Der Marktführer 1/2

 In Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

Sozial ist was Arbeit schafftIn seinem Kurzdrama “Die Redaktionskonferenz” hatte Roland Rottenfußer eine Imagekampagne der Presse zugunsten einer Aufweichung des Foltertabus beschrieben. Zur Sprache kam auch das Daumenschraubenset “Honestmaker”, das nicht nur für die Terrorismusprävention in angespannter Weltlage alternativlos ist, sondern auch Arbeitsplätze schafft. Diese Geschichte kann man sich als Fortsetzung denken. Ein Journalist, beauftragt von der Redaktion, besichtigt die Herstellerfirma und interviewt den Produktmanager. Wird er den Mut aufbringen, ihn mit den Schattenseiten seines Firmenerfolgs zu konfrontieren? (Roland Rottenfußer)

1. Teil: Die Belegschaft

„Deutsche Firma Weltmarktführer bei Verhör-Technologien“ – diese Schlagzeile hatte eine vernehmliches Rascheln im deutschen Blätterwald erzeugt. Kein Wunder, war man infolge des andauernden Krisengeredes unserer Politiker, Deutschland sei das „Schlusslicht Europas“, schon gar nicht mehr daran gewöhnt, dass Nachrichten auch glücklich machen können. Dass ein Deutscher Papst geworden war, mag ja ehrenhaft sein, macht die Geldbeutel der einheimischen Arbeitnehmer und Steuerzahler aber um kein Gramm schwerer. Diese Nachricht war dagegen etwas Handfestes, das die Seele wärmte, ebenso wie es die Renditehoffnungen tausender Aktionäre anheizte. Selbst der angesichts der Dauerkrise sauertöpfisch gewordene Finanzminister entrang seinem schmalen Mund ein Lächeln und erwartete sich eine kräftige Geldspritze.

Alfons Dessad, Produktmanager des global agierenden IST-Konzerns, war sich denn auch durchaus bewusst, dass er der Presse als ein Held und Sieger entgegentrat. Später Abkömmling einer ausgestorben geglaubten Spezies: ein Überbringer positiver Wirtschaftsnachrichten. Und so zelebrierte er seinen Auftritt vor der Pressekonferenz im vollen Bewusstsein seines Triumphes. All die Startschwierigkeiten, der Hürdenlauf durch den Dschungel der deutschen Genehmigungsbürokratie, die Hasstiraden geifernder Zeitungs-Schmierfinken, die Protestmärsche der Weicheier-Fraktion – sie waren widerlegt und endgültig zum Schweigen gebracht durch die schlichte Schönheit jener Grafik, die Dessad den versammelten Journalisten-Kollegen nun per Power-Point-Präsentation zeigte: Eine sauber von links unten nach rechts oben verlaufende Linie, zunächst sanft ansteigend und dann am rechten Rand unvermittelt nach oben schießend. Der Schwellkörper des Firmenerfolgs erigierte sichtlich, durchströmt vom Blut einer beinahe unerschöpflich scheinenden Geld- und Machtzufuhr.

Auch in Alfons Dessads Gesicht schien sich vor lauter Stolz verstärkte Blutzufuhr ergossen zu haben. Seine Schweinchen-Backen waren unter den schmalen Schlitzen seiner Augen rötlich gefärbt wie halb reife Erdbeeren. Sein anthrazitfarbener Maßanzug, die polierten Schuhe, kurz: alle Komponenten seines Outfits waren überdeutliche Insignien eines Mannes, der es geschafft hatte und wollte, dass dies auch bemerkt wurde. Sein Körperbau war etwas untersetzt, aber gerade noch schlank genug, um die erforderliche Dynamik auszustrahlen.

„Wir sind stolz Ihnen mitteilen zu können, dass wir auch im nächsten Jahr zusätzliche Arbeitskräfte in der Größenordnung von 600 Vollzeit- und 200 Teilzeitkräften werden einstellen können“, verkündete Dessad unter dem anerkennenden Raunen der versammelten Fachpresse. „Das sind weitere 5% mehr gegenüber dem Vorjahr. Das bedeutet, IST bietet Arbeit, Brot und soziale Sicherung für Tausende. Sicherheit IST Arbeit. Terrorbekämpfung IST Wachstum – diese Slogans unserer Firma haben sich auf das Schönste bewahrheitet.“

IST war die Abkürzung für Interrogation and Security Technologies. Die deutsche Firma hatte im jetzt auslaufenden Geschäftsjahr sogar den bisherigen Marktführer im Segment Verhörtechnolgie, den US-amerikanischen Konzern TortureTech, vom 1. Platz verdrängt. Marktführerschaft für ein deutsches Unternehmen, einen jungen Senkrechtstarter – wann hatte es das in der vergangenen kargen Zeit jemals gegeben?

Beim Rundgang durch die Produktionshallen stießen meine Journalistenkollegen und ich durchweg auf zufriedene Gesichter. Befragungen der Mitarbeiter ergaben ein mehr als positives Bild vom Betriebsklima, den Produktionsbedingungen und den sozialen Absicherungssystemen der Firma. „Ich bin gern IST-Angestellte, weil wir gemeinsam für eine große Vision einstehen“, sagt uns die Sekretärin des Vertriebschefs, Irmingard Döhser, mit einem strahlenden Lächeln ihres überschminkten Mundes. „Sicherheit in einer durch eine neuartige Gefahrenlage geschüttelten Welt“. Frau Döhser war von der Betriebsleitung offenbar sorgfältig für ihren kleinen Auftritt vorbereitet worden.

Unsere kleine Delegation wanderte weiter. In einer der Werkshallen, die wir besichtigten, wurden Blut-Auffangbecken für das Vorzeigestück des IST-Konzerns, das Modell „Honestmaker“, hergestellt. In einer zweiten die windschnittigen Klemmkurbeln, die natürlich nicht mehr – wie in manchen Burgmuseen zu bewundern – von Hand betrieben wurden, sondern an ein elektronisches Intensitäts-Dosierungssystem angeschlossen waren. Auch der Herstellung garantiert reißfester Leder-Befestigungsriemen und – als Accessoirs – individuell in der Höhe verstellbarer Drehstühle mit Anschnall-Vorrichtung konnten wir beiwohnen.

In einer riesigen Fertigungshalle beobachteten wir die Fließbandproduktion silbrig glänzender Klemmschrauben. Der Betriebsratsvorsitzende von IST, Alois Schäble, war hier zugleich Vorarbeiter und überwachte die Produktion stolz von seiner durch eine Glaswand geschützten Beobachtungswarte. „Bei uns wird nur absolute Wertarbeit hergestellt“, verkündet der stämmige Mann mit der rötlichen umkränzten Halbglatze. „Nur Werkzeugmachermeister und ausgebildete Metalltechniker bekommen überhaupt eine Chance, hier angestellt zu werden. Pfuscher haben bei uns keine Chance. Dementsprechend geht die Reklamationsquote bei unseren Produkten auch gegen Null. Alles, was wir herstellen, funktioniert wie geschmiert. Wer IST kauft, IST zufrieden“ – zitierte er selbstgefällig einen weiteren Slogan aus der Marketingabteilung.

In Alois Schäbles Gesicht lagen eine kumpelhafte Gradlinigkeit und ein Zunftstolz, wie man sie oft bei westfälischen Metallarbeitern findet. Man würde nicht annehmen, dass unter den Händen dieses Mannes Produkte entstehen, die dazu bestimmt waren, Zielpersonen nicht gerade mit Samthandschuhen anfassen. Wie alle Mitarbeiter von IST, die ich bei meinem Betriebsrundgang befragte, wich auch Alois Schäble diesem Thema sorgsam aus. Man hatte den Eindruck, als ob hier Häkeldecken für harmlose ältere Damen hergestellt würden. Daher fasste ich mir ein Herz und sprach das Thema direkt an:

„Welche Gefühle haben Sie persönlich gegenüber dem Bestimmungszweck der Produkte, die Sie herstellen?“ Noch während ich dies sagte, überkam mich das Gefühl, dass mein Satz etwas geschraubt klang.

„Warum fragen’s das nicht die Zigarettenhersteller?“, raunzte mich der Vorarbeiter missmutig an. „Die leben vom Lungenkrebs ihrer Kunden. Oder die Waffenindustrie. Und was ist mit den Schlachthöfen? Essen Sie Fleisch, Herr Journalist? Sind Sie schon mal zu Ihrem Metzger gegangen und haben ihm Unmenschlichkeit vorgeworfen?“

„Aber ich habe Ihnen mit keinem Wort Unmenschlichkeit vorgeworfen, lieber Herr Schäble!“

„Natürlich haben Sie das, natürlich nur versteckt, damit Sie sich hinterher raus winden können. Das kennen wir ja von so neunmalklugen Journalisten wie Ihnen. Bevor Sie anständige Arbeiter denunzieren, die hier nur ihre Pflicht tun, fassen Sie sich mal an die eigene Nase. Wahrscheinlich sind Ihre Turnschuhe mit Kinderarbeit in Taiwan hergestellt. Die Verhörtechnik-Industrie ist eine anständige Branche, lassen Sie sich das gesagt sein!“

Ich musste vor der Verve, mit der Alois Schäble seine Verteidigungsrede vortrug, zurückweichen. Wollte ich nicht riskieren, dass mich die bereits grimmig zu mir herüberblickenden Arbeiter mit Brachialgewalt aus der Werkshalle warfen, so musste ich jetzt versuchen, die Situation zu entspannen. Schließlich stand für heute Nachmittag noch das Exklusiv-Interview mit Herrn Dessad auf dem Programm, und mein Chefredakteur würde mich nach allen Regeln der Kunst zerlegen, wenn ich das Interview durch übermäßig kritische Fragen verpatzte. „Herr Schäble, sollte ich Ihre Gefühle verletzt haben …“, würge ich etwas gezwungen hervor.

„Und außerdem“, unterbrach mich Alois Schäble rüde, „die anständigen Leut’, die wo sich nichts zu schulden haben kommen lassen, die brauchen auch keine Angst haben, mit unseren Produkten gefoltert zu werden.“

Mit diesen Worten und einem letzten giftigen Blick in meine Richtung ließ mich der Vorarbeiter stehen.

2. Teil: Der Produktmanager

Herr Dessad holte mich pünktlich am vereinbarten Treffpunkt bei der Cafeteria ab. „Gehen wir gleich in mein Büro“, sagte er mit munterer Stimme und schob mich mit einer jovialen Geste in den Fahrstuhl. Als wir einstiegen, kam gerade ein Tierpfleger heraus, der einen Käfig mit sechs oder sieben Rhesusäffchen vor sich her schob. Die Affen kreischten jämmerlich, rempelten einander in dem viel zu engen Behältnis an, kletterten hastig übereinander und untereinander und klammerten sich mit einem verzweifelten Ausdruck ihrer weit aufgerissenen Augen an die Käfigstangen. Ein Geruch von Stroh, eingetrocknetem Kot und Todesangst entströmte ihrem rollenden Gefängnis.

Es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte. Dann stieg ein Anflug von Ekel und Entsetzen in mir hoch. „Sind das … ich meine: machen Sie mit diesen Affen Experimente?“
„Wäre es Ihnen lieber, wir machen sie mit Menschen?“, antwortete Herr Dessad mit routiniertem Lächeln. „Tierversuche werden in Deutschland aus den nichtigsten Gründen durchgeführt. Fragen Sie einmal Ihre Frau, mit welchen Methoden die Verträglichkeit ihrer Kosmetika getestet wurde. Der Gesetzgeber geht mit Recht davon aus, dass sich niedere Spezies den Interessen der Menschen unterzuordnen haben. Und in unserer Branche geht es, wie Sie wissen, um weit mehr als um ein schickes Aussehen. Es geht“ – Dessad gab diesem Wort durch Betonung ein besonderes Gewicht – „um Terrorismusprävention!“

Ich verstummte. Als ich den Vorführraum betrat, war mir ein wenig schwindelig. Gesichtslose Dummie-Puppen schienen mich, obwohl sie keine Augen hatten, aus dem Halbdunkel des kleinen, schmucklosen Raumes anzustarren. In der Mitte des Zimmers stand das Renommierstück des IST-Konzerns: das Honestmaker-Daumenschrauben-Set mit elektronischem Intensitäts-Regler und fluchtsicherer Anschnall-Vorrichtung nebst Beistellstuhl für den Interrogations-Techniker.

„Sie sehen, dass unsere Produktdesigner ganze Arbeit geleistet haben“, begann der Produktmanager mit einem selbstzufriedenen Lächeln. „Alle Metallteile sind nach einem zeitgemäßen, ansprechenden Design aus rostfreiem, verchromtem Edelstahl gefertigt. Möchten Sie nicht Platz nehmen?“, fragte er dann beiläufig und wies auf den Befragtenstuhl. „Na, worauf warten Sie?“, beharrte er, als er mein Zögern spürte. „Und jetzt bitte Ihren rechten Daumen in die Pressschlaufe legen!“

In meinem Gesicht musste ein fassungsloses Entsetzen gestanden haben, das auf Herrn Dessad eine ungemein erheiternde Wirkung hatte. Denn auf einmal lachte der sonst etwas steife Mann laut auf, sein parfümiertes Schweinchengesicht schwoll an, und unter Gekicher und Gluckslauten stieß er hervor: „Bitte verzeihen Sie, kleiner Scherz von mir. Es gibt doch immer wieder Besucher, die darauf herein fallen. Nein, jetzt aber im Ernst. Ich zeige Ihnen einmal an einem ungefährlichen Beispiel, wie es funktioniert.“

Ich hatte mich aus dem Befragtenstuhl erhoben. Herr Dessad drückte ein paar Knöpfe an der Wand, die offenbar einen Materialfahrstuhl in Gang setzten. Zu meiner Überraschung entnahm er der Klappe nach nur kurzer Wartezeit ein dampfendes Wienerwürstchen. Triumphierend hielt er das riechende, aus den gespannten Häuten schwitzende Würstchen in die Höhe und legte es mit einer sorgsamen Bewegung in die Pressschlaufe. Mit einem Surren näherte sich der metallene Pressbügel der Wursthaut, bis er sie berührte.

„Wäre dies ein menschlicher Daumen“, dozierte Dessad nun wieder mit völlig ernster Miene, „so würden Sensoren die bioelektrischen Hautwiderstände an verschiedenen Körperstellen messen. Der emotionale Erregungszustand des Befragten sowie seine Belastbarkeitsspanne würden so vollautomatisch errechnet und an den Intensitätsregler im Komprimator gekoppelt. Einfacher ausgedrückt: Unser System sorgt dafür, dass auf den Daumen des Befragten weder zu viel noch zu wenig Druck ausgeübt wird. Ist der Kompressionskoeffizient zu gering, könnte der Interrogationstechniker sein Befragungsergebnis verfehlen. Ist der ausgeübte Druck dagegen zu hoch, könnte es passieren – na ja, es sollen sich schon Delinquenten der Befragung via Herzinfarkt vorzeitig entzogen haben. Das ist natürlich nicht Zweck der Übung, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Herr Dessad lächelte Einverständnis heischend zu mir herüber.

„Für die Vorführung erhöhe ich den Kompressionskoeffizienten jetzt einmal manuell.“ Dessads Hand lag jetzt auf einem verstellbaren Regler, der auf einer Ziffernreihe hin und her geschoben werden konnte. Seine Finger wanderten fast unmerklich nach rechts, und man konnte erkennen, dass sich die Wursthaut durch den Druck des Pressbügels merklich spannte. Die beiden Enden des Würstchens schwollen an, als wolle die Fleischmasse vor dem Zugriff des Metalls nach den Seiten ausweichen.

„Jetzt kommt’s gleich …“, kündigte Dessad in verschwörerischem Flüsterton an und bewegte seine Hand auf dem Regler noch einmal minimal nach rechts. Da platzte die Wursthaut auf, Fleischsaft quoll heraus und rann zusammen mit kleinen, fettigen Wurstpartikeln eine Metallrinne hinunter, die unterhalb der Pressschlaufe zu einem Auffangbecken führte. Herr Dessad stieß dabei einen kurzen, kiecksenden Triumphlaut aus. Seine Augen leuchteten giftig auf, und seine kurzfingrigen Hände rieben sich triumphierend aneinander.

Dann drückte er auf seinem Steuerungsdisplay einen Knopf. Auf einmal ertönten aus einem Lautsprecher markerschütternde Schreie. „Nein, bitte … bitte! Tun sie’s nicht!“, rief die Stimme. Der Schreiende schien sich unter entsetzlichen Schmerzen zu winden. Er schrie sich die Seele aus dem Leib. Man musste mir mein Entsetzen am Gesicht angesehen haben. Herr Dessad beobachtete mich scheinbar genüsslich aus dem Augenwinkel, wobei er seine Brauen über den kleinen, schlitzartigen Augen ironisch hob. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Kein Mensch ist bei den Tonaufnahmen zu diesem kleinen Meisterwerk zu Schaden gekommen. Wir konnten einen arbeitslosen, aber sehr begabten Schauspieler dafür gewinnen. Täuschend echt, nicht? Ich habe Ihnen das eigentlich nur vorgespielt, um Ihnen ein weiteres faszinierendes technisches Detail vorzuführen.“

Dessad drückte jetzt einen weiteren Knopf auf seinen Armaturen, und mit einem leisen Surren schob sich eine durchsichtige Glaswand zwischen uns und den Lautsprecher, aus dem noch immer ein Schreien drang, das nach und nach in herzzerreißendes Schluchzen überging. „Hören Sie etwas?“, fragte Dessad, als sich die Glaswand ganz geschlossen hatte.
„Nichts, keinen Laut“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Sehen Sie“, triumphierte Dessad, „genau dasselbe würden Passanten hören, wenn Sie den Interrogationsvorgang, sagen wir, in ihrem Hobbykeller durchführen würden: nichts! Das Schallisolierungsprogramm CryStop 666 garantiert Ihnen einen absolut geräuschfreien Interrogationsvorgang.

„Aber warum sollte ich denn in meinem Keller jemanden foltern? Das wäre gegen das Gesetz, das wissen Sie, Herr Dessad.“

„Nun, unsere Entwicklungsabteilung denkt zukunftsorientiert. Es gibt Bestrebungen, das Foltermonopol des Staates mittelfristig aufzuweichen. Wir bereiten uns vorsorglich bereits auf die Zeit danach vor. Nur wer mit dem Innovationstempo auf dem Weltmarkt Schritt hält, kann den Folterstandort Deutschland dauerhaft sichern.“

„Ich kann kaum glauben, was Sie mir da erzählen“, sagte ich, nun ernstlich beunruhigt. „Sie meinen, dass jeder Privatmann …!?“

„Es gibt schon Absprachen mit der Großhandelskette MegaMarket, dass das Honestmaker Hometortureset vom Konsumenten künftig in jeder Filiale quasi aus dem Regal gekauft werden kann. Die Liefervereinbarungen sind bereits unter Dach und Fach. Wir warten nur noch auf die Flexibilisierung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit. Der Druck der aktuellen Ereignisse und wirtschaftliche Erwägungen werden die Partei der notorischen Bremser über kurz oder lang zwingen, ihre realitätsferne Politik zu revidieren. Bedenken Sie bitte: all die zusätzlichen Arbeitsplätze infolge einer explosionsartigen Steigerung der Nachfrage im privaten Sektor!“

„Aber selbst wenn der Honestmaker frei verkäuflich wäre, Körperverletzung ist noch immer verboten“, wandte ich ein.

„Nun, genau genommen ist das nicht unsere Angelegenheit“, sagte Dessad. „Wir stellen die entsprechenden Gerätschaften zur Verfügung, über die Bedingungen ihrer legalen Benutzung müssen andere entscheiden. Ebenso wie Waffenscheine werden die Behörden vielleicht künftig Folterlizenzen vergeben, die eine seriös zertifizierte Folterprüfung zur Voraussetzung haben.“

„Aber wie wollen Sie Missbrauch vermeiden? Wenn jeder Dahergelaufene an diese Geräte herankommt …“

„Aber ich bitte Sie, mein Lieber, seien Sie doch nicht naiv! Missbrauch kann man nie vollkommen ausschließen. Sie können einen Menschen schon mit einem Taschenmesser erstechen. Wollen Sie dafür etwa den Taschenmesser-Hersteller verantwortlich machen?“

„Das ist doch eine Ausrede! Taschenmesser werden nicht ausschließlich zu dem Zweck hergestellt, Menschen zu verletzen; bei Ihren Daumenschrauben ist das anders.“ Ich merkte, dass ich meine aufkeimende Wut in Zaum halten musste. Ron, mein Chefredakteur hatte mich schließlich nicht mit dieser Vor-Ort-Reportage in der IST-Zentrale beauftragt, damit ich deren Produktmanager beleidige. „Aufgabe des Journalisten ist es, die Welt zu beschreiben, nicht sie zu verändern“, pflegte er immer zu sagen.

Zum Glück blieb Dessad trotz meiner ausfälligen Bemerkung ruhig. „Sie missverstehen da einiges“, sagte er beschwichtigend, wie man mit einem Kind redet. „Deshalb will ich hier noch einmal etwas Grundsätzliches klären: Der Zweck unserer modernen Verhörtechnologie besteht einzig und allein darin, dass sie nie zum Einsatz kommt.“

Nun war ich sprachlos vor Erstaunen. Selbst meiner flinken Journalistenzunge fehlten die Worte.

„’Wer den Frieden will, der rüste sich zum Kriege’, sagen die alten Römer“, fuhr Dessad fort. „Wer nicht will, dass Kinder entführt und Unschuldige in die Luft gesprengt werden, der muss das Niveau der Abschreckung anheben. Der muss ständige Folterbereitschaft signalisieren, obwohl er natürlich im Inneren seines Herzens hofft, dass das, womit er droht, nie zur Anwendung kommt. Glauben Sie denn, dass ich das hier zu meinem Vergnügen mache? Glauben Sie, ich wäre ein Unmensch?“ Bei diesen Worten bekam Dessads Stimme einen weinerlichen Unterton. Er schniefte etwas Luft durch seine kleine Nase ein, als wäre er für einen Moment über sich selbst gerührt.

„Ich betrachte unsere Firma als einen Vorkämpfer für die Humanität“, fuhr er fort. „So wie ich das Militär schon immer für die eigentliche Friedensbewegung gehalten habe.“

„Aber ist das nicht irgendwie absurd?“, wagte ich einzuwenden. „Man stellt diese grausamen Werkzeuge her, nur um …“

„Ich will Ihnen dazu etwas sagen“, unterbrach mich Dessad. „Nehmen wir an, Sie hätten Recht und Daumenschrauben wären ein überflüssiges, grausames Werkzeug. Nehmen wir weiter an, ich folgte Ihrer Argumentation und würde von heute auf morgen unseren Betrieb stilllegen. Was glauben Sie, was passieren würde?“

Ich erwartete achselzuckend seine Antwort.

„Unsere Konkurrenz, TortureTech oder eine der aufstrebenden chinesischen Firmen, würde einspringen. Es gäbe nicht eine einzige grausame Daumenschraube weniger auf der Welt. Aber unsere deutschen Arbeitnehmer wären ohne Lohn und Brot, ihre Familien ins soziale Abseits gedrängt, die leeren Staatskassen durch Zahlung von Arbeitslosengeld hoffnungslos überlastet. Ist es das, was sie wollen?“ Dessad genoß eine Weile mein ratloses Schweigen und fuhr dann fort: „Wenn wir uns weigern, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, werden sich unsere Konkurrenzländer die Hände reiben und mit Kusshand die von uns fahrlässig aufgegebenen Marktsegmente übernehmen. Und ich sage Ihnen noch etwas, so ganz unter uns …“.

Dessad beugte sich, obwohl niemand sonst in der Nähe war, ganz nah zu mir herunter, so dass ich seinen nach Würstchen riechenden Atem spüren konnte. „Im Zeitalter der Automatisierung kann das für eine florierende Wirtschaft notwendige Wachstum schon längst nicht mehr nur mit solchen Produkten erzielt werden, die für die Bedürfnisse der Menschen tatsächlich notwendig sind. Denken Sie sich von den derzeit im Umlauf befindlichen Waren und Dienstleistungen das Überflüssige und Schädliche weg, was bleibt übrig? Nicht halb so viel wie nötig wäre, um den Wirtschaftsmotor am Laufen zu halten. Das Brot, das jemand isst, der Stuhl, auf dem er sitzt, das Dach über seinem Kopf, ein gutes Buch oder ein Freund, dem er vertraut – diese Dinge sind wirklich notwendig. Für alle anderen Dinge – und sie machen den größeren Teil unserer Wirtschaftsleistung aus – muss der Bedarf von den Verantwortlichen erst geschaffen werden.“

Es fiel mir schwer, Herrn Dessads Argumentation so schnell zu folgen. Ein Bedarf, der erst geschaffen werden muss – was bedeutete dies für den speziellen Fall von Daumenschrauben und schallisolierten Folterzellen? Um einen Bedarf an Verhörtechnologie zu schaffen, musste es eine wachsende Zahl von Vorfällen geben, die die Anwendung einer solchen Technologie erforderten. Aber ein harmloser Industriebetrieb wie IST konnte doch nicht … Für einen Augenblick schoss mir ein wahrhaft grauenhafter Gedanke durch den Kopf. Ich verdrängte ihn gleich wieder, weil er nicht nur diffamierend war, sondern mich auch in den Augen aller vernünftig Denkenden für immer disqualifiziert hätte.

Ein hagerer Mann betrat ohne anzuklopfen den Vorführraum. Er hatte ein kantiges Gesicht, im Halbkreis um seinen kahl werdenden Schädel drapiertes strohblondes Haar und auffallend tief liegenden, bohrenden Augen. Dessad eilte zu ihm und tauschte ein paar flüsternde Sätze mit ihm aus. „Ich hatte Sie doch gebeten, nicht während der Pressevorführung …“, war das Einzige, was ich verstand. Dann verließ der Mann wortlos den Raum, nicht ohne mich noch einmal durchdringend anzuschauen. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen“, wandte sich Dessad mit routinierter Höflichkeit an mich. „Ich habe heute noch ein paar Termine. Ich denke, Sie haben genügend Material für Ihren Artikel.“ Und ohne meine Erwiderung abzuwarten: „Kommen Sie, ich begleite Sie noch zum Aufzug.“

(Morgen lesen Sie an dieser Stelle: Gespräch in der Redaktion. Und: eine Talkshow zum Thema “Moderen Verhörtechnologien” sowie eine entsetzliche Entdeckung)

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen