Der Mensch – «eine zu unvollkommene Sache»
Übermenschenfantasien in Film, Philosophie und Geschichte. Unsere Kinoleinwände werden bevölkert von Superhelden und Wunderfrauen – meist in unterirdisch schlechten Filmen. Menschen wie du und ich schaffen es nur noch gelegentlich in die großen Kinosäle, die zu Tempeln moderner Kulte um die unbezwingbaren Mutanten geworden sind. Die Idee, dass wir über unseren höchst fragwürdigen Ist-Zustand hinauswachsen könnten, ist nicht neu. „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll“, sagte Nietzsche. Diese Vision wird gegenwärtig mit den Mitteln der Fantasie und – was potenziell gefährlicher ist – auch mittels Technik und Biotechnik vorangetrieben. Werden wir wie Goethes Zauberlehrling bald nicht mehr Herren unsrer eigenen Schöpfungen sein? (Roland Rottenfußer)
Wenn man jung ist, ist man ja leicht zu beeindrucken. So war näherte auch ich mich Vera Birkenbihl sehr gespannt und ehrfürchtig, als ich vor gut 20 Jahren die Gelegenheit hatte, die berühmte Seminarleiterin für eine Zeitschrift zu interviewen. Dem ging ein launiger Vortrag über die bestmögliche Nutzung des menschlichen Gehirns voraus. Stets betonte die rührige Rednerin, dass die menschliche Spezies ihren Möglichkeiten in beklagenswertem Ausmaß hinterherhinke. „Wie würde die Menschheit leben, wenn sie das Potenzial ihres Gehirns voll ausschöpfen würde?“, fragte ich Birkenbihl hinterher. Die mittlerweile verstorbene Mentaltrainerin überlegte eine Weile und antwortete dann: „Fast gottähnlich“. Ich ging verblüfft nach Hause und reflektierte darüber, ob auch Gott diese Ähnlichkeit wohl bemerken würde.
Übermenschentraining für Otto Normalverbraucher
Birkenbihls Vision scheint sich erfüllt zu haben im Kinofilm „Lucy“ von 2014 (Regie: Luc Besson). Scarlett Johansson sieht darin nicht nur super aus, sondern erwirbt auch dank einer Überdosis Drogen, die in ihre Blutbahn gelangen, Superkräfte. Sie erledigt eine Vielzahl kräftiger Männer, verfügt über telepathische und telekinetische Fähigkeiten, manipuliert technische Geräte und verschmilzt am Ende mit Computern zu einem allmächtigen Mensch-Maschine-Überwesen. Morgan Freeman als Professor Norman breitet im Film eine Birkenbihl-ähnliche „Human Potential“-Philosophie aus: „Man schätzt, die meisten Menschen nutzen lediglich 10% ihrer Gehirnkapazität. Stellen Sie sich vor, wir könnten 100% nutzen!“
Der Kino-Visionär Besson setzt auf fantasievolle Weise um, was eine ganze Bibliothek von Ratgeber-Büchern seit Jahrzehnten predigt: „Du bleibst unter deinen Möglichkeiten, Mensch. Du könntest viel mehr sein als die gegenwärtige Kümmerform mit der du dich bescheidest“. Unterschwellig mit transportiert die Botschaft: „Kauf mein Seminar/ mein Training/ mein Buch, und ich helfe dir, die anderen 90 Prozent zu erschließen.“
Stählerne Kerle und Wunderfrauen
Profitträchtig sind auch in höchstem Maß die vielen Superhelden-Filme, die aus den USA in unsere Kinos schwappen und Menschen dort mit infantilen Größenfantasien beglücken. Neben Realfilmen wie „Ohne Limit“ mit Bradley Cooper sind es vor allem Comicverfilmungen, die uns den Übermenschen lehren: Superman, Batman, Spiderman, X-Men, Birdman, Antman, Watchman, Iron Man und andere „-Men“ toben sich Raum greifend und unter Verzicht auf jegliche glaubwürdige Handlung auf der Leinwand aus. Neuerdings verstärkt auch „-Women“, wie der in den Feuilletons hoch gelobte Amazonen-Kracher „Wonder Woman“ zeigt. Denn die Emanzipation erfordert es, dass Frauen auch in völlig unsinnigen Genres mit Männern gleichziehen.
Urbild der Übermenschenschwemme ist der Comic-Held Superman, der in den 30ern erstmals in gedruckter Form zu bewundern war. In den 40ern wurde der fliegende Mensch als Propagandafigur im Krieg gegen die Nazis eingesetzt. Der „Stählerne“ hatte dabei peinliche Ähnlichkeit mit dem Menschbild seiner Gegner, die ihre Paradearier bekanntlich „hart wie Kruppstahl“ haben wollten. „Ein kollektives Bedürfnis nach dieser Art von Heldenfiguren weist auf Missstände hin“, schreibt Dana Frei von der Universität Zürich über den Superhelden. Sie erkennt soziale Defizite, aber auch religiöse Motive in der Comic-Kraftmeierei – ist es für Superman doch ein Leichtes, sich wie in der „Auferstehung Christi“ des Malers Andreas Grünwald über den Boden des Alltags zu erheben. Zugleich „erlöst“ der Super-Hero die US-amerikanische Mittelstandsgesellschaft wirksam von ihren Ängsten vor Kriminalität und Terror, ohne sich wie weltliche Sicherheitsorgane an einschränkende Gesetze und lästige Bürgerrechte halten zu müssen. Ein biederes Law- and Order-Denken bläst sich zur Vision eines monströsen Übergesetzeshüters auf.
Kleiner Mann ganz groß
„Super“, das ist nicht nur ein Synonym für „toll“, „prima“ – es bedeutet wörtlich „über“. Das Supergrundrecht „Sicherheit“ steht über zweitrangigen Grundrechten wie Menschenwürde und Freiheit – jedenfalls laut Ex-Innenminister Friedrich. Ein Super-Gau ist ein Unglück über dem größten anzunehmenden Unfall. Superman ist korrekt mit „Übermensch“ zu übersetzen. Die Geschichte des schüchternen, durch eine Hornbrille verunzierten Reporters Clark Kent, der sich bei Bedarf Hemd und Krawatte vom Leib reißt und sich im hautengen blauen Schlafanzug mit dem roten „S“ in die Lüfte schwingt, macht den kompensatorischen Charakter der Superhelden-Fantasie mehr als deutlich. Weil ich mich klein und schwach fühle, sehne ich mich nach einer überwirklichen Zweitidentität, einer Art positivem Mr. Hyde, der bei Bedarf „übernimmt.“
Der Übermensch war in den letzten Jahrzehnten klar ein US-amerikanischer Archetyp. Man schaue sich zum Vergleich einmal die Filmkunst jedes beliebigen anderen Landes an. Vom Franzosen Luc Besson einmal abgesehen, begnügen sich andere Nationen in der Regel damit, menschliche Helden mit menschlichen Problemen zu präsentieren. In den USA, Heimat des „Super-Tuesday“ und des „Super-Trump“ (Wahlkampfslogan des momentanen Präsidenten) wimmelt es dagegen nur so von Figuren, die über sich hinauswachsen, Unmögliches vollbringen und die Naturgesetze willensheroisch überdehnen. „Du schaffst es, wenn du nur willst“ ist ein populäres Mantra, das sich durch penetrante Wiederholung in unser Unterbewusstsein bohrt.
„Ich lehre euch den Übermenschen“
Dabei war der Übermensch, bevor er die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, einmal Deutscher gewesen. Das Thema, dessen Variationen das 20. Jahrhundert mit oftmals scharfen Dissonanzen weiterkomponierte, hatte der Philosoph Friedrich Nietzsche schon 1885 in „Also sprach Zarathustra“ angeschlagen. Die schwärmerische Vision vom „Übermenschen“ mit dem Beigeschmack kalter Verachtung für den gegenwärtigen Menschen ist das zweifelhafte Erbe des großbärtigen Einsiedlers für uns Nachgeborene. „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll“, verkündet Nietzsches fiktiver Prophet Zarathustra. Und deutlicher noch: „Die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache. (…) Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.“
Zarathustra gibt zwar keine konkrete Vision des Übermenschen, beschreibt aber drastisch, welche Art von Gegenwartsmenschen er der Verachtung für würdig hält: den „letzten Menschen“, eine klägliche Verkümmerungsform, die nach Glück und Bequemlichkeit strebt, Leiden zu vermeiden sucht und die Gleichheit, die Gleichwertigkeit aller Menschen fordert. Wenn man genau hinsieht, meint Nietzsche damit den völlig normalen, jedoch unspektakulären Menschen – also wohl die meisten von uns. Das antiaufklärerische Bild vom Menschen als bloßem „Zweck“, dessen „Untergang“ Platz machen sollte für die Heraufkunft des Neuen Menschen erweckt mit Blick auf die menschenverachtenden Ideologien des 20. Jahrhunderts doch ein gewisses Unbehagen.
Sloterdijk, der Menschenparkwächter
Mehr als 100 Jahre später berief sich ein anderer berühmter deutscher Denker auf Nietzsches „Zarathustra“ und löste damit einen Skandal aus: Peter Sloterdijk definierte in seinem Aufsatz „Regeln für den Menschenpark“ 1999, was er für die „Epochenfrage“ hält: „Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert?“ Eine mögliche Antwort sieht er in Nietzsches „Zarathustra“. Der von Nietzsche angesprochene Grundkonflikt sei der „zwischen den Kleinzüchtern und den Großzüchtern des Menschen, (…) Menschenfreunden und Übermenschenfreunden.“ Die Frage sei, ob und wie sich der Mensch vom bloßen Objekt zum Subjekt der Auslese aufschwingen könne. Neben Nietzsche bemüht der Philosoph und spätere Showmaster Sloterdijk auch Platon. In dessen Werk gehe es „nicht nur um die zähmende Lenkung der von sich aus schon zahmen Herde, sondern um eine systematische Neu-Züchtung von urbildnäheren Menschenexemplaren. (…) Darum muss der Staatsmann die ungeeigneten Naturen auskämmen, bevor er daran geht, mit den geeigneten den Staat zu weben.“
Sloterdijk propagiert keineswegs den Wildwuchs der Gentechnologie ohne ethische Kontrolle; er regt aber dazu an, sich dem technisch Machbaren im Prozess der „Eigenschaftsplanung“ für den Zukunftsmenschen nicht von vornherein zu verweigern. „Aber sobald in einem Feld Wissensmächte positiv entwickelt sind, machen Menschen eine schlechte Figur, wenn sie (…) eine höhere Gewalt, sei es den Gott oder den Zufall oder die Anderen, an ihrer Stelle handeln lassen wollen.“ In Zukunft werde es wohl darauf ankommen, „das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren.“ Konkret spricht Sloterdijk von einer „genetischen Reform der Gattungseigenschaften (…) bis zu einer expliziten Merkmalsplanung.“ Sollten wir nicht, fragt er, gerade aus ethischen Erwägungen, aus Sorge für die Zukunft der menschlichen Spezies, bewusst bestimmen, welche Eigenschaften wir am Zukunftsmenschen fördern, welche unterdrücken wollen?
Verrat am Alten Menschen
An dieser Stelle verschwimmen die Grenzen zwischen hoher deutscher Philosophie und Science fiction. Schon ein Hollywood-Film wie „Gattaca“ (1997) mit Ethan Hawk entwarf die Utopie eines genetisch bereinigten Menschentums, einer Welt, in der „ungeeignete Naturen ausgekämmt“ und nur genetisch Korrekte in hohe berufliche Positionen aufrücken können. Dabei mutet die Film-Vision geradezu phantasielos und brav an, wenn man bedenkt, was heute technisch machbar ist und auch teilweise schon praktiziert wird: z.B. das „Auskämmen“ von Embryonen, in denen die fortgeschrittene pränatale Medizin zukünftige Behinderte vermutet. Auch die bislang offiziell nur an Schafen erprobte Biotechnik des Klonens eröffnet potentiell unbegrenzte Möglichkeiten der „Merkmalsplanung.
Evolution bringt immer Veränderung mit sich, sie ist nicht aufzuhalten. So wird sich auch der Mensch unvermeidlich weiter entwickeln. Die Frage ist nur: wohin und in welcher Geschwindigkeit? Der große Traum unserer Gegenwart ist, so der Sachbuchautor Yuval Noah Harari, die selbstbestimmte Evolution. Wir bestimmen selbst (mit), wer und was wir werden wollen. Hierzu gibt es eine Fülle mehr oder minder ansprechender Entwürfe. Die Gentechnologie eröffnet die Möglichkeit einer „unnatürlichen Zuchtwahl“, bei der bestimmte Eigenschaften als unerwünscht aussortiert, andere als erwünscht gefördert werden können. Über beide Kategorien könnten – wie schon bisher – die Macht und das Geld entscheiden. Wollen wir das?
„Wir sind die Borg“
Auch der Cyborg, das Mensch-Maschine-Doppelwesen zeigt sich schon am Horizont der Geschichte. So unheimlich wie die „Borg“ aus dem Star Trek-Universum müssen diese Zukunftsmenschen gar nicht wirken. Schon der Träger eines Herzschrittmachers, der Amputierte mit angeschlossenem bionischem Arm oder der Smartphone-Besitzer, der mit seinem Gerät untrennbar verschmolzen scheint, sind Vorboten einer neuen Evolutionsstufe, die Potenziale, jedoch auch Gefahren birgt. An Gehirn-Computer-Schnittstellen ebenso wie an der zunehmenden Vermenschlichung von Maschinen wird mit Hochdruck gearbeitet. Statt „Super“ ist hierfür inzwischen eher die Vorsilbe „Trans“ en vogue. Der Transhumanismus beschäftigt sich mit der Überwindung herkömmlicher menschlicher Grenzen mittels technischer Applikationen.
Träume vom „Neuen Menschen“ deuten aber m.E. vor allem auf eines hin: dass der Träumende Schwierigkeiten hat, den „Alten Menschen“ so zu akzeptieren, wie er ist. Möchtegern-Übermenschen sollten so ehrlich sein zuzugeben, dass dieser Alte Mensch noch in ihnen steckt, in ihnen eingeschachtelt – so wie die inneren (die älteren) Ringe eines Baumes nur von einer dünnen Schicht Rinde bedeckt sind. Alles, was wir im Außen bekämpfen – das geile Tier, der Neandertaler mit der Keule, der magiegläubige Mensch der Jäger- und Sammlerkultur – wenn wir genau hinsehen, finden wir sie alle wieder: in uns selbst. Verachtung für den Alten Menschen ist somit zum großen Teil nichts anderes als Selbstverachtung.
Die gnadenlosen Umerzieher
Freilich ist der Zustand des Alten Menschen (und das, was er mit der Erde anstellt) manchmal zum Verzweifeln, und der Wunsch, sich einen besseren zurecht zu kneten insofern verständlich. Doch was den Menschen so verbesserungswürdig macht, sind vor allem seine Grausamkeit und Aggressivität. Gerade die schlimmsten Gräueltaten wurden nicht von den Gelassenen, den Gleichgültigen begangen, die der menschlichen Schwäche mit augenzwinkernder Duldung begegneten, sondern von den verbissenen Umerziehern, den gnadenlosen Menschenzüchtern. Letztere wollen den Fluss der Evolution mit Gewalt beschleunigen und vergewaltigen das So-Sein des Menschen mit Blick auf ein utopisches Bild möglichen Menschentums. Nichts gegen Apelle an den Menschen, sein volles Potenzial auszuschöpfen; aber überall, wo man das Wort vom „Übermenschen“ im Mund führt, ist erfahrungsgemäß auch die Idee des „Untermenschen“ nicht weit.
„Fast gottähnlich“? Verhalten wir uns doch erst einmal wirklich menschlich!