Der Eichhörnchenpark 2/2

 In Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

GrauhörnchenEine Erzählung aus dem Zyklus „Uwe“ von Roland Rottenfußer, der in sehr großen Abständen in diesem Magazin veröffentlicht wird. Uwe ist ein behinderter junger Mann von wuchtiger Statur und eingeschränkter Intelligenz, jedoch begabt mit Intuition und einem großen Herzen. Nachdem das Behindertenheim, in dem er gewohnt hatte, wegen Geldmangels geschossen wurde, hat der Erzähler ihn – obwohl selbt finanziell in prekärer Situation – bei sich zuhause aufgenommen. Uwes besondere Perspektive wirft ein Licht auf die schöne neue Welt der neoliberalen Globalisierung und des Sozialabbaus. (Roland Rottenfußer, 1. Teil dieses Artikels hier)

Ich lieh mir dann von Frau Bichl die Heimatzeitung aus, die Uwe und ich uns nicht leisten konnten, die uns die Nachbarin aber ausnahmsweise überließ. Der Dr.-Kurt-Möbius-Park war von dem international operierenden Konzern Squirrel Park Inc. aufgekauft worden, nachdem finanzielle Engpässe in der Gemeindekasse die Stadtverwaltung gezwungen hatte, einiges an öffentlichem Eigentum an potente Investoren zu veräußern. „Squirrel Park“ – der Name war ein merkwürdiger und eigentlich sympathischer Zufall. Ich hatte von dem auf Stadtparks spezialisierten Franchise-Unternehmen mit dem charakteristischen Logo – einem grinsenden Grauhörnchen mit sieghaft nach oben gerecktem Daumen – schon gehört. Squirrel Park-Filialen gab es auf allen fünf Kontinenten und in praktisch allen Weltregionen. Und, ja, in jedem dieser Parks wurden bewusst Eichhörnchen ausgesetzt und angefüttert, so dass sie sich den Besuchern nach einiger Zeit vertraulich näherten, um Erdnüsse bettelnd. Wie man im Internet nachlesen konnte, gab es in Squirrel Parks allerdings nur die amerikanischen, die grauen Hörnchen, die etwas größer und untersetzter waren als die roten in Europa und deren Ohren büschellos abgerundet waren wie die von Ratten. Putzig auch sie, aber wenn ich zu wählen hätte, würde ich gewiss die schlanken und hübscheren „Roten“ bevorzugen.

Die Tierfamilie „Hörnchenartige“ innerhalb der Ordnung „Nagetiere“ umfasst etwa 270 Arten, darunter überraschenderweise auch das Alpenmurmeltier. Da gibt es das kaukasische Eichhörnchen, das japanische Eichhörnchen, das mexikanische Rotbauchhörnchen, das zentralamerikanische Bunthörnchen, das venezolanische Gelbkehlhörnchen, das indische Streifenhörnchen, das schon im Sofa des erleuchteten spirituellen Meisters Sri Ramana Maharshi genistet haben soll. Ferner natürlich Exoten wie das südostasiatische Schönhörnchen mit seiner aparten schwarz-weiß-braunen Musterung und, nicht zu vergessen, das finnische Gleithörnchen, das sich mit Häuten zwischen den Gliedmaßen elegant von Baum zu Baum schwebend fortbewegte. Nun darf man aber nicht annehmen, dass in den Squirrel-Parks Japans, Mexikos, Venezuelas, Finnlands oder Burmas die jeweils heimischen Arten zu bewundern sind. Ausgesetzt wird dort im Sinne einer einheitlichen Markenführung ausschließlich eine Art: das schmalschwänzige Arizona-Grauhörnchen.

Natürlich gibt es in Squirrel Parks schon aus Kostengründen nicht nur US-amerikanische Bäume. Meist nutzt der Markenparkbetreiber den schon gewachsenen Baumbestand und die vorhandenen Anlagen in städtischen Parks. Sie werden von einem Gärtner-Team den jeweiligen Richtlinien des Franchisings angepasst – wie ja auch im Fall meiner Heimatstadt. Was aber wird aus dem ursprünglichen, regionalen Eichhörnchenbestand in den Parks? Ich versuchte Uwe zu erklären, dass die Hörnchen bestimmt eingefangen und in einem großen Wald ausgesetzt wurden, wo sie in einem Paradies voller Eicheln und Bucheckern bis an ihr seliges Ende über die Bäume turnen durften. Leider dürfte diese idyllische Vorstellung nicht der Wahrheit entsprechend. Als ich einmal – zum Glück ohne Uwe – am Rand des Bauzauns entlangspazierte, drang ein beißender Gasgeruch in meine Nase. Einmal sah ich sogar ein totes Rothörnchen hinter dem Zaun liegen, jämmerlich verendet und alle Gliedmaßen von sich gestreckt – ein trauriges Bild.

BlumenabfallVor dem Holzschuppen, nahe dem ehemaligen Parkeingang, sah ich zudem einen riesigen Haufen Gartenabfalls, doppelt mannshoch, der bis zum Zaun reichte. Ich erkannte abgerissene Blüten des lila Storchschnabels, des majestätischen Waldweidenröschens, der krokusartigen Herbstzeitlose und der rosanen Lichtnelke. Zu diesem Zeitpunkt war es schon Ende August, und die Wiedereröffnung des Parks stand unmittelbar bevor. Die genannten Blumen gehörten zu meinen Lieblingspflanzen in der Spätsommer- und Herbstsaison. Ich hätte Uwe mit meiner Begeisterung für die Blumen anstecken wollen, bis er bei ihrem Anblick – stolz über seine Botanik-Kenntnisse – „Liebe Weidn-Rös-Chn!“ ausgestoßen hätte. Damit sah es jetzt schlecht aus, denn was sollten die Blumenleichen anderes bedeuten als dass man die betreffenden Arten aus dem Programm genommen hatte.

Dem Tag der Wiedereröffnung des Parks, dem 1. September, sah ich insofern auch mit gemischten Gefühlen entgegen. Uwe hatte sich schon Tage vorher in fiebrige Erregung hineingesteigert. Sein schwerer Körper wippte unruhig auf dem Fernsehsessel hin- und her, während er in scheinbar unmotivierte Lachanfälle ausbrach. Das Einatmen hörte sich dabei jeweils wie das gierige Luftschnappen eines Ertrinkenden an. Nur zum Schein (obwohl ich den Grund genau wusste), fragte ich Uwe dann immer rituell nach dem Grund seiner Freude. „Morgn gehen in’n Eich-Hörn-Chnpark!“

Ich hatte der Tagespresse schon entnommen, dass der Eintritt in den Squirrel Park von nun an 7 Euro pro Person kosten würde. Ich hatte keine Ahnung, wie wir uns das auf Dauer würden leisten können und versuchte die langfristige Perspektive ehrlich gesagt zu verdrängen. Wenn ich Gedanken daran dennoch zuließ, sah ich eine düstere Zukunft mit einem unaufhörlich flennenden, nach dem Eichhörnchenpark schreienden Uwe vor mir. Für diesen Tag aber, den 1. September, hatte ich das Geld bereit. Der erste Konflikt mit den Park-Ordnungskräften bahnte sich an, als Uwe wie gewohnt gleich an der Kassenschlange vorbei hineinstürmen wollte. Zwei uniformierte Ordner mit dem Squirrel-Park-Logo (dem Grauhörnchen) auf der Hemdbrust versperrten ihm den Weg. Ich konnte eine Verhaftung des randalierenden Uwe nur verhindern, indem ich den Männern entschuldigend erklärte, Uwe sei behindert. „Wir nennen das ‚Menschen mit mentalen Mobilitätseinschränkungen‘, belehrte mich der Ordner, der wohl kaum fähig gewesen wäre, mit Uwe länger als eine Stunde zusammenzuleben.

Wir gelangten also nach fünf Minuten in der Warteschlange zur Kasse, wo ich routiniert Uwes Behindertenausweis vorzeigte, der uns in vielen Fällen schon Ermäßigung eingebracht hatte. Gelegentlich durfte ich als Begleitperson sogar umsonst in Veranstaltungen. „Keine Ermäßigung“, raunzte der Kassierer in einem genervten Tonfall, als sei er dergleichen schon oft gefragt worden – von Eltern mit Kindern, Studenten oder Rentnern. „Aber es gibt für Behinderte überall Ermäßigung“, wandte ich ein. „Das mag schon sein, aber Squirrel Park ist ein Privatunternehmen, und der Eigentümer kann über Ermäßigungen verfügen, wie er will. Sie verlangen ja auch, dass in Ihrem Wohnzimmer Ihre Regeln gelten. In diesem Fall lautet die Entscheidung des Eigentümers: Keine Ermäßigung. Also nehmen Sie jetzt die zwei Karten für zwei Personen, 14,- Euro, sonst muss ich Sie auffordern, den Kassenbereich zu verlassen. Es gibt noch andere Leute, die auf ihr Ticket warten.”

Ich bezahlte die 14,- Euro, die unser Monatsbudget sehr belasten würden, und wurde von einer Schranke, einem Drehkreuz aufgehalten. Auch das war neu im Park. Nachdem ich das Ticket einige Male verkehrt herum in den Schlitz gesteckt hatte, ertönte endlich ein erlösendes Piepen. Eine grüne Leuchte zeigt an, dass ich durchgehen durfte. Uwe hatte noch seine Schwierigkeiten, weil er sich erst zu früh, dann zu spät gegen das Drehkreuz stemmte. Schließlich aber stand auch er mit mir im neu gestalteten Schmuckhof. Statt der reichhaltigen, etwas chaotisch angeordneten Flora des alten Parks, fanden sich nun in den Beeten ausschließlich Monokulturen aus gelben und pinkfarbenen Gladiolen und roten Geranien, die wie Kunstblumen wirkten. Sie waren in 2 x 2 Meter großen Quadraten zusammengefasst, wie zu militärischen Formationen hinter- und nebeneinander aufgereiht. An den Rändern der Anlage fanden sich noch gleichförmige Reihen gummiartiger dunkelrosaner und weißer Orchideen.

BuchsbaumUwe störten die etwas unlebendige Perfektion und die mangelnde Artenvielfalt der Anlage zunächst nicht. Es sah nur viele neue, große und bunte Blumen. Schwieriger wurde es, als er beim Versuch, eine Gladiolenblüte sanft zu streicheln („Liebe ‘Diole‘!“) von einem Ordner brüsk zurechtgewiesen wurde: „Wir berühren hier die Pflanzen nicht!“ In der ihm eigenen Unbedarftheit verstand Uwe nicht, warum der fremde Mann so unfreundlich zu uns war. Ebenso wenig verstand er, warum die Menschen im Park jeden der derart unfreundlich vorgebrachten Wünsche des komischen Mannes unverzüglich erfüllten. Er kannte keine Hierarchien und wusste nicht, was eine Anweisung war. Wenn man einen Deutschen traf, dem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit nicht gänzlich in Fleisch und Blut übergangen war, musste es sich offensichtlich um einen geistig Behinderten handeln. Uwe benahm sich nämlich erst einmal allen Menschen gegenüber gleich und sprach sie mit „Du“ an. Nach dem ersten Kennenlernen unterschied er sie ausschließlich nach einem Kriterium: ob sie „lieb“ waren oder nicht. Dieser Ordner war offensichtlich nicht lieb. „Blöder Mann!“, gab er seinem Unmut Ausdruck. „Naja, Uwe, der Mann tut nur seine Pflicht“, versuchte ich zu erklären. „Er will nicht, dass die Leute die Blumen umknicken. Wenn jeder sie streichelt, gehen sie vielleicht kaputt, und es sind keine Blumen mehr für andere Besucher da.“ Ich wusste selbst, dass diese Erklärung nur sehr bedingt schlüssig war. Ich hatte eher den Eindruck, als seien die neuen Parkbetreiber von Anfang an daran interessiert, ihre Besucher bedingungslos zu unterwerfen. Die Gründe für diese harte Gangart kannte ich nicht.

Ein Arizona-Grauhörnchen kreuzte unseren Weg, zutraulich, ja fordernd – anders als wir es von den scheuen „Roten“ gewohnt waren. Uwe wollte schon in seinen charakteristischen Erkennungsruf ausbrechen. Dann stockte er und meinte etwas enttäuscht: „Graues Eich-Hörn-Chn“. Ich erklärte ihm, dass diese Nagetierspezies doch ebenfalls recht niedlich sei. Uwe sah das dann ein und rang sich zu einem „Liebes Eich-Hörn-Chn“ durch. Er erwischte das Fell des Tieres sogar flüchtig mit seinen Zeigefinger, bevor es ihm enthuschte, meinte dann einschränkend: „Braune Eich-Hörn-Chn noch lieber“. Eine der an den Bäumen befestigten Überwachungskameras musste uns erfasst haben, denn eine Lautsprecherstimme mahnte mit metallenem Klang: „Bitte unterlassen Sie es, auf dem Gelände des Squirrel-Parks die auf dem Parkgelände befindlichen Kleinnager und Vögel zu berühren und zu füttern. Zuwiderhandlungen können im Wiederholungsfall mit Geldstrafen bis zu 50 Euro und Hausverbot geahndet werden.“ Uwe verstand nicht, was die Stimme sagte. Ich verstand es sehr wohl. Ich wunderte mich, warum die Parkverwaltung so großen Wert darauf legte, Verhaltensweisen zu verbieten, die im „alten Park“ gang und gäbe waren und niemandem geschadet hatten. Aber es blieb mir nichts anderes übrig als die neuen Regeln zu achten, wollte ich kein Parkverbot und damit abgrundtiefe Verzweiflung Uwes riskieren.

Als etwas lästig empfand ich es schon, dass Lautsprecherdurchsagen uns im 10-Minuten-Takt die Parkregeln erklärten. „Verehrte Parkbesucherinnen und Parkbesucher. Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass auf dem Gelände des Squirrel Parks die Benutzung von Skateboards, Kickboards, Onlineskates sowie Mountain- und Citybikes streng verboten ist. Ladies and Gentlemen, we inform you …” Die Liste der Verbote, von der ich nur einen kleinen Ausschnitt wiedergegeben habe, wurde dann nochmals in englischer Sprache verlesen: von einer Tonbandstimme, die keine harmonische Satzmelodie, sondern eher abgehackte, offenbar zusammenmontierte Worte ausspuckte. Nachzudenken oder sich in Ruhe zu unterhalten, war wegen dieser Dauerbeschallung kaum möglich, zumal die Pausen zwischen den regulären Durchsagen oft durch individuelle Ermahnungen und Werbeeinblendungen unterbrochen wurden. Sehr oft machte die Tonbandstimme die Besucher auf Produkte aufmerksam, die im neu eingerichteten Squirrel Park-Shop erhältlich waren: Plüscheichhörchen, Squirrel Park-T-Shirts, Squirrel Park-Puzzles, Squirrel-Park-Computerspiele (etwa den beliebten „Squirrel Shooter“), Squirrel Park-Mousepads, Squirrel-Park-Apps sowie ein Squirrel Park-CD, auf der computerverzerrte Piepsstimmen seichte Schlager intonierten.

Ich hoffte, im hinteren Bereich des Parks, bei den Biotopen, etwas mehr Ruhe zu finden. Vor allem wollte ich Jonas Zierl über seine Meinung bezüglich der Neuerungen im Park befragen. Ich fürchtete, dass es dem alten Haudegen nicht gut damit ging. Die Biotope allerdings suchten wir vergebens. Dort, wo früher ein Bächlein durch die Farnschlucht plätscherte und wo im Frühling die Leberblümchen lila aus modrig durftendem Laub vom Vorjahr hervorleuchteten, stand jetzt die Squirrel Park-Palmenbar. Zwischen ein paar kläglichen Palmen und Drachenbäumen in viel zu schmalen Kübeln schlürften ein paar gut angezogene Jugendliche Green Smoothies und fotografierten sich mit auf Selfie-Sticks montierten Smartphones, während Technomusik aus den Lautsprechern bumperte – niemals jedoch so laut, dass die volkserzieherischen Ermahnungen der Parkverwaltung übertönt worden wären. Eingeebnet waren die früher so natürlich wirkenden Uferböschungen und Vertiefungen, die den Charme der schattigen Schlucht mit ihren Pflanzendinosauriern – dem Wurmfarn und dem Schachtelhalm – ausgemacht hatten. Wo früher die fransigen weißrosa Blüten des Fieberklees aus den Feuchtwiesen tauchten, war trockenes Land, bepflanzt mit einer mir unbekannten, überzüchteten Korbblüterart.

Nirgends war Herr Zierl zu finden, so dass ich einen mir unbekannten Gärtner nach dem Namen der Pflanze fragen musste. Der harkte lustlos, jedoch hastig und wie getrieben im Beet herum und gab mir mit einem Achselzucken zu verstehen, dass er meine Sprache nicht verstand. Ich musste davon ausgehen, dass an den Pressevorwürfen gegen Squirrel Park, wonach der Grünanlagenmulti mit Vorliebe Niedriglöhner aus Kasachstan beschäftigte, etwas dran war. Nicht einmal zu dem stark ausgedünnten Repertoire verschiedener Planzenarten im neuen Park konnte ich also die geringste gärtnerische Expertise erwarten. Ich begann, jeden Uniformierten, den ich sah und auch einige Besucher nach Jonas Zierl zu fragen. Wenn mich überhaupt jemand verstand, war dem Betreffenden der Name unbekannt. Auch Uwe wurde wieder einmal verhaltensauffällig, indem er Männer und Frauen sanft an der Schulter fasste und „Herr! Zirrrl!“ ausstieß.

Ein junger, sehr gepflegter Mann in Squirrel Park-Uniform kam auf uns zu. Seine Frisur war abrasiert, wie die eines US-Elitesoldaten. „Sven Süstrop“, stellte er sich vor. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Herr Süstrop roch nicht nach Schweiß und auch sein Gesicht hatte keinerlei spezifischen Ausdruck. Ich erklärte ihm mein Anliegen. „Herr Zierl arbeitet nicht mehr für uns. Er ist gleich nach Übernahme des Parks durch die Squirrel Park AG aus unserem Unternehmen ausgeschieden. Ich bin sozusagen sein Nachfolger, der neue Gardening Manager“ „Aber warum ist er …?“ „Darüber darf ich Ihnen eigentlich keine Auskunft geben. Mein persönlicher Eindruck ist aber: Herr Zierl kam von Anfang an nicht mit dem Wind of Change zurecht, den die neuen Eigentümer mitgebracht haben. Er zeigte null Flexibilität und hätte am liebsten alles beim Alten gelassen: selbe Bepflanzung wie immer, selbe Gartenarchitektur, selbe Parkordnung. Herr Zierl passte einfach nicht mehr in unser junges Team.“ „Aber“, warf ich ein, „Herr Zierl war bestimmt über 60. In dieser Situation seinen Job zu verlieren, ist hart. Was soll er denn jetzt machen? Wissen Sie was aus ihm geworden ist?“ „Tja“, sagte Süstrop, wobei er eine Augenbraue smart anhob. „Jeder ist seines Glückes Schmied nicht wahr? Er wird auf Hartz IV sein. Gut, dass wir einen Sozialstaat haben.“

Kein Krokus, Herbstzeitlose

Kein Krokus, Herbstzeitlose

Als ich mich zu Uwe umdrehte, war er auf einmal verschwunden. Ich musste nicht lange suchen, um ihm nahe dem Waldrand, am Boden kauernd, zu entdecken. Uwe starrte auf irgendetwas Kleines, was er in der Wiese entdeckt haben musste. „Nehmen Sie ihn da runter. Es ist verboten, die Grünanlagen zu betreten“, ermahnte mich Süstrop in einem plötzlich sehr scharfen Tonfall. „Aber Uwe ist es so gewohnt, wissen Sie, er ist …“ „… ein Mitbürger mit mentalen Mobilitätseinschränkungen, ich weiß. Wir müssen aber leider darauf bestehen, dass die Parkordnung eingehalten wird – von allen Besuchern. Wenn Sie ihn nicht da runterholen, dann holen wir ihn.“ Süstrop sprach kurz etwas in sein Smartphone. Sofort kamen zwei Ordnungskräfte im Laufschritt hinter einem Gebüsch hervor. Ich hielt es für das Beste, Uwe selbst am Waldrand abzuholen. Vielleicht ging er bereitwillig mit mir zurück, bevor die Situation zwischen ihm und den Ordnern eskalierte. „Halt!“, brüllte Süstrop! „Ich gehe nur meinen Freund holen“, rief ich zurück. Uwe kauerte versunken vor einer Blume, einer Herbstzeitlose. Die Ähnlichkeit der Pflanze mit dem Frühlingskrokus war unübersehbar, was Uwes Liebe zu dieser Blumenart erklärte. Nur dass die Blütenblätter von Herbstzeitlosen in einem helleren Lila gefärbt und dabei schmaler und eleganter waren als die des Krokusses. Das schöne Exemplar stand allein da. Ein paar herumliegende, zerstückelte Herbstzeitlosenblätter ließen darauf schließen, dass die Gartenarbeiter alle Blumen hier abgemäht hatten, um einen einheitlichen Rasenbewuchs zu kreieren. Die Herbstzeitlose war eher aus Versehen stehengeblieben.

„Uwe, komm mit. Wir müssen zurück auf den Weg. Es ist verboten, einfach auf die Wiese zu laufen.“ Ich packte Uwe am Arm, aber er schüttelte mich unwillig ab und blickte weiter versunken auf die Herbstzeitlose. „Liebe Blum’!“, stieß er aus. Da waren die Ordner schon bei uns. „Sie verlassen jetzt sofort die Grünanlage!“, bellten sie. Uwe rührte sich nicht. „Sir!“, sagte einer der Ordner und nahm ihn am Arm, „Ich muss Sie dringend bitten, jetzt mit mir zu kommen. Andernfalls sind wir befugt, Ordnungsstrafen in Höhe von bis zu 150 Euro zu verhängen – zahlbar unverzüglich.“ Uwe bewegte sich keinen Millimeter vorwärts. Das Problem war, dass mein Freund keine „Wenn-Dann-Sätze“ verstand. Er war taub für Drohungen und konnte sich die Konsequenzen seines Handelns nicht ausmalen. Gäbe es nur Menschen wie Uwe, wäre es für Obrigkeiten unmöglich, die notwendige Ordnung aufrecht zu erhalten, denn alle Macht basiert auf Drohungen und auf der Fantasie der Unterworfenen, sich die angedrohten Konsequenzen vorzustellen. Alles, was Uwe in diesem Moment verstand, war, dass da ein paar lästige, unfreundliche Männer gekommen waren, ihn noch dazu körperlich bedrängten.

Herr Süstrop, der dazugekommen war, besah sich das Objekt von Uwes Aufmerksamkeit. „Ein Krokus“, sagte er – offenbar konnte nicht einmal der Gardening Manager, Nachfolger des großen Botanik-Gelehrten Jonas Zierl, die Pflanze korrekt bestimmen. „Gehört nicht zum Bepflanzungsplan in Parzelle I/95“. Bei diesen Worten trat er die Herbstzeitlose nieder, drehte seinen Fußballen ein paar Mal auf dem Gras hin und her. „Nicht, Uwe!“, versuchte ich noch meinen Freund zu beruhigen. Doch Uwe hatte sich aufgerichtet, er zitterte vor Zorn. „Blöder Mann!“ brüllte er und stieß Süstrop so heftig vor die Brust, dass dieser vier Meter weit taumelte und gegen einen Baumstamm stieß. Dann kniete er sich ins Gras, streichelte den jämmerlichen Rest der Herbstzeitlose mit seinem dicken Zeigefinger und sagte: „Arme Blum’!“ In seinem Auge standen Tränen. Die beiden Ordner versuchten ihn nun von hinten am Arm zu packen, doch Uwe schüttelte beide mit einem einzigen Ruck ab, so dass sie taumelten und zu Boden fielen. „Ihr habt die liebe Blum’ umgebracht!“, schrie er. Einer der Männer aber hatte sich aufgerafft, in der Hand einen Stab, dessen Funktion ich nicht sofort begriff. Er berührte Uwe damit, dieser zuckte zusammen, vibrierte und schrie auf. Dann fiel er wie tot zu Boden.

„Uwe!“ Ich kniete mich neben ihn und rüttelte ihn an der Schulter. „Der steht schon wieder auf“, brummte der Ordner. Tatsächlich begann Uwe, sich zu regen und zu stöhnen. „So jetzt aber runter vom Rasen! Das gilt auch Sie, Sir!“ Mit ganzer Kraft gelang es mir, Uwes schweren Körper aufzurichten. Einen Krankentransport würden wir uns nicht leisten können. Wir mussten schnellstens hier raus, sollte die Angelegenheit nicht noch teurer werden als sie es ohnehin schon war. Uwe weinte. Ein Dutzend Passanten hatte einen Halbkreis um uns gebildet. Die Männer und Frauen feixten, schüttelten entrüstet den Kopf über unser Verhalten und machten keinen Hehl aus ihrer uneingeschränkten Solidarität mit den Ordnern. Ich zog Uwe, der noch taumelte und dessen Augen von Tränen blind waren, so gut ich konnte, vom Rasen. Da wir aber nicht so schnell vorankamen, wie ich wollte, trieben uns die Ordner mit leichten Stromstößen an. Sie waren nicht so schlimm, dass wir ohnmächtig wurden, aber schmerzhaft. Ich versuchte, die Hand eines Parkwächters festzuhalten, der gerade sein Elektroschockgerät auf Uwe richtete. „Widerstand gegen eine Ordnungskraft und versuchte Gefangenenbefreiung. Das wird teuer“, kicherte der Wächter und versetzte mir einen noch stärkeren Stromstoß. Ich nahm das bisschen Mut, das mir geblieben war, zusammen und erklärte ihm, dass sein Verhalten gegen die Menschenrechte verstoße. Der Ordner meinte, ich könne ja versuchen, mich zu beschweren. In Squirrel Parks gälten die internationalen Squirrel Park-Regeln. Es sei mit den städtischen Behörden vereinbart, dass Ordnungskräfte hier Polizeigewalt ausüben dürften – und zwar nach US-amerikanischen Standards.

Ich wollte mit dem lädierten Uwe so schnell wie möglich durch den Ausgang verschwinden, doch Herr Süstrop hielt mich auf. „Stop, natürlich muss zuerst die Rechnung bezahlt werden.“ Süstrop tippte auf der Tastatur eines Quittungs-Automaten herum, wie ihn Politessen verwenden, wenn sie Knöllchen verteilen. Mit einem Surren löste sich ein Beleg aus dem Gerät, lang wie die Rechnung nach einem Großeinkauf. Widerrechtliches Betreten des Rasens: 30 €. Pauschale für Wiederherstellungsarbeiten auf von den Tätern niedergetrampeltem Gelände: 120 €. Und eine Reihe weiterer Posten. „Wir sehen von einer Anzeige wegen Widerstands gegen eine Ordnungskraft und versuchter Gefangenenbefreiung ab, wenn Sie einem Verwarnungsgeld von 490 € zustimmen und dieses vor Ort bezahlen“, erläuterte Süstrop. „Anderenfalls kommen Mahngebühren, Anwalts- und Gerichtskosten hinzu. Außerdem erhalten Sie ab heute lebenslanges Hausverbot in allen Anlagen von Squirrel Park weltweit.

„Ich habe nicht so viel Geld einstecken“, sagt ich und versuchte, meine Stimme nicht so schwach klingen zu lassen wie ich mich fühlte. „Wie sie wollen“, bestimmte Süstrop. „Dann möchte ich jetzt Ihren Ausweis sehen.“ Ich zeigte unsere Ausweise vor. „Der Behinni kann vielleicht auf Schuldunfähigkeit plädieren, Sie aber nicht“, erklärte mir Süstrop, als er Uwes Ausweis sah. „Und jetzt gehen Sie, wir möchten Sie nicht mehr hier sehen!“

Beim Hinausgehen merkten wir, dass sich das Drehkreuz nicht bewegte. Der Gardening Manager, der noch hinter uns stand, versuchte das Ticket selbst in den Spalt zu stecken, ein rotes Licht leuchtete auf. „Sie sind schon seit 1 ¼ Stunden hier, Sie müssen nachzahlen?“, sagte er trocken. „7 Euro Grundpreis, weitere 3 Euro für jede angefangene Stunde. Da ist der Nachzahlautomat“. Ich kam nicht mehr dazu, zum Automaten zu gehen. Uwe hatte das Drehkreuz mit einem einzigen Tritt seiner klobigen Stiefel aus den Angeln gehoben. „Blöder Zaun!“ grummelte er.

Die Ordner folgten uns nicht. Sie hatten unsere Adresse. Es würde teuer werden.

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