Die Demokratie der Zukunft

 In FEATURED, Politik (Inland), Roland Rottenfußer

Mehr Bürgerbeteiligung statt „postdemokratischer Gesellschaft“. Unsere repräsentative Demokratie ist gescheitert, wenn die Repräsentanten das „demos“ (Volk) nicht mehr repräsentieren, sondern es zur Unterwerfung unter die Interessen einer dritten Kraft aus dem Wirtschafts- und Finanzsektor zwingen. Natürlich verkündet kein Politiker offen, er werde jetzt die Demokratie abschaffen. Die Menschen dürfen noch immer wählen, was sie wollen, solange sie nur das denken können, was sie sollen. Die Hauptaufgabe „demokratisch gewählter“ Politikern besteht in einem solchen System paradoxerweise im Demokratieabbau, also in der Begrenzung demokratischer Bürgermacht auf das für die Finanzoligarchie Unschädliche. Dem muss durch einen konsequenten Ausbau der Direkten Demokratie sowie durch neue kreative Lösungsansätze begegnet werden. Roland Rottenfußer

Von Alex Cary stammt folgende treffende Beobachtung: „Das Zwanzigste Jahrhundert kann durch drei bedeutende politische Entwicklungen charakterisiert werden: durch die Zunahme von Demokratie, durch die Zunahme institutioneller Macht und durch die Zunahme von Propaganda, die dazu dient, jene institutionelle Macht vor der Demokratie zu schützen.“ Dies gilt im beginnenden 21. Jahrhundert nicht weniger. Im März las ich in der ZEIT einen Artikel, der in seiner scheinbaren Harmlosigkeit eine sehr gefährliche Tendenz widerspiegelt. Autor Josef Joffe schreibt dort: „Die EU ist ein freiheitliches, freundliches und fürsorgliches Gebilde, aber eine Demokratie im klassischen Sinne? Nennen wir es eine ‚Geschäftsführer-‚ oder ‚Postdemokratie’, in der die Bürger das Herrschen den Räten und Kommissionen überlässt. Und zwar freiwillig.“ Erschreckend an dieser Passage ist nicht, dass der Autor die EU eine „Postdemokratie“ nennt, sondern dass sein Artikel keinen Ansatz von Kritik und Widerstand gegen diese Entwicklung erkennen lässt. Mehr noch: Der Zeit-Autor stimmt der Installation postdemokratischer Institutionen zu.

Was aber bedeutet Postdemokratie? Lassen wir uns von dem Fremdwort nicht blenden. Es bedeutet nichts anderes als die Abwesenheit, das Fehlen von Demokratie. Mit prädemokratischen Staatsformen wie Monarchie und Diktatur hat die Postdemokratie gemein, dass das Volk von jedem Einfluss auf die Regelung seiner eigenen Angelegenheit weitestgehend ausgeschlossen wird. Joffes Begeisterung über ein „freiheitliches, freundliches und fürsorgliches Gebilde“ ist Augenwischerei. Soll man die Hohenzollern-Monarchie wieder einführen mit der Begründung, dass die noch lebenden Nachfahren des Kaiserhauses gewiss freundliche, wohlmeinende Herren sind? Und was ist, wenn die EU-Institutionen einmal von weniger „fürsorglichen“ Persönlichkeiten unterwandert werden? Wer kontrolliert die sich akkumulierende Macht, wenn immer Einfluss von den direkt vom Volk gewählten Institutionen (nationale Parlamente) zu den nicht vom Volk bestimmten (EU-Ministerrat) fließt?

Was kommt nach der Demokratie?

Josef Joffe gibt weiter zu Protokoll: „Dezidierten Demokraten muss dies ein Gräuel sein, aber es funktioniert; per Volksentscheid wäre der Euro bestimmt nicht entstanden.“ Wer aber bestimmt, dass der Euro unbedingt (und gegen den Willen von Millionen Europäern) entstehen musste? Das Volk kann irren, aber will man ernstlich behaupten, dass Berufspolitiker dies nicht können? Demokratie hat nie für sich beansprucht, eine Staatsform zu sein, die vor Irrtum gefeit ist. Vielmehr gibt sie dem Volk die Freiheit, seine eigenen Fehler zu machen, anstatt ständig unter den Fehlern selbsternannter „Eliten“ zu stöhnen. Hitler begründete Führung damit, dass die in der Hierarchie höher stehenden Personen weniger irren könnten als ihre Untergebenen. Der einfache Parteigenosse könne eher irren als der Kreisleiter, dieser sei mehr dem Irrtum unterworfen als der Gauleiter, und Hitler fügt hinzu: „Sie werden nicht beleidigt sei, wenn ich sage, dass ein Gauleiter sich immer noch eher irrt als dass ich mich irre.“ Wollen wir uns im Ernst wieder zur Ideologie einer irrtumsfreien Obrigkeit und der mit zunehmendem Einweihungsgrad steigenden geistigen Brillanz ihrer Protagonisten bekehren – und dies im Zeitalter von Trump, Bolsenaro, Erdogan und Scheuer?

Die EU ist nicht der NS-Staat, aber das Beispiel zeigt, wohin Obrigkeits- und Hierarchiegläubigkeit führen können. Der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Robert W. McChesney beschreibt den Unterschied zwischen Faschismus und Neoliberalismus folgendermaßen: „Der Faschismus ist rassistisch und nationalistisch, verachtet die formelle Demokratie ebenso wie die hoch organisierten sozialen Bewegungen. Der Neoliberalismus dagegen funktioniert am besten in einer formellen parlamentarischen Demokratie, in der die Bevölkerung zugleich systematisch davon abgehalten wird, sich an Entscheidungsprozessen sinnvoll zu beteiligen.“ McChesneys Urteil über unsere Demokratien neoliberaler Prägung ist vernichtend: „Ein paar Parteien, die, ungeachtet formeller Unterschiede und Wahlkampfgeschrei, die gleiche prokapitalistische Wirtschaftsform betreiben, führen triviale Diskussionen über Nebensachen. Demokratie ist zulässig, solange die Wirtschaft von demokratischen Entscheidungsprozessen verschont bleibt, d.h. solange die Demokratie keine ist.“

Demokratie – „Störfaktor“ im Kapitalismus

„Das Gewicht des jeweiligen Kapitals gilt nicht mehr als Gefahr für die Demokratie, sondern umgekehrt die Demokratie als Gefahr für die Freiheit des agierenden Kapitals“, formuliert es der Sachbuchautor Jens Wernicke. Das ist der Punkt: Die Demokratie, also das Volk selbst, wird zum Störfaktor im Ablauf eines reibungslosen politischen Betriebs. Tragischerweise lehnen auch viele „Normalbürger“ Volksabstimmung mit der Begründung ab, dass es dabei zu politischen Entscheidungen kommen könnte, die der eigenen Auffassung widerstreben. „Elite“ und Volk Hand in Hand gegen eine Demokratie, die diesen Namen auch verdienen würde.

Das häufigste Totschlagargument gegen Plebiszite: Die Todesstrafe. „Bei Volksabstimmungen auf Bundesebene hätten wir innerhalb kürzester Zeit die Todesstrafe“, sagte ein Bekannter. Ein anderer befürchtete, die Mehrheit würde niemals der Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen zustimmen. Diese politischen Anliegen sind berechtigt, aber soll man deshalb lebenslange politische Selbstkastration in Kauf nehmen? Kriegseinsätze der Bundeswehr, Ausverkauf von Gemeinschaftseigentum und die Etablierung der Gentechnologie in der Agrarwirtschaft wären z.B. in einer plebiszitären Demokratie nicht durchsetzbar gewesen. Wer die Demokratie ablehnt, weil er von Mehrheitsentscheidungen Ergebnisse befürchtet, die mit seinen eigenen Wünschen nicht übereinstimmen, soll offen zugeben, dass er eigentlich eine Elitediktatur seiner eigenen Gesinnungsgemeinschaft anstrebt.

Diktatur der Mehrheit?

Demokratie ist im schlimmsten Fall der Terror der Mehrheit gegen die Minderheit, die Gewaltherrschaft der Wahlberechtigten über die Nicht-Wahlberechtigten. Kinder, Tiere und Asylbewerber könnten ebenso durch das Netz mehrheitlich verhängter Fürsorge fallen wie künftige Generationen oder die Interessen schwacher Minderheiten. Gesetze zum Minderheitenschutz müssen fundamentaldemokratische Bestrebungen ebenso ergänzen wie Bestimmungen, die die Unantastbarkeit der Menschenrechte festschreiben. Hier endet auch meine Toleranz gegenüber dem Majoritätsprinzip. 51 Prozent der Bevölkerung dürfen z.B. nicht darüber zu befinden haben, dass den anderen 49 Prozent die Menschenwürde aberkannt wird.

Ansonsten gibt es gegen Demokratie allerdings keinen legitimen Einwand. Jedes „Ja, aber …“, egal von wem es kommt, zementiert lediglich den Anspruch des Sprechers auf einen höheren Erleuchtungsgrad und überproportionale Machtbeteiligung. Und womit wäre dieser Anspruch zu legitimieren? Es ist zunächst einmal schwer, zu begründen, warum eine Person X mehr Einfluss für sich beanspruchen sollte als eine Person Y – und zwar in einer Angelegenheit, die die Interessen beider gleichermaßen berührt. Die menschliche Fantasie hat Großes geleistet beim Ersinnen solcher Begründungen für die Ungleichheit der Rechte und Besitzverhältnisse. Selbst der offensichtliche Unsinn eines Herrschaftsanspruchs durch „Gottesgnadentum“ hat es vermocht, ganze Völkerscharen über Jahrhunderte gefügig zu halten.

Brand stiftende Biedermänner

Womit wir es im 21. Jahrhundert zu tun haben, ist das säkularisiertes Gottesgnadentum einer kleinen globalen Machtelite aus Großkonzernen, Großbanken und Finanzgesellschaften. Der Gott des Mammonismus schwingt das Szepter. Wenige Menschen ohne jede demokratische Legitimation bestimmen über die Schicksale von Milliarden Menschen – letztlich nur deshalb, weil sie es so wollen und weil sie die institutionelle Gewalt in ihren Händen halten, uns zur Annahme des eigentlich Unannehmbaren zu zwingen. „Es ist nicht leicht, Menschen davon zu überzeugen, dass die Reichen die Armen ausplündern sollen; ein PR-Problem, das bis jetzt noch nicht gelöst wurde“, spottete Noam Chomsky.

Vorbei die Zeit der eher verschämten, indirekten Versuche, den Volkswillen zu umgehen. Die sich unangreifbar glaubenden Institutionen sagen dem Volk ihren mangelnden Respekt, ihre Missachtung heute direkt ins Gesicht. Wie in Max Frischs Theaterstück „Biedermann und die Brandstifter“, weckt aber nicht einmal das offen geäußerte Bekenntnis „Ich bin ein Brandstifter“ den Biedermann auf, der finster entschlossen ist, seinen zündelnden Gast für einen guten Menschen zu halten. Dies geht so lange gut, bis sein Dach brennt. Die Zündler, die das über Generationen mühsam erbaute und gepflegte Haus der Demokratie in Brand setzen wollen, sind heute mitten unter uns.

Der entmündigte Bürger

Weder unter Schröder noch unter Merkel hat auch nur eine Diskussion über Volksabstimmungen auf Bundesebene in Deutschland stattgefunden. Ein langjähriger Bürgerrechtler, Bernhard Fricke von der Münchner Umweltinitiative „David gegen Goliath“ sagte zu diesem Thema: „Unsere Demokratie ist eine Schönwetter-Demokratie, die uns im Grunde genommen geschenkt worden ist. Wir haben uns mit einer zunächst von den Siegermächten ausgestalteten Demokratie zufrieden gegeben, die im Grundgesetz einen sehr reifen, bedenkenswerten Niederschlag gefunden hat. Allerdings sind die Grundrechte in einem langen Prozess immer mehr ausgehöhlt worden – teilweise bis zur Substanzlosigkeit. Es hat auch nie eine Volksabstimmung stattgefunden über unsere Verfassung. Auch nicht später, bei der Währungsunion, bei der Wiedervereinigung, bei der europäischen Verfassung. Diesem Volk wird das Mitspracherecht in solch existenziellen Fragen bis heute vorenthalten, es wurde in einer grenzenlosen Arroganz von seinen Repräsentanten für unmündig erklärt.“

Quo vadis, Demokratie? Am Horizont der Geschichte dämmert seit einiger Zeit ein kollektiver Alptraum auf: die beängstigende Vision eines weltweiten, regional in Nuancen differierenden, in seinen Denkgrundlagen jedoch weitgehend einheitlichen Unterdrückungssystems, das auch als „Demokratur“ bezeichnet worden ist. Gemeint ist eine durch polizei- und obrigkeitsstaatliche Strukturen geschützte kapitalistische Oligarchie mit demokratischen Reststrukturen, die jedoch nur Feigenblattfunktion haben. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist bei jedem Einzelstaat ein bisschen anders, das Endergebnis könnte jedoch das gleiche sein. So entwickelt sich in China die alte Ein-Parteien-Diktatur in eine kapitalistische Richtung, während der Kapitalismus in den NATO-Staaten durch Anwendung zunehmend polizeistaatlicher Mittel immer diktatorischer wird. Allen Modellen gemeinsam ist eine Auffassung vom Staatsvolk als gefügige Menschenherde, von „eingebetteten“ Medienchorknaben in politischen Tiefschlaf gelullt, vom Staat der Wirtschaft zur möglichst effizienten ökonomischen Verwertung ausgeliefert.

Die Nacht kommt nicht plötzlich

Ein maßgeblicher Beitrag zu schleichenden Demokratieabbau ist das neue Buch der US-Amerikanerin Naomi Wolf, einer Tochter von Holocaust-Überlebenden. Sie geht davon aus, dass in den USA derzeit „faschistische Verschiebungen“ im Gang seien. Wenn diese sich summierten, könnte dies „das Ende jenes Amerika bedeuten, das die Gründerväter intendiert hatten“. Um ihre Faschismustheorie zu untermauern, zieht die Autorin historische Vergleiche aus verschiedenen Epochen und Weltgegenden heran: Wie haben Hitler, Mussolini und Pinochet ihre Schreckensherrschaft etabliert? Meist geschah dies nicht mit einem „großen Knall“, sondern auf geordnete Weise, gemäß den Regeln von Demokratien, die dem gefährlichen Flirt mit der Selbstzerstörung nicht widerstehen konnte. Faschismus, sagt Naomi Wolf, hat nicht immer ein spektakuläres, offen grausames Gesicht. Er offenbart sich in seiner Anfangsphase selten durch Massenerschießungen oder die rauchenden Schlote von Vernichtungslagern. Manchmal ist er zunächst nur daran zu erkennen, dass wir beginnen, unsere Worte abzuwägen.

Übertreibe ich nicht etwas? Ich zitiere in diesem Zusammenhang ein Statement des US-Richters William O. Douglas: „Genau wie die Nacht nicht plötzlich hereinbricht, kommt auch die Unterdrückung nicht schlagartig. In beiden Fällen gibt es eine Zeit des Zwielichts, in der alles scheinbar unverändert ist. Und in diesem Zwielicht müssen wir alle mit höchster Aufmerksamkeit auf Veränderungen achten, so klein sie auch sein mögen, damit wir nicht zu ahnungslosen Opfern der Dunkelheit werden.“ Demokratie ist eine Errungenschaft im besten Sinn des Wortes, und sie muss in jeder Epoche neu errungen, ausgebaut und gegen Angriffe verteidigt werden. Derzeit besteht die Gefahr, dass die Demokratie weniger an der Stärke ihrer Gegner als an der Gleichgültigkeit jenes „demos“ (Volkes) stirbt, für das sie einmal geschaffen wurde.

Was uns hoffen lässt

Es gibt allerdings auch Hoffnungszeichen: Antirassistische Demonstrationen in vielen Ländern der Welt. Eine Schülerbewegung in den USA, die sich mit der Waffenindustrie anlegt. Kinder, Eltern und Wissenschaftler, die “for future” auf die Straße gehen, wenn auch in der ersten Hälfte 2020 eine Pause nötig schien. Polizeigewalt wird vielerorts sogar in den Mainstream-Medien zum Thema gemacht. Menschen, auch wenn es noch nicht die Mehrheit ist, spüren ein tiefes Unbehagen gegenüber dem bevormundenden Staat, gegenüber schleichendem Bürgerrechtsabbau, strangulierenden Polizeigesetzen und übergriffigen Ordnungshütern. Die Frage “Leben wir eigentlich noch in einer Demokratie?” wird gestellt. Es ist traurig, dass sie gestellt werden muss, aber es macht Hoffnung, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger so gehirngewaschen sind, dass sie die lange Leine, an der man sie hält, nicht einmal mehr bemerken.

Es ist daher wichtig, die eigenen Bemühungen nicht ausschließlich dem „Kampf gegen …“ (z.B. Demokratieabbau) zu widmen, sondern aktiv den Ausbau, die Erweiterung bestehender demokratischer Strukturen zu fordern. Das Prinzip, „das Unmögliche zu fordern, um das Mögliche“ zu erreichen, ist Befürwortern einer Wirtschaftsordnung nach den Grundsätzen von Silvio Gesell sicher nicht unbekannt. Der Begriff „unmöglich“ bezieht sich dabei hauptsächlich auf das durch die gegenwärtige Machtkonstellation Vorgegebene. Doch auch scheinbar unerschütterliche Machtgefüge und Denkblockaden können erstaunlich rasch in sich zusammenbrechen, wenn die Zeit reif ist (was leider oft erst nach Krisen und Katastrophen möglich ist).

Machtreform ergänzt Geldreform

Es ist mittlerweile in allen politischen Feldern deutlich geworden, wie verhängnisvoll sich die Konzentration von Privilegien und Entscheidungsbefugnissen in den Händen Weniger für die Gemeinschaft auswirkt. Die Akkumulation von Geld in den Händen von wenigen Reichen ist ein Thema, das unser Magazin schon sehr oft behandelt hat. Die Forderung muss demgemäß die nach einer „Dekonzentration“ sein: einer gerechteren Verteilung der bestehenden Ressourcen auf mehr Menschen (wenn auch nicht bis zur völligen Gleichheit der faktischen Lebensstandards). Die Folge wäre, dass Geld von dort, wo es im Überfluss vorhanden ist, dorthin wieder fließt, wo es (oft schmerzlich) fehlt. Bestrebungen dieser Art können als „Geldreform“ bezeichnet werden. Die Reduzierung des Zinses auf ein unvermeidliches Minimum wäre ein gangbarer Weg dorthin.

Analog zur Geldreform wäre aber auch eine Machtreform anzustreben. Auch hier wäre die Stoßrichtung die einer „Dekonzentration“. Die Macht (also das Recht, wesentliche, das eigene Leben betreffende Entscheidungen mit zu treffen) muss auf mehr Menschen verteilt werden. Die Finanzkrise 2008/2009, die gnadenlose Verarmungspolitik gegenüber Griechenland oder die Kriegspolitik mehrerer US-Präsidenten zeigen überdeutlich, wie viel Unheil einzelne Menschen (oft gegen die ausdrücklichen Wünsche und Interessen der Mehrheit) anrichten können. Die Machtreform – für mich geht es im Wesentlichen um mehr direkte Demokratie – hängt mit der Geldreform in zweierlei Hinsicht zusammen: 1. Volksabstimmungen auf Bundesebene könnten Reformen des Geldsystems eher beschleunigen als es im derzeitigen System der repräsentativen Demokratie möglich ist. 2. Es besteht eine Analogie, mehr noch: eine Wesensverwandtschaft zwischen Geld- und Machtreform. Beiden liegt der Gerechtigkeitsgedanke zugrunde sowie (pädagogisch gedacht) ein Menschenbild, das auf die Entwicklung zu mehr Würde, Reife und Selbstbestimmung abzielt.

Direkte Demokratie schafft Kompetenz

Wir müssen, wenn wir die Geldreform denken, die Machtreform mitdenken. So wie Joseph Beuys seinerzeit die provozierende Formel „Jeder ist ein Künstler“ formulierte, würde mehr Demokratie jeden (im kleinen Rahmen) zu einem Politiker machen, die Geldreform jedem einen maßvollen Wohlstand garantieren. Ist das „dumme Volk“ reif dafür? Der Mitbegründer des Vereins „Mehr Demokratie“ Gerald Häfner sagte bei einem Vortrag in München, die Direkte Demokratie würde die Voraussetzungen, die dem Volk nach Ansicht von Verteidigern der repräsentativen Demokratie fehlen, erst schaffen: Abstimmungen über Sachthemen führten zu breiten öffentlichen Diskussionen, zu mehr Informiertheit und somit zu einer politisch interessierten, mündigeren Bevölkerung. Der letztere Aspekt dürfte wesentlich zur „Unbeliebtheit“ der Direkten Demokratie bei vielen Politikern beitragen.

Bei welchen „Stellschrauben“ könnte man ansetzen, um die hier skizzierten Ziele zu erreichen? Ich habe hierzu ein 10-Punkte-Programm für mehr (und bessere) Demokratie entworfen. Manche dieser Punkte beruhen auf sehr praktischen, seit Jahrzehnten sorgfältig durchdachten Forderung der Demokratiebewegung (hauptsächlich aus den Publikationen des Vereins „Mehr Demokratie e.V.“) Andere Vorschläge sind eher grob umrissene Denkanstöße, die einer genaueren Ausformulierung noch bedürfen. Es dürfte sich als schwierig erweisen, alle diese Vorschläge zu einem einheitlichen System zu vereinen. Dennoch hoffe ich, Anregungen zu geben in einer Zeit, in der der Mangel an Visionen in einem drastischen Missverhältnis steht zur Größe der anstehenden Aufgaben.

 

Das 10-Punkte-Programm für mehr (und bessere) Demokratie

 

  1. Volksabstimmungen auf Bundesebene. Laut Art. 20 des Grundgesetzes bestimmt das Volk seine Geschicke „durch Wahlen und Abstimmungen“. Letzteres wurde durch die Verfassungsväter allerdings nicht präzisiert, so dass sich über Jahrzehnte eine ignorante Haltung vieler Politiker zur Frage der Volksabstimmungen eingeschlichen hat.
  2. Volksbegehren erleichtern. Auch in Bereichen, wo Direkte Demokratie bereits existiert (auf der regionalen und Landesebene), sind die Hürden derzeit zu hoch gelegt. Befürworter von mehr Demokratie fordern daher regelmäßig folgendes: a) muss die Anzahl der Unterschriften, die nötig sind, damit ein Volksbegehren gestartet werden kann, herabgesetzt wird. b) sollten die Fristen (Zeiträume, innerhalb derer man für ein Volksbegehren unterschreiben kann) verlängert werden. c) muss die Einschränkung entfallen, dass sich Bürgern nur in Rathäusern für Volksbegehren einschreiben können. Unterschriften müssen auch auf der Straße und privat gesammelt werden dürfen. d) Abstimmungsquoren müssen ganz entfallen. Damit ist gemeint, dass Volksentscheide nur dann gültig sind, wenn sich eine bestimmte Anzahl von Bürgern an ihnen beteiligen. Blockierer und Sachgegner werden auf diese Weise belohnt. Zum Vergleich: Bei Wahlen hat die Nichtwählerquote keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments. Dies motiviert Regierungsgegner wie Befürworter zur Partizipation am demokratischen Prozess.
  3. Volksabstimmungen auch auf Europaebene. Beim Übergang zu einer neuen Stufe des europäischen Einigungsprozesses muss eine europaweite Volksabstimmung initiiert werden. Die Notwendigkeit einer solchen Regelung zeigt auch der in vieler Hinsicht demokratiewidrige Lissabon-Vertrag.
  4. Volksentscheide müssen stets für die regierenden Politiker verbindlich sein. D.h. die ausführenden Organe müssen das, was das Volk entschieden hat, tatsächlich umsetzen – oder sie müssen abtreten (was durch eine unabhängige Instanz, eine Art Schiedsgericht kontrolliert werden müsste). Wer dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, mag subjektiv aufrichtig sein, hat aber im Amt eines „Volksvertreters“ nichts zu suchen, da er ja sonst eigentlich nur sich selbst vertritt.
  5. Für bedeutende Themen müssen Volksentscheide verpflichtend vorgeschrieben sein. Es gibt Themen, die das Wohl und Schicksal eines Landes so fundamental tangieren, dass nicht über sie entschieden werden darf, ohne dass der „Souverän“ – also alle Bürger – das Wort hat. Es müsste also ein Volksentscheid auch ohne vorangegangenes Volksbegehren eingeleitet werden. Solche Themen könnten sein: Preisgabe von Souveränitätsrechten an größere Organisationseinheiten (EU), Kriegseinsätze, Vereinigungen mit anderen Staatsgebilden (Beispiel: Wiedervereinigung) oder Abspaltungen von Regionen oder die Privatisierung von Gemeinschaftseigentum im großen Stil.
  6. Den Kreis der Wahlberechtigten erweitern. Die Geschichte der Demokratie war immer auch die Geschichte der Erweiterung jenes Personenkreises, denen man zugestanden hat, durch Wahlen über die Geschicke eines Landes mit zu entscheiden. Früher durften z.B. „Unfreie“ und Frauen nicht wählen. Konservative hatten jeweils kluge Argumente dafür parat, warum die „Neuen“ von der Macht ausgeschlossen werden sollten. Die Geschichte des Wahlrechts muss aber nicht in ihrem heutigen Stadium eingefroren werden. Nachdenkenswerte Vorschläge sind: a) Das Wahlrecht ab 16 oder ab 14 Jahren. b) Das Wahlrecht für alle, die dies beim Amt beantragen (egal in welchem Alter sie sich dazu fähig fühlen). c) Eltern üben stellvertretend das Wahlrecht für ihre Kinder aus. d) Das Ausländerwahlrecht wird schrittweise erweitert (auch auf Bundesebene). e) Institutionen nehmen stellvertretend die Interessen künftiger Generationen wahr und sind mit Sitzen im Parlament vertreten, entscheiden also mit über die Wahl einer Regierung. Nach demselben Prinzip können auch Interessensvertreter der Asylbewerber und Staatenlosen, der Tiere, der Umwelt usw. einbezogen werden.
  7. Über die 5-Prozent-Hürde neu nachdenken. Im Prinzip ist die 5-Prozent-Hürde undemokratisch. Sie führt dazu, dass viele Menschen die Parteien, die sie eigentlich bevorzugen, nicht wählen, weil diese „ja doch nicht ins Parlament kommen“. Die Stimmen für die weniger Etablierten gelten als „verschenkt“, und so bleiben die kleinen Parteien klein – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die „Großen Sechs” (früher Vier oder Fünf) kungeln die Macht seit Jahrzehnten unter sich aus. Sie deuten, was aus Wählersicht eigentlich eine „Besser als nix-Beziehung“ ist, in eine heiße Liebesaffäre zwischen Wählern und Gewählten um. Eine Abschaffung oder Absenkung der 5-Prozent-Hürde könnte allerdings auch Neonazis ins Parlament helfen und überdies das Regieren schwieriger machen. Es wäre darüber nachzudenken, jedem Wahlberechtigten 2 Stimmen zu geben. Ein Beispiel. „Ich wähle ÖDP. Wenn diese nicht ins Parlament kommt, soll meine Stimme an die Grünen gehen.“ Auf diese Weise würden sich Wähler „trauen“, die kleinen, oft kreativeren Parteien zu wählen. Das Wahlergebnis wäre ein wirklicher Spiegel der Meinungsbildung in der Bevölkerung, Regierungsbildungen würden aber nicht erschwert.
  8. Möglichst viel nach dem Konsensprinzip organisieren. Das Mehrheitsprinzip bedeutet immer den „Sieg“ der einen Seite, wobei die Interessen der Verliererseite im schlimmsten Fall völlig unberücksichtigt bleiben. Das Konsensprinzip, wie es in matriarchalischen Gesellschaften sowie aktuell in verschieden Organisationen wie attac praktiziert wird, versucht die Interessen aller zu berücksichtigen und erst dann zu entscheiden, wenn eine Lösung gefunden ist, der möglichst alle zustimmen können. Dies erscheint auf den ersten Blick schwierig, es ist aber zu bedenken, dass wir Jahrhunderte lang im Sinne des Prinzips „The Winner takes it all“ sozialisiert wurden und Konsensfindungstechniken weitgehend verlernt haben. Es muss über Wege nachgedacht werden, wie das Konsensprinzip stärker in konkrete Politik einfließen könnte.
  9. Die Demokratie durch Elemente eines „Rätesystems“ ergänzen. Der Begriff „Rätesystem“ klingt nach Steinzeitkommunismus (russisch „Sowjets“ = Räte). Eigentlich ist aber ein ganz einfaches Prinzip damit gemeint, über das sich u.a. einige Naturvölkern organisieren. Bestimmte Gruppen von Menschen entsenden gewählte Räte in ein Gremium, das einer „höheren“ Organisationseinheit angehört. Bürger wählen Dorfräte, Dorfräte wählen Kreisräte, Kreisräte wählen Regionalräte, und so geht es weiter bis zu den höchsten Entscheidungsgremien. Eine Form der Demokratie, die konsequent von „unten“ nach „oben“ funktioniert. Wichtig dabei ist das „imperative Mandat“, d.h. die Räte tragen im Rat nicht ihrer eigene Meinung vor, sondern geben getreulich die Meinung der Menschen wider, von denen sie gewählt wurden. Und sie stimmen auch in deren Sinne ab. Das „Gewissen“, das (wie im Fall der hessischen Abgeordneten Dagmar Metzger) bekanntlich häufig kapitalismusfreundlich entscheidet, ist damit nicht mehr höchste Richtschnur eines Volksvertreters. Es muss über Wege nachgedacht werden, wie sich eine moderne Demokratie durch Elemente des Rätesystems, insbesondere des imperativen Mandats, inspirieren lassen könnte.
  10. Parteien endlich demokratischer organisieren. In Parteien entwirft meist eine kleine Führungsclique die Richtlinien der Politik. Diese Vorgaben werden dann durch Druck von oben nach unten weitergereicht. Landes- und Kreisverbände werden auf die offizielle Linie eingeschworen, Abweichler diszipliniert. Wer dem Parteichef oder gar dem Kanzlerkandidaten widerspricht, riskiert den Wahlerfolg der Partei und gilt als politischer Paria. Abgeordnete sind somit mehr oder minder Befehlsempfänger der Parteiführung. Die Basis, die dem „Normalbürger“ oft noch näher steht, hat nichts zu sagen. Selbst Parteiaustritte in großer Zahl werden ignoriert, indem man die damit verbundene „Botschaft“ im Sinne der Parteigranden geschickt uminterpretiert. Entscheidungsprozesse müssen auch innerhalb von Parteien wieder stärker von unten nach oben verlaufen. „Urwahlen“ (die Wahl des Parteivorsitzenden durch alle Parteimitglieder) wie 2019, als überraschend Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken gewählt wurden, sollten die Regel sein.
  11. Auch andere Lebensbereiche müssen demokratisiert werden. In der großen Politik werden Entscheidungsprozesse noch immer teilweise demokratisch gelöst. Beim Militär, in Betrieben, in Schulen, in Kirchen herrscht dagegen noch immer weitgehend das „Führerprinzip“. Einer oder wenige entscheiden – die Mehrheit gehorcht. So wird es weithin als selbstverständlich hingenommen, dass in Unternehmen Entscheidungen gegen die Interessen der überwältigenden Mehrheit der davon Betroffenen (der Arbeitnehmer und ihrer Familien) getroffen werden. Man darf zwar maulen, muss sich aber letztlich in das Unvermeidliche fügen. Es kommt jedoch nicht nur darauf an, die Entscheidungen der Unternehmensvorstände, der Bischöfe, der Schulrektorate, der Universitätsleitung usw. kritisieren zu „dürfen“; es geht vielmehr darum, dass deren Entscheidungen, wenn sie unsinnig sind, nicht umgesetzt werden. Warum nicht Schüler über den Lehrplan, Arbeitnehmer über Fusionen mit entscheiden lassen? Bislang ist Demokratie nur ein grober organisatorischer Rahmen, innerhalb dessen sich fast flächendeckend zahllose kleinere diktatorische Strukturen etabliert haben. „Mehr Demokratie wagen“ bedeutet deshalb vor allem Mitbestimmung in immer mehr Lebenslagen.

 

 

 

 

Anzeigen von 13 Kommentaren
  • Freiherr von Anarch
    Antworten
    …die zunehmenden Erkenntnisgewinne sind ja erstaunlich – nur helfen diese nicht, wenn man die Mobilisierung zum Widerstand vermeidet. ( auch weil inzwischen ‘rechtswidrig’ wohl ).

    Damit fällt dieser Erleuchtungsgrad unter Karl Valentins Satz:

    ‘ mögen hätt ich schon wollen aber dürfen habe ich mich nicht getraut…’

    Den Generalstreik (!) muss man zu mobilisieren mithelfen, dazu aufrufen – mehr Volksentscheid geht nicht mehr !

    Alles andere ist Weiterträumen, Erkenntnisse allein bringen keine Veränderungen.

     

     

     

     

     

    • Ute Plass
      Antworten
      Sehr schön, das Erleuchtungssätzchen von Valentin.

      Mit Nasen-Mundschutz-Gehorsam, sprich fürsorglicher Entmündigung bleibt die Erleuchtung wohl aus.  Mag das Revolutionäre in früheren Zeiten am Lösen einer Bahnsteigkarte hängen geblieben sein, so scheint mir, dass es bald  der Impf- oder Immunausweis sein könnte.  🙁

  • Ute Plass
    Antworten
    Danke für diesen ausführlichen Beitrag zur Demokratie-Debatte.

    Die Grünen, die in ihren Gründerjahren oft und viel von  ‘Basisdemokratie’  sprachen, haben mit Einhegung in die vorherrschende parlamentarische Ordnung diese nun auf die lange Bank gesetzt. Umso wichtiger, dass mehr u. echte Demokratie wieder auf die Tagesordnung kommt.

    Auch wenn es (noch) nicht um die radikale Abschaffung von Parteien geht, wie dies Simone Weil einst forderte, lohnt es sich, ihre Überlegungen mit zu bedenken:

    https://antjeschrupp.com/2011/08/17/simone-weils-pladoyer-fur-die-abschaffung-der-politischen-parteien/

    Im Kapitel “Was uns hoffen läßt” vermisse ich die Erwähnung der derzeitigen Proteste, die für Grundrechte-Wahrung auf die Strasse gehen.

    Die Frage „Leben wir eigentlich noch in einer Demokratie?“ wird  auch auf diesen Demonstrationen gestellt.

    Und ja: “Es ist traurig, dass sie gestellt werden muss, aber es macht Hoffnung, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger so gehirngewaschen sind, dass sie die lange Leine, an der man sie hält, nicht einmal mehr bemerken”.

    So hoffe ich, dass sich am 1. August  2020 in Berlin  viele Menschen  einfinden, die für Grund- u. Menschenrechte , sprich  für mehr Demokratie auf die Straße gehen!

     

  • Gerold Flock
    Antworten

    Kritisches Denken.

     

     

    Kritisch Denken ist ein Schritt in die Freiheit.

    Wer beschließt, in Zukunft kritischer, rationaler

    und logischer zu denken, muss sich von seinen

    Vorurteilen und Überzeugungen verabschieden.

    Seine gewachsenen Meinungen zu identifizieren und

    sich von ihnen frei zu machen, ist bereit der erste

    Schritt in die geistige Autonomie, denn kritisch

    denken heißt unabhängig denken, und unabhängig denken

    bedeutet, die Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich

    beschaffen sind.

    Kritisches Denken hängt unmittelbar mit Gewahrsein

    zusammen.

    Je mehr ein Mensch sich der Realität nähert, desto

    klarer und trennschärfer werden sein Blick und sein

    Verständnis für Sachverhalte und und Ereignisse.

    Es ist befreites Denken, weil es keinen vorgefertigten

    Schablonen oder Mustern mehr folgt und sich keinen

    Regeln von Denkschulen oder Ideologien mehr unterwirft.

    Kritisches Denken sieht auch unsere Ängste in einem

    anderen Licht.

    Es operiert in der Gegenwart und es arbeitet mit dem

    Ist-Zustand der Dinge, wie er jetzt ist.

    Wer krtisches Denken praktiziert, wird bald spüren,

    wie sich eine neue, unverkrampfte, realistische

    Beurteilung seiner Sorgen einstellt.

    Kritisches Denken geht über den subjektiven, engen

    Rahmen der eigenen Informationen hinaus und hält nichts

    für feststehend, unwiderruflich oder unüberwindlich,

    nur weil jemand aus eigener Kenntnis nicht weiß, wie

    ein Zustand zu beurteilen ist.

    Neutralität und Objektivität treten beim Betrachten

    eines Problems an die Stelle von Panik, Angst und

    Vorurteil.

    THEO FISCHER – TENDENZEN DES WACHSTUMS – Seite 80.

     

     

     

    Wer sich für kritisches Denken entscheidet, muss sich

    von der rosaroten Brille trennen. Die Gewohnheit, uns

    ängstigende oder nicht zusagende Situationen zu schönen,

    sollte als Fluchtreflex vor der Realität verstanden und

    aufgegeben werden.

    Einer von vielen positiven Nutzeffekten wäre der Zuwachs

    an Klarheit und Durchblick, wenn jemand in Zukunft den

    Mut aufbringt den Wahrheitsgehalt jeder ihm zufließenden

    Information zu untersuchen, ehe er sie gegebenenfalls

    als Entscheidungshilfe verwendet.

    Ein Mensch der kritisch denken gelernt hat, bleibt

    von Falschinformationen und den daraus entstehenden

    Pannen besser verschont als die anderen – dies betrifft

    nicht zuletzt auch die Werbung.

    Insbesondere dieser Wirtschaftszweig spekuliert mehr

    als die Nachrichtenmedien auf die Denkschwäche und

    geistige Trägheit des Publikums.

    Niemals würden Werbetreibende den Leser oder Fernseh-

    zuschauer einen so hochgradigen Schwachsinn servieren,

    solche geistlosen Plattheiten, wenn sie befürchten

    müssten, dass kritisch über ihre Botschaften nachgedacht

    wird.

    Speziell die Fernsehwerbung ist ein signifikantes Dokument

    für den Geisteszustand der Zuschauer. Auf dem Bildschirm

    tauchen blitzschnell Bilder auf und verschwinden wieder.

    Sie suggerieren Luxus, das schöne Leben, gesunde,

    strahlende, junge, erfolgreiche Menschen sogar Katzen

    und Hunde wirken (dank Schlappi) selbstzufriedener als

    unsere eigenen.

    Die Sprache ist infantil, die Produktaussagen oft hart

    am Rande der Legalität.

    THEO FISCHER – TENDENZEN DES WACHSTUMS – Seite 78.

     

    Wohl signalisieren Kriege, Wirtschaftsdebakel, Hungers-

    nöte, Verschwendungssucht und Umweltzerstörung das Vor-

    handensein einer gewissen Denkschwäche, aber die Ursache

    des Übels wurzelt in der Geisteshaltung einer Gesellschaft.

    Der Mensch ist nicht wegen seiner Erbanlagen oder dem

    Aggressionspotenzial seines Stammhirnes zum gefährlichsten,

    zerstörerischsten Lebewesen unseres Planeten geworden –

    das Unheil, das er anrichtet, verdanken wir seinen Über-

    zeugungen!

    Wohin wir blicken, was immer uns an Nachrichten weltweit

    erreicht, überall offenbart sich im Hintergrund der von

    Menschen ausgelösten Ereignisse die Abwesenheit von

    kritischem, intelligentem Denken.

    THEO FISCHER – TENDENZEN DES WACHSTUMS – Seite 77.

     

    Das kritische Denken ist die einzige Waffe und Abwehr,

    die der Mensch gegen die Gefahren im Leben zur Verfügung

    hat. Wer nicht kritisch denken kann, ist in Wirklichkeit

    allen Einflüssen, Suggestionen, allen Irrtümern und

    Lügen ausgesetzt, die verbreitet werden und mit denen er

    vom ersten Tag an indoktriniert wird. Man vermag nicht

    frei zu sein, sich selbst bestimmen und sein Zentrum

    in sich selbst finden, wenn man nicht kritisch denken

    und in einem gewissen Sinne auch zynisch sein kann.

    ERICH FROMM

     

    Einem anderen Leiden des modernen Menschen könnte kritisches

    Denken ebenfalls abhelfen: der Manie, die akute Lebenssituation re-

    gelmäßig nach künftigen Bedrohungen abzufragen. Wir denken darü-

    ber nach, was in naher Zukunft an Missgeschick passie-

    ren könnte und wir schielen in die Vergangenheit, ob sich von dorther

    Gefahren für Sicherheit und Wohlergehen in die Gegenwart einschlei-

    chen könnten.

    Diese gedanklichen Positionsbestimmungen synchron zum Tages-

    geschehen sind eine der Ursachen für für unser glückarmes Dasein.

    Halbbewußt und wie ferngelenkt grübeln wir über verschwom-

    mene Details unserer Lage nach, stimmen zu , lehnen ab, beschließen,

    verwerfen, betrachten, versuchen verzweifelt zu klären, wo es nichts

    zu klären gibt.

    Wie in einer Wäscheschleuder rotieren in unseren Köpfen

    Gedanken und Empfindungen. Weshalb tun wir uns diese Folter

    an? Geschieht es bewusst und freiwillig, weil wir uns einen Nutzen

    davon versprechen oder passiert es uns, ohne dass wir Einfluss darauf

    hätten, geschweige denn, es abstellen könnten? Den Grund zum Grü-

    beln liefert uns die Einsicht, dass unser Leben verworren ist und an

    seiner Wurzel voller Ungewissheiten. Darum halten wir uns gefühls-

    mäßig lieber an die Vergangenheit, denn was vergangen ist, kann sich

    nicht mehr ändern.

    Und weil wir uns so sehr Kontinuität wünschen,

    projizieren unsere Gedanken das vergangene Szenarium voraus in die

    Zukunft. Gleichzeitig ahnen wir aber, dass es keinen Schutz vor Ver-

    änderungen gibt, ergo versuchen wir mit Gedankenexperimenten aus-

    zuknobeln, was das Schicksal künftig an Schikanen und Störungen un-

    seres Seelenfriedens für uns bereithalten könnte. Wie kann nun kriti-

    sches Denken dieses weit verbreitete Übel mildern oder es erträglicher

    machen? Es müsste eine weitere unserer Grundannahmen korrigiert

    werden, nämlich die Zuversicht, dass Sicherheit zu den evolutionären

    Grundrechten des Menschen zählt. Wir müssen zugeben, was wir längst

    argwöhnen – dass sehr wohl Veränderung, Wachstum, Gedeihen und

    Wohlergehen im Konzept des Universums vorgesehen sind, nicht aber

    Sicherheit! Das Universum steht meinem Verlangen nach Sicherheitsgarantien mit

    wahrhaft kosmischer Gleichgültigkeit gegenüber.

    THEO FISCHER – TENDENZEN DES WACHSTUMS – Seite 81-82.

    https://anarchypeaceangel.jimdofree.com/lesestoff-startseite/156-kritisches-denken/

  • Günter Krass
    Antworten
    Treffendes Zitat von McChesney.

    Und ich gebe B. Fricke recht: dem Volk wurde bisher das Mitspracherecht in wesentlich Teilen vorenthalten. Aber es hat es sich – bisher – gefallen lassen, weil es so bequemer war!

    Gelebte Demokratie ist mit Beteiligung, und das heißt: Arbeit verbunden. Aber es bedeutet auch, sich zu verbinden, in Kontakt zu treten – also alles das, was dem Volk ja in letzter Zeit verboten war!

    Wenn ich in den letzten Monaten die alles akzeptierenden (auch den offensichtlichsten Schwachsinn) Menschen gesehen habe, dann habe ich allerdings so meine Zweifel, wie viele Bürger willens und in der Lage wären, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen.

    Ich denke, da liegt noch ein weiter Weg vor uns…

  • Bernhard Trautvetter
    Antworten
    Danke, der Text ist hilfreich für das Verständnis der Demokratie, die Partizipation der Menschen an der Regelung ihrer Angelegenheiten ist. Das ist weit mehr als Beteiligung an Wahlen. Direkte Demokratie in einem Staat, in dem einige wenige Medienkonzerne und Medienpolitker*innen in Besitz und Kontrolle über die für die Meinungsbildung zentralen Medien sind, ist eine Ablenkung von den wahren Machtverhältnissen. Ich kann ein Kreuz machen, einige wenige können sich eine Redaktion und Fraktionsspitze kaufen. Nach dem Musikbarden Frank Zappa ist die Politik die Unterhaltungsindustrie der (Rüstungs) Industrie.

     

    • c.g.
      Antworten
      hallo herr krass,

      die meisten arbeiten viel zu lange (sowohl täglich als auch lebensarbeitszeit), verdienen viel zu wenig und haben deshalb zu wenig zeit für engagement und bildung.

      bayern gesteht seinen arbeitnehmern ja noch nicht mal bildungsurlaub zu.

      das könnte auch anders sein.

      zumal in der historie, auf die die bayrische verfassung zurückgeht, mit kurt eisner und der sog. rätedemokratie, geschichtliche erfahrungen zugrundeliegen, die wir längst hätten viel stärker aufgreifen können.

      dass der einzelne bürger sich so wenig regt und kümmert, ist politisch gewollt.

      es gibt aber insgesamt zunehmend demokratiebewegte menschen, allerdings in unterschiedlichsten gruppierungen und mit unterschiedlichem hintergrund, die gemeinsam eine enorme bewegung gestalten können, wenn sie sich vereinen.

      das “teile und herrsche”greift immer weniger. ich bin da durchaus optimistisch.

      ich denke mir nur gleichzeitig, dass wir uns etwas beeilen sollten, angesichts der geschütze, die von den wenigen, die meinen, im namen der demokratie jede sauerei mit uns machen zu können, aufgefahren werden.

      es ist an der zeit.

       

       

       

  • ert_ertrus
    Antworten
    Nur geliebte Demokratie kann gelebte werden. Und an dieser Liebe scheint es unserem Volk von Untertanen seit jeher gemangelt zu haben.
    • Ute Plass
      Antworten
      Die “Liebe zur Demokratie” dürfte mit Aufklärung über Herrschaftsstrategien zunehmen, doch leider wird kritisches Denken viel zu wenig an unseren Bildungsreinrichtungen gelehrt. Wenn die Lust am Zweifel und Hinterfragen zu den Hauptfächern im Bildungskanon unserer Schulen gehören würde, gäbe es nicht das brave Hinnehmen regierungsamtlich verordneter Corona-Maßnahmen. Zum Glück gibt es aber auch  junge Menschen, die zeigen wie Selberdenken gehen kann: https://www.youtube.com/watch?v=kqVL7KR-Qyk

       

       

       

  • c.g.
    Antworten
    ich habe das dumpfe gefühl, dass es das, wenn ich mich nicht spute, gewesen sein mag, mit “mehr demokratie wagen”.

    ich hoffe darüber hinaus, dass dieses dumpfe gefühl, nicht nur für mich, anlass zum handeln sein wird.

    ich hoffe, mit mir und vielen anderen, werden WIR zahlreich, friedlich und laut.

    ich hoffe, dass WIR VIELEN am 1.8.2020 NICHT NUR IN BERLIN für die sofortige wiedereinsetzung der grundrechte und für eine sofortige überprüfung aller corona-maßnahmen auf die straße gehen.

    und ich hoffe, dass diejenigen, denen die demokratie eher lästig, unberechenbar und gar gefährlich für die eigenen interessen erscheint – seien sie in der politik, in den unternehmen, den institutionen oder sonstwo – endlich begreifen, dass sich die würde des menschen einzig und allein durch die einhaltung von gesetzlichen gleichheitsrechten schützen und aufrechterhalten lässt.

    die von den mächtigen in ihrem sinne instrumentalisierten blacklivesmatter- und berlin-gegen-nazis-demos  oder ähnliche aktionen haben bislang bestenfalls alibizwecken gedient, weil sie nichts an den konkreten lebens- und arbeitsbedingungen der menschen ändern.

    dass sozialdemokraten, grüne und die partei die linke mich, was meinegrund- und freiheitsrechte angeht, verraten haben, kann ich verschmerzen.

    und dass die afd, auch wenn sie im moment als einzige partei ihre stimme gegen die corona-maßnahmen erhebt, in wirklichkeit doch nur als verlängerter arm der brandstifter fungiert, dürfte mittlerweile auch jedem einigermaßen politisch bewanderten, deutlich geworden sein.

    deshalb setze ich meine hoffnungen, in bezug auf mitgestaltung zu einer direkten demokratie, auf eine doppelstrategie als parlamentarisch wirkende partei WIR2020 und gleichzeitig als außerparlamentarische vielfältige bewegung.

    berlin ist überall!

  • Karl Heinz Pongratz
    Antworten
    Sie beschreiben hier die Demokratie der Zukunft wie in Großbritannien oder Österreich in der sich Volksabstimmungen genauso einfach manipulieren lassen und oberflächlich oder populistisch wie Wahlen sind.

    Die Zukunft sind bestenfalls die partizipative und deliberative Demokratie, was keinesfalls dasselbe wie die direkte Demokratie wie zB in der Schweiz ist. 

    Warum ich gegen Volksentscheide bin

    https://wyriwif.wordpress.com/2017/10/17/warum-ich-gegen-volksentscheide-bin-obwohl-ich-mir-deutlich-mehr-politische-mitbestimmung-wuensche/

    Demokratie ist Selbstkontrolle – Fehlende Demokratie ist fehlende Selbstkontrolle

    https://www.youtube.com/watch?v=aG7FT2nvMJI

    Gute Bedingungen für Politik

    https://wyriwif.wordpress.com/2018/11/04/gute-bedingungen-fuer-politik/

    Wie Losverfahren und Bürgerversammlungen die Politik wieder handlungsfähig machen

    https://wyriwif.wordpress.com/2018/07/21/wie-losverfahren-und-buergerversammlungen-die-politik-wieder-handlungsfaehig-machen/

    Bürgerpanels

    https://citizensassemblies.org/download/

    Ein Plädoyer für die Erneuerung der Demokratie (Buch, Philippe Narval)

    https://www.styriabooks.at/die-freundliche-revolution

  • Martin Schneider
    Antworten
    Der Artikel ist sehr interessant, lässt aber im 10 Punkte-Programm den wichtigsten Lösungsansatz außen vor. Das muss man leider stark kritisieren, denn er ist eigentlich inzwischen in aller Munde: Bürger*innenräte = Zufallsbürger = Losverfahren.

    Mein Vorkommentartor hat schon etwas darauf hingewiesen, ich möchte es konkretsieren:

    • Problem: Volksentscheide sind Entscheidungen vieler schlecht informierter Leute; Das ist weniger ein Problem, wenn solche selten stattfinden und ein wirklich starker Diskurs stattfindet. In einer Demokratie ist das Volk aber permanent Entscheider zu Millionen Themen, dann funktioniert das nicht mehr. Bürgerentscheide sind daher ein selten nutzbares Werkzeug direkter Demokratie zu ausgewählten Themen.
    • Bürger*innenräte dagegen sind wenige super informierte Leute: Die niedrige Anzahl der Gelosten, welche aber groß genug ist, um das Volk repräsentativ wiederzugeben, erlaubt:
      • Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse auf höchstem Niveau, die der Effizienz heutiger Parlamente in nichts nachstehen
      • sie können jährlich tausendfach stattfinden, ohne den Einzelnen zu überfordern
      • jede(r) wird in seinem Leben z.B. 20 mal Teilnehmer von Bürger*innenräte sein; super entspannte aber super selbstwirksame Teilhabe = echte Demokratie
    • Konsensverfahren und geschulte Großgruppenmoderation (insb. Verhindern von Meinungsführerschaften einzelner Teilnehmer) sind zwingende Voraussetzungen für den Erfolg!
    • siehe 1) >> David van Reybrouck “Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist”. Der Titel ist erst gemeint!, denn
    • siehe 2) >> Aristoteles Verfassungskreislauf: Unser heutiges westliches politisches System ist keine Demokratie im eigentlichen Sinne, sondern eine Aristokratie mit demokratischem Elementen mit Hang zur Oligarchie. Dass wir heute von Demokratie sprechen ist ein Missverständnis seit kurz nach der französischen Revolution bzw. eine bewusste Mogelpackung aus verschiedenen individuellen Gründen zum Machterhalt der jeweiligen “Eliten”
  • Carlo
    Antworten
    Für mich war Demokratie immer Teil des Problems und nie die Lösung. Schon gar nicht im Zusammenspiel mit Zentralismus, Machthierarchien und Gewaltmonopol. Die Natur zeigt uns, dass Strukturen wie neuronale Netze (Heterarchie) ohne zentrale Steuerung und Machtkonzentration und ohne Gewaltmonopol erfolgreich und lebensfreundlich agieren können.

    Eine Geldreform bringt nichts, wenn man nicht gleichzeitig darauf drängt, dass Grund und Boden kein Wirtschaftsgut ist und sein kann, denn die moderne Geldschöpfung basiert auf dem privaten Eigentum an Grund und Boden als einzige »reale« Sicherheit für die Banken als Geldschöpfer. Der Planet und seine Bewohner dürfen selbst keine Wirtschaftsgüter sein, wenn man eine menschen- und naturfreundliche Gesellschaft anstrebt.

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