«Der Mensch ist ein Reichtum”
„Das moderne Theater muss nicht danach beurteilt werden, wie weit es die Gewohnheiten des Publikums befriedigt, sondern danach, wie weit es sie verändert“, sagte Bertolt Brecht. Dieser Satz illustriert nicht nur bestens die Theaterauffassung Anne Ziegler-Weispfennigs, deren reichhaltiges Lebenswerk im Mittelpunkt dieses Buches steht. Ungewöhnlich – ja all unseren Auffassungen von „Normalität“ spottend – ist auch die Geschichte, die erzählt wird. Da wird von Menschen die Rede sein, die sich während der Nazi-Diktatur nicht weggeduckt haben, von „Introvertierten“, die im Rampenlicht glänzen und von „Bildungsfernen“, die sich für Stücke von Borchert und Kroetz begeistern. Lauter „Unmöglichkeiten“ eigentlich. Es fehlt noch, dass Blinde sehen lernen. Zumindest aber hat die theaterpädagogische Arbeit Anne Ziegler-Weispfennigs viel Licht ins Dunkel der Ignoranz gebracht, mit der unsere Gesellschaft oft Minderheiten behandelt. Aufklärend wirkte sie im besten Sinn des Wortes. Und aufklären möchte auch dieses Buch: über ein Kapitel der Münchner Stadtgeschichte, das in der Öffentlichkeit noch immer zu wenig bekannt ist.
Viele Biografien handeln davon, wie der Held oder die Heldin gierig nach einer Gelegenheit greift, Ämter und Ehren rafft und unaufhörlich seinen oder ihren Aufstieg vorantreibt. Der entscheidende Punkt in Anne Ziegler-Weispfennigs Biografie war ein Verzicht, ein Akt des Loslassens: Sie ließ die Möglichkeit einer Karriere als Schauspielerin fallen, die sie auch zu Film und Fernsehen hätte führen können. Stattdessen griff sie nach etwas ganz anderem, scheinbar Abseitigem und gesellschaftlich zunächst weniger hoch Angesehenem: der Theaterpädagogik im Dienst gesellschaftlicher Außenseiter. Sie begann aus kulturell größtenteils unbeleckten Jugendlichen in Münchens Jugendheimen Theatergruppen zusammenzustellen – mit Ergebnissen, die bald auch die Kulturelite der Stadt beeindruckten. So fand sie nicht nur das, was man im Nachhinein als ihre wahre Bestimmung, ihre ureigene „Form“ betrachten kann; sie fand auch ein Glück, wie es sich trotz oftmals mörderische Arbeitsbelastung immer einstellt, wenn jemand schöpferisch für und mit Menschen tätig sein kann.
Nicht nur ungewöhnlich, sondern nach Ansicht maßgeblicher Experten geradezu unmöglich ist, was Anne Ziegler-Weispfennig mit ihrem Theaterprojekt „Phönix aus der Asche“ mit autistisch behinderten Laiendarstellern auf die Beine gestellt hat. „Eindeutige Kontraindikation für die Diagnose Autismus ist meiner Ansicht nach eine schauspielerische Begabung“, hießt es im Gutachten eines Psychologen. Wie gut, dass sich Anne nicht darum gekümmert hat, dass es eigentlich unmöglich war und anfing, Theater zu machen. Und mit welchem Ergebnis! Dieter Hildebrandt, der große, unlängst leider verstorbene Kabarettist, lobte sie über den grünen Klee: „Du hast mehr für diese Stadt geleistet als wir“. Und er ergänzte verschmitzt: „Bei dir steckte bereits der richtige Wurm im richtigen Holz.“
Ich lernte Anne Ziegler-Weispfennig bei einem Liedermacherkonzert ihres Sohnes Oliver Ziegler kennen. Beim geselligen Kaffeetrinken „after show“ merkte ich gleich, dass sie ein großes Kommunikationstalent ist, begabt damit, die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers zu fesseln. Und zwar sowohl dadurch, was sie von sich erzählte als auch durch das, was sie von ihrem Gesprächspartner zu erfragen wusste: wach, einfühlsam und immer voll warmen Interesses an dessen Innenleben. Aus einem lockeren Kontakt wurde zunächst ein Artikel über Theater mit Autisten für ein kleines Magazin, für das ich arbeitete. Schließlich ein Buchprojekt, für das erfreulicherweise der Kreisjugendring ein Budget bereitgestellt hatte. Nun tauchte ich ein in Aktenordner voller Zeitungsartikel, Fotos, Zeitzeugnisse und Briefe – Überbleibsel eines schaffensreichen Lebens. Anne ist Jahrgang 1938 – wie meine Mutter. Die Auseinandersetzung mit ihrem Leben war für mich z.T. eine Zeitreise durch eine Epoche, die ich als Kind allenfalls atmosphärisch aufgenommen hatte – geprägt vom Geist der unmittelbaren Nachkriegszeit, der 68er-Revolte und der darauf folgenden Restauration.
Durch die gemeinsame Arbeit an diesem Buchprojekt wurden in Anne Ziegler-Weispfennig viele lange verschüttete Erinnerungen wach. „Ich bin plötzlich wieder 28“, schrieb sie in einer E-Mail an mich. Und sie benennt, was sie in 40 Jahren mehr als alles andere bei ihrer Arbeit angetrieben hat: „Das Politische ist eingeflossen aus Überzeugung und aus der Tatsache, dass nie mehr passieren darf, was ich zum Beispiel als Kind erlebt habe.“ Gemeint waren Krieg, Unmenschlichkeit und Ausgrenzung, wie sie in den ersten sieben Jahren ihres Lebens bis 1945 noch gang und gäbe waren. Aber frühe und schwere Erfahrungen stärken auch die Widerstandsfähigkeit und die Entschlossenheit, am Aufbau einer menschlicheren Welt mitzuwirken. „Zum Club der ‚zähen Luder‘ zähle ich dich schon immer. Du gehörst jedoch zu den zähesten.“ Jutta Hildebrandt, Tochter von Dieter Hildebrandt, schrieb dies in einem Brief.
Die Dokumente über Anne Ziegler-Weispfennigs Theaterarbeit wirken auf mich wie Erinnerungsspuren einer leider vergangen Zeit, einer Prä-Zynismus-Ära sozusagen, in der der Kulturbetrieb sein Herzblut für ernste und existenzielle Themen wie Krieg, Schuld, Behinderung, Diskriminierung und Ausbeutung gab. Das Theater war „moralische Anstalt“ in einem nicht bieder-moralisierenden Sinn, vielmehr im Sinn von Aufklärung mit klarem ethischem Kompass. Was man heute diskriminierend als „bildungsferne Schichten“ bezeichnet, sind Menschen, denen noch niemand Theater, Literatur und politische Bewusstseinsbildung in einer für sie ansprechenden, sie mitnehmenden statt elitär ausgrenzenden Weise nahe gebracht hat. Behinderte, Versehrte und „In-sich-Verkrochene“ (wie es Reinhard Mey einmal schön ausdrückte), Ausgegrenzte und Jugendliche aus Familien mit sozialen Schwierigkeiten waren Anne Ziegler-Weispfennigs Leben. Und dies betrifft den Kreis ihrer „Klienten“ ebenso wie die Hauptfiguren der von ihr gewählten Theaterstücke.
Die Theaterarbeit jener Zeit schien, wie das Wasser, immer ganz nach unten zu fließen, dorthin wo man des Trostes und der Parteinahme am meisten bedurfte, weil sich – außer engagierter Kunst – niemand für diese Menschen interessierte. Und viele der „Prekären“ und Benachteiligten ergriffen die ausgestreckte Hand der engagierten Kunst. Arbeiterbildung, wie sie Annes Vater Otto Weispfennig betrieben hatte, beschränkte sich damals noch nicht auf BILD-Zeitung und Verdummungs-Shows. Ein Drang „nach oben“, hin zu Emanzipation, Selbstbehauptung und Aufklärung schien auch Menschen zu beseelen, die körperlich, sozial oder auf andere Art „behindert“, also an Teilhabe gehindert waren. Auf diese Tradition müssen wir heutigen uns besinnen, wollen wir der Erosion von Menschlichkeit in unserer Gesellschaft Einhalt gebieten, die stets auch mit einer Geringschätzung kultureller Bildung verbunden ist. Und noch mehr damit, dass man ganze Gruppen von Menschen für nicht der Rede wert hält, weil sie einem profitgetriebenen Zeitgeist als ökonomisch schwer verwertbar erscheinen.
Anne Ziegler-Weispfennig und ich wünschen Ihnen inspirierende und nachdenkliche Stunden bei der Lektüre dieses Büchleins. Wir hoffen auf aufmerksame Leser, die durch diese Zeilen nicht hindurch gehen, wie man durch ein Museum flaniert, um das Gesehene hinterher gleich wieder beim Kuchen zu vergessen. Die Fragen, die sich dem Autor wie den Lesern stellen, sind dieselben: „Was geht es mich an?“, „Was hat es mit unserer Gegenwart zu tun?“ Und: „Wie können wir dergleichen heute wieder erschaffen: mit heutigen Mitteln und unter zeitgemäßen Bedingungen?“ Daher muss unser Buch dort ankommen, wohin auch Theater unbedingt gehört. Anne Ziegler-Weispfennig hat mit diesem Slogan ihre Kulturauffassung einmal auf den kürzesten Nenner gebracht: „Raus zu den Menschen!“
Roland Rottenfußer im März 2015
Wer ein Exemplar des Buchs (kostenfrei) beziehen möchte, frage bitte bei Roland Rottenfußer unter “info@hinter-den-schlagzeilen.de” nach.