist doch eines festzustellen: Wechselseitige Abhängigkeit ist eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat dies immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche. Ich will versuchen, diese buddhistische Grundhaltung an Beispielen plausibel zu machen. Es gibt spirituelle Seminare, in denen die Teilnehmer lernen, dass sie selbst Schöpfer ihrer Realität sind. Schauen wir uns diese „Schöpfer“ einmal genauer an, so stellen wir fest, dass sie nicht einmal das Klopapier, das sie in den Seminarpausen benutzen, selbst erschaffen haben. Den Tee, den sie trinken, haben andere angebaut, gepflückt, verarbeitet und gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet. Die Bettdecke, die sie nachts wärmt, haben andere fabriziert. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen.

Natürlich, auch ich gebe anderen etwas: durch meine beruflichen und privaten Aktivitäten, durch freundliche Worte, Berührungen und journalistische Arbeiten. Aber ungleich mehr habe ich geschenkt bekommen. Mein Körper ist aufgebaut aus Stoffen, die aus der Natur entnommen sind: Wasser, Mineralien, Luft, Sonnenlicht u.a. Ich bin ein durch und durch „zusammengesetztes“ Wesen, dessen Existenz vollständig von der mich umgebenden Welt abhängt. Auch unser Geist ist, wie der Körper, zusammengesetzt aus Bestandteilen, die nicht aus uns selbst kommen, sondern unserer Umgebung entnommen sind. Die Wörter, die wir in unserem Geist bewegen, wurden von unserer Kultur, von unseren Vorfahren erschaffen. Unser Geist ist angefüllt mit den verinnerlichten Botschaften unserer Eltern, unserer Lehrer, Kollegen, Freunde und Liebespartner, angefüllt mit den Worten der Bücher und Zeitungen, die wir gelesen haben, der Songtexte, die wir gehört haben, der Werbebotschaften und Emails, mit denen wir täglich bombardiert werden. Wir halten die Gedanken, die in unserem Geist aufsteigen für „unsere eigenen“. Aber wie viel davon kommt wirklich aus uns?

Der Mensch gleicht so gesehen einer Zwiebel, bei der man durch Abschälen der oberen Häute nie auf einen Kern, sondern nur immer auf weitere Häute stößt. Wenn auch die innerste Hülle abgeschält ist, bleibt: nichts! Vielleicht ist aber gerade dieses „Nichts“ unser Wesen. Natürlich handelt es sich dabei nicht wirklich um „Leere“, sondern um den unsichtbaren Beweger, der „Tao“ oder „Gott“ genannt wurde. Er gleicht nicht einem Grashalm, sondern eher dem Wind, der diesen Halm in Bewegung setzt. Nur wenn der Grashalm den Wind nicht erkennen kann, denkt er: „Ich habe mich entschieden, hin und her zu schaukeln“. Da wo wir ein auf seine Bedeutung pochendes Ich vermuten, ist bei näherer Betrachtung etwas Nicht-Greifbares, das in Beziehung, in Abhängigkeit existiert und Grund zur Dankbarkeit hat. Wo jedoch keine Abhängigkeit mehr besteht, sondern ein Wesenskern aus sich selbst heraus existieren kann, dort gibt es „mich“ gar nicht mehr, nur überpersönlichen Geist. Die buddhistische Annahme, dass das Ich „leer von eigenständiger Existenz“ sei, ist die grundlegende Quelle einer gesunden Demut.

Auch der evangelische Theologe und Sachbuchautor Jörg Zink wendet sich entschieden gegen den Wahn, wir selbst seien die Ursache allen Geschehens um uns herum. „Niemand entscheidet selbst. Niemand handelt allein. Was wir entscheiden, ist uns von allen Seiten vorgezeichnet. Was wir sind, sind wir durch unzählige fremde Bedingungen und durch unzählige andere Menschen.“ Dieser Satz widerspricht drastisch der von mir so genannten „Spiderman-Philosophie“, die im dritten Teil der Filmreihe so formuliert wird: „Entscheidungen machen uns zu denen, die wir sind“ Wir finden diesen Satz in unzähligen Varianten in der US-amerikanischen Film-„Kunst“ und amerikanischer Selbstermächtigungs-Esoterik.

Eine andere Variante dieses Satzes habe ich als „Udo-Jürgens-Philosophie“ bezeichnet: „Du allein kannst Meister deines Schicksals sein“. Dies ist nicht nur für Gottgläubige eine Anmaßung, es ist dies auch für politisch wache Menschen, die die Systemzwänge des Kapitalismus und die Faktoren Milieu und Erziehung immer mit in den Blick nehmen. Isolierter Verantwortungsheroismus als kulturelles Leitbild – dies liegt eher im Interesse jener politischen Kräfte, die mit Verweis auf unsere „Eigenverantwortung“ ihr eigenes verantwortungsloses Verhalten verschleiern wollen. Unverbundene Einzelwesen sollen sich, weil sie verlassen sind, nur noch auf sich selbst verlassen können und sich selbst als die einzige Ursache eines möglichen biografischen Scheiterns ansehen. Damit wird Solidarität als eher schädlicher, weil ent-mächtigender Verstoß gegen das Eigenverantwortungsdogma interpretiert. Reiche und die Solidargemeinschaft sind billig aus ihrer Verantwortung für Schwächere entlassen.

(Den zweiten Teil dieses Artikels lesen Sie am kommenden Montag auf dieser Seite)

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