Die Kneipp-Formel
Fünf und eine Strategie für ein gesundes Leben. “Wem es gelänge, die Menschen zur Einfachheit, Natürlichkeit und vernünftigen Lebensweise zurückzuführen, der hätte das Höchste geleistet – nämlich die soziale Frage gelöst.“ Sebastian Kneipp, der Wasserdoktor aus Bad Wörishofen, ist zu einem Teil der Alltagskultur geworden. Er ist Urheber eines eigenen Tätigkeitsworts („kneippen“) sowie einer Produktgruppe für Badezusätze und Hautcremes. Weniger bekannt ist die unprätentiöse Lebensweisheit des Priesters und Heilers, der zum Urvater der Prinzipien „Ganzheitlichkeit“, „Prävention“, „Immunstimulanz“ und „Selbsthilfe“ wurde. Wer sich nur gelegentlich kalt abduscht, mag das vermeintlich altbackene Kneippsche System unterschätzen; wer jedoch alle Facetten seiner Gesundheitsphilosophie konsequent umsetzt, könnte mit Heilkräutern, Wasser & Co. sein blaues Wunder erleben. (Roland Rottenfußer)
Als Kind plantschte ich gern mit den Füßen in kaltem Wasser, um sie danach mit dem Handtuch warm zu rubbeln. An unserem Urlaubsort im Bayerischen Wald gab es am Wegesrand manchmal solche „Kneipp-Anlagen“ mit Becken zum Wassertreten. Warum die so hießen, erfuhr ich erst, als ich einen alten Schwarzweiß-Spielfilm anschaute: „Sebastian Kneipp: Der Wasserdoktor“, gespielt von dem knuffigen Darsteller Carl Wery. Resolut und hemdsärmelig wurde der heilkundige Geistliche dort dargestellt, aber auch voller Güte, den Menschen und ihren Leiden zugewandt.
Ich nahm „Kneippen“ lange Zeit nicht allzu ernst. Die Methode erschien so langweilig und altbacken wie Semmelkuren nach Franz-Xaver Mayr. Bis ich auf einer Wanderung in den Allgäuer Alpen, in luftiger Höhe zwischen Alpenrosen und Arnika, mit meiner Frau einmal über die grundlegenden „Säulen“ unserer Gesunderhaltung sprach. Wir bewegten uns viel an frischer Luft, wir aßen in unserer Frühstückspension Vollkornsemmeln und veganen Brotaufstrich aus Oliven und wir besuchten bei Regenwetter gern die örtliche Sauma – den Sprung ins kalte Tauchbecken inbegriffen. Außerdem betrieb ich in letzter Zeit einen „Kult“, um Kräuter. Ich war überzeugt, dass mich eine selbst fabrizierte Mischung aus Johanniskraut, Thymian und Lindenblüte ohne Erkältung und seelische Tiefs über den Winter gebracht hatte. Nur in einem Punkt, stellten wir fest, verhielten wir uns gesundheitlich nicht optimal: Wir hatten zu weniger „Rhythmus“ im Leben. Freizeit und Arbeit waren nicht klar getrennt, u.a. wegen exzessiver Nutzung von Internet und Emailfach außerhalb der Arbeitszeiten.
Die „Big Five“
Ohne es zunächst zu bemerken, waren wir bei der Methode Sebastian Kneipps gelandet. Diese beruhte, ähnlich wie der Islam, auf fünf Säulen:
1. Wasseranwendungen
2. Ernährung
3. Bewegung
4. Kräuterheilkunde
5. Ordnungstherapie
Die ersten vier Methoden wandten wir ohnehin an, wenn auch „frei“ und nicht exakt nach den Vorgaben Kneipps; die fünfte war quasi unsere Schwachstelle. Während Ernährung und Bewegung unzählige Gesundheitsratgeber füllten, fast egal, ob es darin um Kreislauf-, Darm- oder Rückenerkrankungen ging, wird die Kombination mit Kräutern, Wasseranwendung und „Lebensordnung“ bis heute nur selten empfohlen und konsequent angewandt.
Ich begann, die Therapiemethoden und Ideen Sebastian Kneipps genauer zu studieren und stieß dabei auf vieles, das ich mir zuvor schon selbst erarbeitet hatte – daneben auch auf einiges, was ich noch besser machen konnte. Der rührige Gottesmann (1821-1897) konnte als einer der Vorläufer der ganzheitlichen Medizin gelten, ebenso wie der gesundheitlichen Selbsthilfe und des Prinzips Prävention. Wer vorbeugt, hat gesundheitlich später nicht das Nachsehen. Und nicht nur „an apple a day“ – auch bestimmte regelmäßig durchgeführte Maßnahmen halten den Doktor auf Abstand. „Wenn die Menschen nur halb so viel Sorgfalt darauf verwenden würden, gesund zu bleiben und verständig zu leben, wie sie heute darauf verwenden, um krank zu werden, die Hälfte ihrer Krankheiten bliebe ihnen erspart“, sagte Kneipp.
Heilen durch „Abhärtung“
Sebastian Kneipp verbrachte eine harte Jugend in „einfachem“ Elternhaus und erkämpfte gegen Widerstände sein Theologiestudium. Er erkrankte an Lungentuberkulose, Ärzte erklärten ihn für unheilbar krank. Zufällig geriet Sebastian an ein Buch über Wasserheilkunde und nahm daraufhin im Winter (!) Tauchbäder in der Donau. Er wurde gesund und konnte sein Studium abschließen. Währenddessen „behandelte“ er Kommilitonen erfolgreich auf ähnlich Weise. Als er dann Priester geworden war, gelang es ihm, einige Todkranke zu heilen, zu denen er wegen der letzten Ölung gerufen worden war. Seine kirchlichen Vorgesetzten missbilligten diese „Nebentätigkeit“ ebenso wie etablierte Ärzte. Infolgedessen wurde Kneipp ins Dominikanerkloster in Bad Wörishofen versetzt, jenem Ort, der bis heute mit seinem Namen verbunden ist. Wollte man den widerborstigen Pfarrer dadurch ausschalten, so ging der Schuss wohl nach hinten los, denn Sebastian Kneipp hatte im Kloster genug Muße, um seine naturheilkundliches System zu vollenden. Er schrieb zwei Bücher „Meine Wasserkur“ und „So sollt ihr leben“, die heute als Klassiker der eigenverantwortlichen Patienten-Selbsthilfe gelten.
Sieht man sich an, welche sozialen und technischen Veränderungen seit Kneipps Lebenszeit stattgefunden haben, so kommt man zu dem Schluss: Diese Heil- und Vorsorgemethode ist nötiger denn je. Manche Bedingungen haben sich für „Kneippwillige“ seither verbessert – etwa die gute Verfügbarkeit von Saunaanlagen in den meisten Regionen; in anderer Hinsicht ist eine ganzheitliche Gesunderhaltung jedoch schwieriger geworden: Mehr degenerierte, kraftlose und vergiftete Lebensmitteln – darunter ein im 19. Jh. noch unbekanntes Übermaß an Fleisch – landet auf unseren Tellern. Verweichlichung, Bewegungsmangel, eine sitzende Lebensweise bis hin zu Extremfällen der Medienverwahrlosung haben sich ausgebreitet. Die Lebensordnung ist durch Dauerstress und Verfügbarkeitsdruck grundlegend aus dem Gleichgewicht geraten. Das Wissen um den Segen der Kräuter wenigstens scheint, wie neuere Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zeigen, ein bisschen wiederzukommen.
Kneippen für Anfänger
Im Folgenden beschreibe ich die fünf „Säulen“ der Kneippsche Therapie kurz und unter Betonung zeitgemäßer Aspekte:
Wasseranwendungen
„Abhärtung“ steht heute in einem eher schlechten Ruf. Es klingt nach Schwarzer Pädagogik und gequälten Internats-Knaben. Dabei ist offensichtlich, dass Verweichlichung, speziell durch ein Übermaß geistiger Arbeit und unverhältnismäßigen Medienkonsum, ein Grundübel unserer Zeit ist. „Resilienz“ (Widerstandsfähigkeit) hilft, Wechselfälle des Wetters wie auch des Schicksals besser abzufedern. Dies betrifft auch die Vorbeugung seelischer Leiden. Sebastian Kneipp sagte: „Den Abgehärteten greift nichts an, den Verweichlichten bringt jedes Blatt Papier in Aufregung. Ein abgehärteter Körper besitzt euch den größeren Schutz vor den Krankheiten der Seele.“ Dies sollte nicht rigide oder „masochistisch“ praktiziert werden, sondern als eine Form des präventiven Selbstmitgefühls. Denn wer sich künftiges Leid zu ersparen weiß, behandelt sich im Grunde „weich“ – durch begrenzte Härte. Hierzu ist es aber oft nötig, einen ersten Widerwillen zu überwinden – der buchstäbliche Sprung ins kalte Wasser, wonach man sich herrlich fühlt.
Wichtig sind zunächst regelmäßige wechselnde Temperaturreize (heiß/kalt). Dafür empfiehlt sich der regelmäßige Besuch der Sauna, der auch dem Training der Blutgefäße und der Entgiftung dient. Beim Saunen sind auch einige der typischen Kneippschen Güsse möglich. Man führe den Kaltwasserschlauch z.B. an Armen und Beinen langsam von unten nach oben und auf der Rückseite wieder zurück. Erst dann begieße man auch Bauch, Schultern und Rücken oder nutze das Tauchbecken. Häufige kürzere Aufenthalte in einer billigen Sauna bringen mehr als seltene lange in einer teuren – wegen des Langzeit-Trainingseffekts. Wem das regelmäßige Saunen nicht möglich ist, der sollte sich nach jedem warmen Duschen zumindest die Extremitäten kalt abbrausen. Als Erkältungsprophylaxe ist dies Gold wert. Kneippsche Wasseranwendungen sind jedoch ein weiteres Feld und umfassen zahlreiche Güsse, Bäder und Waschungen, sowie Wickel und Packung, daneben Freiluft-Aktivitäten wie Wasser-, Schnee- und Tautreten. Es ist empfehlenswert, sich hierüber in einem ausführlichen Kneipp-Buch zu informieren (siehe Anhang) und bei vorhandenen gesundheitlichen Störungen (z.B. Herz-Kreislauf) mit einem Arzt abzustimmen.
Heilkräuter
Es ist eine kaum zu übertreffende Bereicherung für Leib und Seele, sich mit Pflanzen anzufreunden. Die meisten wissen nur sporadisch darüber Bescheid und kennen gerade einmal den Kamillentee oder Tomaten mit Mozzarella. Dazu schrieb Pfarrer Kneipp: „Gegen das aber, was man im Überfluss hat, wird man gleichgültig; daher kommt es auch, dass viele hundert Pflanzen und Kräuter für wertlose Unkräuter gehalten und mit den Füßen zertreten werden, anstatt dass man sie beachtet, bewundert und gebraucht. Kaum jemals wird die Kräuterkunde zu einer regelmäßig ausgeübten, lebensbegleitenden „Kunst“ Diese umfasst u.a.
– den ästhetischen Gewinn beim Betrachten und Riechen von Pflanzen. Die Freude, wenn die Aufzucht von Blumen in Haus und Garten gelingt.
– Das Sammeln und Verzehren frischer Kräuter als Würze zum Verfeinern von Speisen und auch im Hinblick auf ihre gesundheitlich wohltuende Wirkung. Man denke etwa an den im Frühling reichlich vorhandenen Bärlauch oder den Oregano (Dost) im August. Es lohnt sich, sich über essbare Kräuter in der näheren Umgebung zu informieren.
– Heilkräuter können je nach Bedürfnissen, Vorlieben und vorhandenen Gesundheitsstörungen zu einem „Haustee“ zusammengestellt werden, dessen Zusammensetzung wechseln kann. Ich habe sowohl Weidenröschen als auch Mädesüß beim Spazierengehen als „meine“ Kräuter erkannt, nachdem mich zunächst deren Schönheit und Duft angesprochen hatten. Erst danach stellte ich durch Internet-Recherchen fest, dass ich beide für meine Wehwehchen gut gebrauchen konnte: Entzündungen (Weidenröschen) bzw. Grippe/Kopfschmerzen (Mädesüß). Dazu kam der im Frühling herrlich blühende Weißdorn, der das „alternde“ Herz stärkt. Für jeden wird die ideale Kräutermischung jedoch anders aussehen. Wichtig ist die Beharrlichkeit in der Anwendung.
Bewegung
Entscheidend ist ausgewogene Bewegung, bei der alle Körperteile und Muskelgruppen gefördert werden. Keine dicken Jogging-Wadeln bei schlaffem Restkörper – hier sollte ein Gymnastikprogramm und ein leichtes Krafttraining gegensteuern. Ohne Übertreibung und Hochleistungssportler-Ambitionen sollten Herz und Kreislauf, sich langsam steigernd, trainiert werden, sollte Übergewicht abgebaut werden. Jede Gelegenheit, im Alltag möglichst vielseitigen Bewegungen durchzuführen, kann genutzt werden (Treppensteigen, Bücken, Tragen…)
Ernährung
„Die Nahrung ist nur dann zuträglich und gesund, wenn sie der Natur des Menschen zuträglich ist und von ihr verarbeitet wird“, schreib Kneipp. Und es klingt sehr modern, was er in ungnädigem Tonfall an die Adresse der Lebensmittelhersteller sagte: „Mörder bekommen lebenslänglich; Nahrungsmittelfälscher sollten die gleiche Strafe bekommen – sie sind indirekte Mörder. Mancher stirbt darum, ohne dass man die eigentliche Ursache kennt.“ Heute gibt es so viele Lebensmitteltipps und diesbezügliche „Schulen“, dass man leicht die Grundlinien einer gesunden Ernährung aus den Augen verliert: einfach, maßvoll, ausgewogen, vollwertig, mit Betonung auf viel Gemüse, Obst und Getreide. Auch die Bedeutung von Ballaststoffen erkannte Kneipp früh. Und er warnte zu viel Fleisch und Wurst, der Ernährungsweise reicher Städter in seinem Jahrhundert. Dies erhöhe die Entzündungsbereitschaft des Körpers.
Ordnungstherapie
„Ordnung“ gilt als die Spießer-Vokabel schlechthin. Wer aber das folgende Zitat von Sebastian Kneipp liest, bekommt eine Ahnung davon, wie aktuell und wie weise auch diese Methode ist: „Kaum irgendein Umstand kann schädlicher auf die Gesundheit wirken als die Lebensweise unserer Tage: ein fieberhaftes Hasten und Drängen aller im Kampfe um Erwerb und sichere Existenz. Es muss das Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Lebensweise und dem Verbrauch an Nervenkraft. Haben viele nicht Gelegenheit zur Erhaltung und Vermehrung ihrer Kräfte, so ist es notwendig, dass wenigstens zeitweilig alle Teile des Körpers geübt und in Bewegung gesetzt werden.“ Als Beichtvater betrachtete sich Kneipp immer auch als Seelenarzt. „Ganzheitlich“ würde man heute dazu sagen. Die wichtigsten bis heute relevanten Grundsätze der Ordungstherapie sind:
– Ausgewogener Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe, Arbeit und Freizeit, Wachen und Schlaf. Dieser Aspekt wird durch das moderne Berufsleben und die technikabhängige Lebensweise, die unseren Geist auf Dauer-Stand-by hält, besonders erschwert.
– Das rechte Maß in allen Dingen, einschließlich der Ernährung und des Medienkonsums. Der Wasserdoktor war auch ein früher Burnout-Doktor.
– Eine sinnvolle Lebensplanung, die auch geordnete Familienverhältnisse umfasst (nicht immer leicht).
– Ein Stück Kontrolle über die eigenen Gemütsbewegungen, bei denen Ausgeglichenheit und Freude dominieren sollten. Es ist auch darauf zu achten, welche Einflüsse man an sich heranlässt (man denke etwa an ein Übermaß an schlechten Nachrichten, Horrorfilmen usw).
Da bestimmte gesellschaftliche Grundbedingungen, etwa die Unsicherheit im Arbeitsleben und die hohe Fluktuation auf dem „Beziehungsmarkt“ der Lebensordnung entgegenstehen, ist es besonders wichtig, gegenzusteuern. Moderne Entspannungsmethoden wie Meditation, Yoga oder Autogenes Training (zu Zeiten Kneipps noch nicht bekannt) können dabei helfen.
Gottvertrauen: die sechste Säule
Nicht ins Kneippsche System integriert ist eine religiöse Welthaltung. Diesen Aspekt hat Sebastian Kneipp – für einen Pfarrer – angenehm unaufdringlich vertreten. Das macht sein System auch für nüchterne und irreligiöse Menschen bis heute gut akzeptabel. Man muss das Geborgenheit spendende Vertrauen in eine höhere Macht aber beim Wasserdoktor immer im Hinterkopf behalten. „Wie viele Leute findet man im heutigen Leben, die, solange ihre Kräfte reichten, nur auf ihr Geschäft versessen waren, aber an keinen Gott, an keine Religion dachten. Ihren Frieden, ihr Glück suchten sie nur im Zeitlichen; jetzt sind ihre Kräfte erlahmt, sie verfallen in Trübsinn, arten zu Neurasthenikern aus.“ Gott erschafft und umschließt nach Kneipp gleichsam die anderen Therapieformen. Er schuf den menschlichen Körper in bewundernswert funktionstüchtiger Weise. Er erschuf das Wasser, die Kräuter, die Nahrungsmittel, und auch die ideale ausgleichende Lebensordnung ist sein Werk. Dabei war der Glaube des rührigen Priesters immer von handfest lebenspraktischer Art, ohne Fanatismus und Halleluja-Getue. „Not lehrt beten – und seinen Verstand gebrauchen“, ist einer seiner Aussprüche. Das wirkt ähnlich wohltuend wie der islamische Rat „Vertraue Allah, aber binde dein Kamel an“. Denn der Wert eines Glaubens bemisst sich ohnehin nicht so sehr an den Theorien eines Menschen – vielmehr daran, was sie in ihrem Leben für andere erreicht haben. Im Fall von Sebastian Kneipp war dies eine Menge.
Buchtipps:
Uehleke/ Hentschel: Das große Kneipp-Gesundheitsbuch, Trias Verlag, 208 S., € 17,99
Sebastian Kneipp: Meine Wasserkur/ So sollt ihr leben (in einem Band), Trias Verlag, 512 S., € 14,95