Der Marktführer 2/2

 In Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer
TalkshowWill

Das Bild illustriert nur Talkshows im allgemeinen und will die abgebildeten Personen nicht mit der Handlung in Verbindung bringen.

Im gestrigen 1. Teil dieser Geschichte besuchte der Erzähler, ein Journalist, den überaus erfolgreichen Verhörtechnik-Hersteller IST. Das Unternehmen stellt u.a. das Daumenschraubenset „Honestmaker“ her, das nicht nur für die Terrorismusprävention in angespannter Weltlage alternativlos ist, sondern auch Arbeitsplätze schafft. Wird es dem Protagonisten gelingen, seine moralischen Skrupel angesichts der „Produkte“ der Firma auch dem taffen Chefredakteur Ron zu vermitteln? Und wer war der geheimnisvolle Fremde, der zum Ende der letzten Folge auftauchte? Der zweite Teil beantwortet diese Fragen – nur um weitere aufzuwerfen. (Roland Rottenfußer)

3. Teil: Die Journalisten

„Das kannst du vergessen“, sagte Ron, mein Chefredakteur, am nächsten Morgen in einem Tonfall, der erfahrungsgemäß keinen Widerspruch duldete. „Eine Anti-Folter-Kampagne kommt bei der gegenwärtigen politischen Großwetterlage nicht in die Tüte. Nicht dass ich dir nicht grundsätzlich recht geben würde, mein Lieber. Folter ist widerwärtig, entsetzlich. Aber wenn wir als Journalisten gegen alles, was menschenunwürdig ist, anschreiben würden, wären wir nicht nur in kürzester Zeit ausgebrannt, wir wären auch bald unsere Jobs los. Sei klug, mein Lieber. Solange du auf deinem Redakteursposten hockst, kannst du wenigstens von Zeit von Zeit noch auf Missstände hinweisen. Wenn sie dich rausschmeißen, weil du die simpelsten Regeln des Opportunen in diesem Business ignorierst, kann ich dich auch nicht mehr länger schützen. Du weißt, ich schätze dich, Aber auch die Freundschaft hat irgendwo ihre Grenzen.“

„Aber …“, setzte ich ziemlich kleinlaut zum Reden an.

„Schau dir doch die anderen Nachrichten des Tages mal an“, fuhr mein Chefredakteur ungerührt fort: ‚Bombendrohung in Frankfurter Bankenviertel’. Das Hauptquartier der TrustCommerce-Bank musste geräumt und von der Polizei nach Sprengsätzen durchsucht werden. Der Hauptverdächtige, Afghane aus dem Umfeld der Al-Qaida, schweigt über weitere Bombenverstecke.’ Und dann das: ‚Die kleine Emilia (7) ist tot. Ihre Entführer haben sie wie ein Stück Abfall in einem Sack auf einem Waldgrundstück nahe Starnberg zurückgelassen. Am ganzen Körper waren Spuren eines entsetzlichen Todeskampfes zu sehen. Die verzweifelten Eltern klagen an: Mit neuen Verhörtechnologien hätte unsere Emilia vielleicht gerettet werden können.’ Du siehst also, woher der Wind weht. Ich möchte nicht dasselbe erleben wie mein Kollege von der Norddeutschen Zeitung. Der hat sich trotz gut gemeinter Ratschläge für die radikalen Foltergegner stark gemacht. Und was hat es ihm gebracht? Haufenweise Drohanrufe. Demos vor dem Verlagsgebäude. ‚Terroristenfreunde raus!’, stand auf den Plakaten. Und ‚Geschändete Kinder klagen dich an!’“

„Aber wer sich gegen Folter ausspricht, ist doch deswegen nicht für Terroristen und Kindesentführer. Es geht hier um die fundamentalsten ethischen Werte unserer Kultur. Vor der Verfassungsreform war Folter strikt verboten. Und die meisten Bürger fanden das ganz in Ordnung so.“

„Ja, bevor dieser Polizist aus Wuppertal von der Presse zum Volkshelden hochgejubelt wurde“, sagte Ron missmutig. Ich konnte mich noch gut an den Fall erinnern. Ein Polizeibeamter hatte den Aufenthaltsort eines entführten Mädchens durch Folter aus einem Verdächtigen herausgepresst. Widerrechtlich. Damals jedenfalls noch. Nach einem Schauprozess, begleitet von pressewirksam aufgewühlten Emotionen, wurde er zu einer höchst milden Strafe auf Bewährung verurteilt. Ein Triumph mit weit reichender Signalwirkung. Nachdem eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Bundestag die gesetzliche Grundlage geschaffen hatte, schien es angesichts der sich verschärfenden globalen Bedrohungslage kein Zurück mehr zu geben. Guantanamo Bay und die Foltervorfälle im Irak hatten die Menschen daran gewöhnt, dass ein demokratischer Rechtsstaat und die Anwendung von Techniken „verschärften Zwangs“ eben doch unter gewissen Umständen vereinbar sein könnten.

Nicht zuletzt war die Verhörtechnik-Branche zu einem beachtlichen Wirtschaftsfaktor in Zeiten der Flaute geworden. Die Börsenkurse international agierender Verhörtechnik-Konzerne wie TortureTech schossen in die Höhe. Der Gründung der ersten deutschen Herstellerfirma von Folterwerkzeugen waren noch zahlreiche bürokratische Hindernisse im Weg gestanden. Mit ein bisschen gutem Willen aller Beteiligten konnten diese jedoch aus dem Weg geräumt werden konnten. „Die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland erfordert ein mutiges Voranschreiten auf dem einmal eingeschlagenen Weg der Justizreform“, hatte der Informationsminister damals in der Pressekonferenz verkündet. „Die Bundesregierung unterstützt eine zügige Abwicklung der Genehmigungsverfahren zu Errichtung des ersten Verhörtechnik-Unternehmens auf deutschem Boden seit 65 Jahren.“ Der wirtschaftliche Erfolg des IST-Konzern hatte dem Politiker auf grandiose Weise Recht gegeben. Niemand mehr, vom unbelehrbaren Fundi-Flügel der mitregierenden IPD abgesehen, wagte es ernsthaft, die Liberalisierung der Foltergesetzgebung in Frage zu stellen.

„Und wenn ich mich mit einem offenen Brief direkt an den Kreistagsabgeordneten der IPD wende? Vielleicht würde ihn mein Erfahrungsbericht aus der Daumenschrauben-Werkshalle umstimmen!?“, beharrte ich.

„Die Politiker kannst du vergessen“, erwiderte mein Chefredakteur genervt. „Arbeitsplätze. Mit dem Totschlagargument Arbeitsplätze kann man heute jede Kritik aushebeln. Nehmen wir an, Anti-Folter-Aktivisten würden die Schließung der Münchner IST-Produktionsstätte fordern, und der zuständige Politiker würde dem zustimmen. 6000 Arbeitsplätze mit einem Schlag vernichtet. 6000 Familien ins soziale Abseits gedrängt. Dem würden die Lobbyisten dermaßen die Daumenschrauben anziehen, dass er seines Lebens nicht mehr froh würde.“ Mein Chefredakteur grinste über den gelungenen Scherz, der ihm mit der Erwähnung der Daumenschrauben gelungen war. „Hast du übrigens gestern die Johannsen-Sendung zu diesem Thema gesehen?“

„Nein“, musste ich gestehen. In der Sonntagsrunde bei der renommierten Journalistin Christine Johannsen diskutierten Spitzenpolitiker jede Woche über ein aktuelles kontroverses Thema. „Warte, ich habe, glaube ich, noch eine Video-Aufzeichnung der Sendung. Ich geb sie dir mit. Schau sie dir unbedingt heute Abend an, dann wirst du sehen, woher der Wind derzeit weht.“ Mit diesen Worten ließ mich mein Chefredakteur ohne einen Abschiedsgruß stehen.

„Mann bist du naiv“, machte mich mein Kollege Sven von der Seite an. „Ich sag doch immer: Wenn jemand als Journalist mit über 40 noch Idealist ist, hat er das Business nicht verstanden. Hast du dir schon mal die Liste unserer Anzeigenkunden angeschaut?“

„Nein.“

„Dann lies mal, und sieh genau hin!“

Ich ließ meine Augen über den Ausdruck fliegen, den mir Sven hinhielt. Bis ich bei einem nur allzu vertrauten Namen stehenblieb: IST Verhörtechnologien. Das Anzeigenbudget, das der Konzern in diesem Jahr für unsere Zeitung aufzuwenden gedachte, belief sich auf über 5 Millionen Euro.

„Ich verstehe“, sagte ich resigniert.

4. Teil: Die Politiker

Die Kommentatoren der großen Fernsehnachrichtensendungen unterschieden in der Folter-Diskussion generell zwischen zwei Parteien: den „Modernisierern“ oder „Reformern“ einerseits und den „Traditionalisten“ oder „Bremsern“ andererseits. Vereinfacht gesagt, sprach sich die erste Gruppe für die Anwendung von Folter in der Terrorbekämpfung und -Prävention aus. Außerdem solle zur Verhinderung einiger besonders verabscheuungswürdiger Verbrechen wie Kindesmissbrauch und Mord gefoltert werden dürfen. Die zweite Gruppe forderte aus grundsätzlichen ethischen Erwägungen Einschränkungen beim Gebrauch der Folter.

Die Selbstschutzvereinigung der Filmindustrie (SVF) hatte durch massive Lobbyarbeit im vergangenen September durchgesetzt, dass auch Videopiraterie in die Liste der Delikte aufgenommen wurde, die den Einsatz von Folter unter bestimmten Voraussetzungen rechtfertigte. Weigerte sich ein des illegalen Downloads Überführter zum Beispiel beharrlich, die Namen seiner Komplizen preiszugeben, konnte es durchaus passieren, dass er Bekanntschaft mit Honestmaker machte. Genüsslich hatte die SVF in ihrem vor jeder Kinovorführung abgespielten Werbefilm gegen Raubkopierer auf diese neuartige Gesetzeslage hingewiesen. In einem Kurzfilm drangen etwa Schreie aus einem im Thriller-Stil gefilmten Folterkeller, garniert mit dem Hinweis: „Videopiraterie ist kein Kavaliersdelikt.“

Letzten Dienstag waren bei Christine Johannsen nur zwei Gäste, beides erprobte Kampfhähne, zum Rededuell angetreten. Thema: „Liberalisierung der Verhörgesetzgebung – Mittelalterliche Methoden oder mehr Sicherheit für die Zukunft?“ Der Vorsitzende der Wachstumspartei Deutschlands (WPD) Hartmut Schrüfer sprach für die Reformer; Ottmar Baudelaire kam als Sprecher der Bremser, die in der linksgerichteten Idealistischen Partei Deutschlands (IPD) eine Minderheit bildeten.

„Eine Reform der Folter-Gesetzgebung ist notwendig, darüber sind sich alle im Bundestag vertretenen Parteien einig“, begann Christine Johannsen ihre Anmoderation. „Nur über die Geschwindigkeit, mit der die Reform vorangetrieben werden muss und über die Liste der Tatbestände, die als Foltergründe gelten dürfen, herrscht Uneinigkeit.“ Frau Johannsens wohlgeformte, in Netzstrümpfe verpackte Beine harmonierten heute außergewöhnlich gut mit ihrem lindgrünen Kostüm und dem halblangen bordeauxroten Haar. Über schmalen, blassrosa lackierten Lippen blickten ihre leeren Augen angestrengt forschend in die Runde. „Sie, Herr Schrüfer, befürworten eine Politik aus einem Guss. Ihre Partei fordert eine schnelle Liberalisierung der Foltergesetzgebung sowie eine Aufweichung des staatlichen Foltermonopols. Warum?“

„Frau Johannsen“, sagte Schrüfer mit dem allen Fernseherzuschauern wohlbekannten rauen, etwas gepressten Tonfall. Durch seinen behäbigen Körper ging ein Ruck. „Lassen Sie mich zunächst dies eine sagen: Nur mutige Reformen können Wachstum schaffen und Deutschland weiter voranbringen.“

„Ja, ja, Herr Schrüfer, das bezweifelt ja kein ernstzunehmender Mensch, aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet“, warf Christine Johannsen ein und beugte sich dabei mit dem Oberkörper weit vor.

„Frau Johannsen, Sie müssen mir schon die Gelegenheit geben, die grundlegenden Positionen meiner Partei darzulegen. Nun zu Ihrer Frage: Ich möchte unsere Zuschauerinnen und Zuschauer bitten, sich einmal vorzustellen, dass ihr Kind in die Gewalt eines Entführers geriete. Der Entführer lacht Ihnen frech ins Gesicht und weigert sich, den Aufenthaltsort des Kindes zu verraten. Was werden Sie tun? Die Polizei anrufen und warten, bis sie da ist? Bis dahin ist der Verbrecher mit Ihrem Kind längst auf und davon. In solchen Fällen könnte eine hauseigene Folterzelle schon Wunder wirken …“

„Aber Herr Schrüfer, ich bitte Sie“, schaltete sich Ottmar Baudelaire nun erbost ein. „Dieses Szenario ist doch wohl sehr weit hergeholt …“ Baudelaire, kleiner und agiler von Statur als Schrüfer, strahlte mit jeder seiner ruckartigen Bewegung ungeduldige Hektik aus. Seine Worte, mit hoher, schneidender Stimme gesprochen, waren wie energetische Pfeile, die er in Richtung seines Gegners abschoss.

„Herr Baudelaire, ich möchte Sie doch bitten, mich ausreden zu lassen!“

„Aber Herr Schrüfer …“

„Nein Herr Baudelaire, jetzt bin ich an der Reihe. Ich lasse Sie auch ausreden, wenn Sie dran sind.“

Baudelaire lehnte sich resigniert auf seinem Sessel zurück.

„Ich muss Ihnen sagen“, fuhr Schrüfer fort, „die Bremser aus Ihrem Lager machen sich mitverantwortlich – und ich sage das hier in aller Deutlichkeit – mitverantwortlich, nicht nur für einen unkontrolliert sich ausbreitenden Terrorismus, sondern auch für die Erosion der Arbeitsplatzsicherheit in unserem Lande. Fakt ist doch: Deutschland war lange Zeit Schlusslicht auf dem Foltersektor, nun sind wir endlich dabei aufzuholen, und da kommen Sie und Ihre Parteigenossen …“

„Herr Schrüfer, niemand bestreitet die Notwendigkeit von Folter unter bestimmten, genau definierten Umständen …“, beeilte sich Baudelaire zu sagen.

„ Nun, es ist lobenswert, dass sogar die IPD langsam beginnt, sich mit der Realität anzufreunden.“ Zufrieden über diesen rhetorischen Einfall ließ sich Schrüfer schwer in seinen Sessel zurückfallen und genoss den anhaltenden Applaus aus dem Publikum. Dann holte er genüsslich zu seinem nächsten Schlag aus: „Die genau definierten Umstände, die Sie erwähnen, sind doch unter dem Einfluss Ihrer Partei inzwischen zu einer Zwangsjacke geworden, mit der alle ernsthaft Folterwilligen von ihrer Arbeit abgehalten werden …“

„Herr Schrüfer, ich muss Sie doch sehr bitten! Die Art und Weise, wie Sie hier mit Unterstellungen arbeiten, kann nur noch als Skandal …“

„Nein, Herr Baudelaire, jetzt lassen Sie mich einmal ausreden! Wenn es nach Ihnen und den Bremsern in Ihrer Partei ginge, würde in unserem Land bald überhaupt nicht mehr gefoltert werden, und das ist der eigentliche Skandal!“

Tosender Applaus aus dem Publikum. Frau Johannsen sah sich offenbar veranlasst, Baudelaire ein wenig zur Seite zu stehen. Der kauerte wegen Hartmut Schrüfers fulminantem rhetorischem Sieg ein wenig geknickt und stumm auf seinem Sessel. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Baudelaire“, wandte sich die Moderatorin betulich an den IDP-Politiker, „sind Sie gar kein grundsätzliche Gegner der Folter.“

„Selbstverständlich nicht, Frau Johannsen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir die Gelegenheit zu dieser Klarstellung geben. Meine Partei hat lediglich darauf hingewiesen …“
„Dann darf ich also konstatieren“, fuhr ihm Christine Johannsen ins Wort, „dass ein lagerübergreifender Konsens besteht hinsichtlich der Notwendigkeit verschärfter Verhörmethoden im Zusammenhang mit schwereren Delikten wie Terrorismus, Entführung und Video-Piraterie. Auf der Basis dieses gemeinsamen Nenners könnte es doch unter Einbeziehung der IPD-Mehrheit im Bundesrat zu einer Einigung kommen, die dem Reformstau auf dem Gebiet der Foltergesetzgebung endlich ein Ende bereitet. Ist es nicht so, Herr Baudeaire?“

„Man muss da doch differenzieren, Frau Johannsen“, wandte Ottmar Baudelaire mit der ihm eigenen hektischen Diktion ein. „Während die Wachstumspartei von Herrn Schrüfer auch die Anwendung von Verhörtechnologie durch Privatpersonen schon bei begründetem Verdacht auf eine zukünftig möglicherweise zu begehende Straftat erlauben würde, legt meine Partei Wert darauf, dass erst der unzweifelhaft bewiesene Vollzug besagter Straftat den Einsatz verschärften Zwangs rechtfertigt.“ Baudelaires Mund bewegte sich schnell, während seine Augen vollkommen starr blieben. Offenbar verunsichert durch die Tatsache, dass er nicht unterbrochen wurde, steuerte er auf seinen entscheidenden Satz zu: „Herr Schrüfer und seine Mitstreiter agieren offenbar nach dem Motto ‚Wer seine Unschuld nicht beweisen kann, wird im Zweifelsfall gefoltert’.“

„Das ist eine unglaubliche Unterstellung!“, rief Schrüfer mit hochrotem Kopf.

„Ich hatte lediglich angemerkt …“

„Nein, Herr Baudelaire, dass müssen Sie sich jetzt schon von mir sagen lassen. Wer so wie Sie mit haltlosen Verleumdungen arbeiten, disqualifiziert sich nachhaltig für den zivilisierten demokratischen Diskurs.“

„Also, ich muss Sie doch bitten, Herr Baudelaire, nicht polemisch zu werden …“, sprang Frau Johannsen dem WPD-Politiker bei.

„Herr Schrüfer, lassen Sie mich das eine noch sagen“, beeilte sich Baudelaire einzuwenden. „Ich räume durchaus ein, dass mein Einwurf eben ungeschickt war, was aber das Grundsätzliche betrifft …“

„Nein, Herr Baudelaire, ich muss Ihnen sagen, dass unter diesen Umständen eine Zusammenarbeit mit Ihrer Partei …“

„Herr Schrüfer, Sie können versichert sein, auch meiner Partei ist sich durchaus bewusst, dass nur Wachstum Arbeitsplätze schaffen kann und dass Standort für die Sicherheit des Wachstumsdeutschlands … dass Sicherheit für die Zukunft des deutschen Standortwachstums … des … Wachstums … Standorts … Deutschlands …“

Alles Lavieren half nicht mehr. Ottmar Baudelaire – und mit ihm das Lager der Bremser – hatte diese Schlacht gegen die Reformer, hier rhetorisch brillant repräsentiert von Hartmut Schrüfer, haushoch verloren. Als Christine Johannsen nun die Debatte unterbrach und einen Kurzfilm einblenden ließ, kam dies einem Akt der Gnade gegenüber dem ins Schlingern geratene IPD-Politiker gleich.

Ich lehnte mich etwas benommen in den Fernsehsessel zurück. Irgendwie hätte ich mir diese Debatte anders vorgestellt. Ich hatte auf einen Politiker gewartet, der das Foltern grundsätzlich als einen Akt der Unmenschlichkeit ablehnte. Niemand dort auf dem Bildschirm hatte aber annähernd das ausgedrückt, was ich fühlte – nicht der Vertreter der autoritätsgläubigen „Rechten“, nicht der stammelnde Exponent der idealistischen „Linken“, die traditionell für Bürgerrechte und gegen den Polizeistaat eingetreten war, auch nicht die smarte Moderatorin Frau Johannsen. Wenn sogar ein Mann wie Ottmar Baudelaire, der in den Anfangstagen seiner Politkarriere mit provozierenden Thesen für Radau gesorgt und die Begeisterung aller fortschrittlich Fühlenden auf sich gezogen hatte, wenn sogar dieser Ottmar Baudelaire – mit nur minimalen Abweichungen – auf die allgemeine Linie eingeschwenkt war, wie konnte da ich beiseite stehen?

Ich fühlte mich unendlich müde. Müde von Monaten des aufreibenden inneren Widerstands gegen etwas, was offenbar beschlossene Sache war. War irgendetwas mit mir nicht in Ordnung? War ich ein ewig Gestriger, der stur auf seinen fundamentalistischen Anti-Folter-Standpunkten beharrte? Wenn das, was gerade geschah, wirklich so schlimm wäre, wie ich dachte, hätte sich dann nicht schon längst massiver Widerstand geregt? Wären nicht Millionen auf die Straße gegangen, um gegen das Unrecht aufzustehen? Niemand protestierte. Auch die kritische Presse und die Riege der linken Intellektuellen verhielten sich merkwürdig ruhig. Ich war allein. Konnte die überwältigende Mehrheit derer, die anders dachten als ich, irren? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass ich mich täuschte?

Ich wollte mir noch ein Bier holen gehen, da erregte etwas auf dem Bildschirm meine Aufmerksamkeit. Eine Autobombe war in der Münchner Innenstadt hochgegangen. Zum Glück war niemand dabei zu Tode gekommen. Einige Verletzte wurden von Sanitätern auf Bahren abtransportiert. Die Kamera schwenkte über die Schaulustigen am Rand des Geschehens. Ich konnte deutlich ihre Gesichter sehen. Bei einem der Männer, den die Kamera flüchtig streifte, schrillte bei mir die Alarmglocke. Er kam mir bekannt vor, ich wusste nur nicht mehr, woher. Da die Johannsen-Sendung eine Videoauszeichnung des vorigen Abends war, konnte ich das Band zurückspulen.

Wieder sah ich den Mann. Ich schaltete auf Standbild. Er hatte ein kantiges Gesicht, im Halbkreis um seinen kahl werdenden Schädel drapiertes strohblondes Haar und auffallend tief liegenden, bohrenden Augen. Mir war, als würden mich diese Augen aus dem Fernseher direkt anstarren. Jetzt wusste ich, woher ich den Mann kannte. Er war in der IST-Zentrale plötzlich im Vorführraum aufgetaucht und hatte mein Gespräch mit Herrn Dessad unterbrochen. Wie konnte das sein? Den Nachrichten zufolge musste dieser Film nur knapp eine Stunde vor meiner flüchtigen Begegnung mit dem unheimlichen Mann aufgenommen worden sein. Er musste also gleich vom Tatort in die Firma gefahren sein. Aber warum? Um seinem Chef eine Mitteilung zu machen, die den terroristischen Anschlag betraf? Herr Dessad schien auf den Mann gewartet zu haben. Er war nur verärgert, dass dieser sich einem Besucher wie mir so offen zeigte.

In meinem Kopf reihten sich wirre Assoziationsketten aneinander. „Für alle anderen Dinge muss der Bedarf erst geschaffen werden … Wie schafft man einen Bedarf für Daumenschrauben? … Wachstum schafft Arbeitsplätze für den Folterstandort Deutschland …“ Mir schwirrte der Kopf. Selbst wenn die unglaubliche Theorie, die da bruchstückhaft in meinem Kopf Gestalt annahm, tatsächlich wahr wäre – was könnte ich tun? Ich hätte keine Chance, meine Vermutung zu beweisen. Die Aufdeckung eines Skandals von dieser Tragweite wäre doch nur dann lohnenswert, wenn meine Enthüllung der gesamten Verhörtechnologie herstellenden Industrie in Deutschland für immer den Garaus machen würde. Glaubte ich denn im Ernst, die Verantwortlichen würden das zulassen und es einem mittelmäßigen Journalisten erlauben, ihre Pläne zu durchkreuzen. An diese Vorgänge mussten Gewinnerwartungen in Milliardenhöhe geknüpft sein. Sie würden es nicht zulassen, dass ich das überlebte

Niemand durfte also wissen, dass ich die Wahrheit ahnte. Gerade hatte ich in einem Lebenshilfe-Ratgeber diesen Satz gelesen: „Nicht das, was ist, verursacht Leid, sondern unser Widerstand dagegen.“ War folglich nicht das Loslassen jeden Widerstands die Erlösung? Wie lange sehnte ich mich schon danach, frei zu sein von all den hirnzermarternden inneren Kämpfen, die ich seit Jahren ausgefochten hatte? Ich holte mir noch ein Bier, schaltete um auf die „Lustigen Heimatmusikanten“ und ließ mich erschöpft und erlöst auf meinen Fernsehsessel zurücksinken.

Wie gut es tat, aufzugeben!

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