Der i-Hamster

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Philosophie

Beschleunigung, Informationsflut und mangelnde innere Ruhe greifen wie Zahnrädchen ineinander und treiben das Hamsterrad des Zeitgeistes zu immer schnelleren Umdrehungen. Aber wir sind dem nicht hilflos ausgeliefert. Wir müssen keine i-Hamster werden. Bobby Langer

 

Es war vor ca. 55 Jahren.
– „Was machen wir am Wochenende?“, fragte ich meine Kameraden beim Heimweg von der Schule.
– „Wir könnten klettern gehen.“
– „Gute Idee, ich kann aber nur am Sonntagnachmittag.“
– „Wann?“
– „Um drei.“
– „Passt mir auch.“
– „Mir auch.“
– „Mir auch.“
– „Okay, dann treffen wir uns bei Bruno.“

Wir waren frisch in der Pubertät angekommen und erprobten unsere Kräfte an unserem ungefähr acht Meter hohen Kletterfelsen, dem „Kuhfelsen“. Wir hatten uns ein paar Wurstbrote und Limo mitgenommen und kamen abends verschwitzt nach Hause. Es war ein guter Nachmittag.

Verschwindende Zeit, wachsende Beschleunigung

Das war die Zeit, als Verabredungen noch einfach waren, weil man sich drauf verlassen konnte, weil man sich drauf verlassen musste. Zwei von uns vieren hatten nicht einmal ein Telefon im Haus. Heute braucht es zwischen vier und zwanzig Messenger-Nachrichten, bis vier Jugendliche einen Termin ausgemacht haben. Und möglicherweise sagt einer noch fünf Minuten vorher ab; wenn überhaupt.

Darüber kann man klagen oder man kann’s auch lassen. Hier geht es nicht um die Vorteile oder Nachteile von Handys und Internet oder Klage über die Jugend. Es geht um die verschwindende Zeit; oder um die wachsende Beschleunigung, je nachdem, wie man’s sieht.

Ich will nicht in der Klapse landen

Die längste Zeit meines Lebens war jemand, der ohne Begleitung laut vor sich hin sprechend einen Gehweg entlanglief, ein Verrückter, harmlos in der Regel, aber eben nicht ganz bei Trost. Die Assoziation streift mich bis heute, denn solche Menschen sind neuerdings alltäglich und überall zu besichtigen. Natürlich schüttle ich den dummen Gedanken schnell ab und mache mir bewusst: Da erledigt jemand auf seinem Handy einen Anruf: mit der Freundin, mit den Eltern, mit einem Kunden, mit dem Vorgesetzten, mit dem Angestellten … Da, denke ich mir, arbeitet jemand seine Tasks ab, damit er danach freihat. Nur wofür? Für die nächsten Tasks natürlich.

Als wir uns für den Kuhfelsen verabredeten, wussten wir alle, woran wir waren. Das war schnell erledigt. Handy und Internet sind praktisch, keine Frage, ich benutze sie täglich, aber wenn ich nicht aufpasse, komme ich schnell in ein Gefühl des Gehetztseins. Immer gibt es etwas zu erledigen, immer hat jemand eine SMS, eine Insta-Message, eine WhatsApp, eine E-Mail geschrieben und erwartet meine prompte Reaktion. Ich habe drei Messenger-Dienste und vier E-Mail-Accounts am Laufen. Die meisten meiner Bekannten finden das übertrieben – ich übrigens auch. Andererseits zwingen mich die rund 250 Mails und ähnlich viele Messages am Tag, sehr ökonomisch damit umzugehen und mich nicht hetzen zu lassen. Ich habe nämlich beschlossen, weder im Burn-out noch in der Klapse zu landen.

Drei-Minuten-Notbremse

In den letzten zehn Jahren sind die psychischen Erkrankungen um 48 Prozent gestiegen. Wen wundert das! Und die immer dickere Bevölkerung passt dazu. Wer dauernd etwas in sich reindrückt – entweder weil er der Werbung oder Suchtstoffen erliegt oder weil er etwas zu kompensieren hat – wird fett. Und wer dauernd neue Informationen verarbeiten muss, dreht leicht am Rad: am i-Hamsterrad. Ein bisschen i-Hamster sind wir mittlerweile alle, und wir brauchen ein verdammt gutes mentales und emotionales Verdauungssystem, um bei uns zu bleiben. Ansonsten geraten wir in Dauerstress, den wir loszuwerden versuchen, indem wir unterwegs unsere Tasks am Handy abarbeiten. Genau das habe ich mir verboten. Das Handy nutze ich unterwegs nur, wenn ich mich verspätet habe und die Höflichkeit einen Anruf gebietet. Und für mehr Ruhe habe ich mir zwischen verschiedenen Tätigkeiten eine Drei-Minuten-Innehalten-Pause auferlegt. Aber was ist das für eine Zeit, in der man sich solche Zeiten verordnen muss?

Jeder Schuss ein Treffer

Wer früher auf dem Bahnsteig oder an der Bushaltestelle stand, wer zu Fuß einkaufen oder zur Kirche ging, wer auf einer Parkbank, auf dem Balkon oder der Terrasse saß oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel unterwegs war, der hatte Zeit, ganz einfach mal nichts zu denken. Oder über Gott und die Welt nachzusinnen, über die Kinder, seinen Schatz, die Schwiegermutter, die Zukunft … In all diesen Situationen wird heute das Handy gezückt, die Universalwaffe gegen innere Ruhe und aufkeimende Gedanken. Und das Schlimme: Jeder Schuss ist ein Treffer. Wenn schon keine Tasks abzuarbeiten sind, dann gibt es bestimmt interessante Bildchen zu betrachten, einen Film herunterzuladen oder eine Message an seine Freundinnen abzufeuern. Einfach nur nichts tun, geht jedenfalls gar nicht.

Verantwortung sich selbst gegenüber

Nur: Wer auf keine innere Ruhe zurückgreifen kann, wer kein inneres Bänkchen hat, auf dem er sich ausruhen und der Welt zuschauen kann, der wird abhängig. Der Informationsberg ist meistens doch eher ein Sandhaufen, den man von unten her abzugraben versucht, während oben immer mehr und immer schneller nachgeschüttet wird. Und: Ohne dieses innere Bänkchen stellen sich Zartgefühl, Mitgefühl oder gar Liebe nur sehr schwierig oder gar nicht ein, Porno dagegen geht immer.

So verstärken sie sich gegenseitig, die Informationsflut, die schwindende Zeit und die Ruhelosigkeit, so schaukeln sie sich hoch, bis etwas oder jemand den Schlussstrich zieht. Im Idealfall sind das die Eltern, die sagen: „Heute hast du lang genug vor dem Bildschirm gesessen.“ Im erwachsenen Idealfall ist es das eigene Gewissen, die Verantwortung sich selbst gegenüber, denn als i-Hamster kann man garantiert alles, nur nicht innerlich wachsen. Im schlimmsten Fall zieht der Burn-out die Reißleine, in einem noch schlimmeren eine psychische Krankheit. Aber so weit wollen wir es ja nicht kommen lassen. Die grauen Herren verstecken sich gut, aber sie sind nicht unsichtbar. Danke, Michael Ende.

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