Die neue Umsonst-Kultur

 In FEATURED, Roland Rottenfußer, Wirtschaft

Auf dem Karlshof in Brandenburg kann sich jeder gratis Kartoffelsäcke abholen. Der Künstler Peter Frank betreibt in Weilheim/Oberbayern eine «Freie Küche», in der er umsonst oder gegen Spenden Mittagessen kocht. Nur zwei Beispiele von vielen. Vielleicht sind Regionalgeld und Tauschkreise nur Übergangsphänomene auf dem Weg zu einer viel weiter greifenden Vision: einer Welt ohne Geld. Roland Rottenfusser

 

Es ist die kühnste Idee überhaupt – und wohl diejenige, die kurzfristig am schwersten umsetzbar ist. Brauchen wir überhaupt Geld? Der anarchistische Theoretiker Peter Kropotkin entwarf schon Ende des 19. Jahrhunderts eine Ökonomie nach dem Motto „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Es gibt viele Wirtschaftstheorien, aber ein Grundsatz ist allen gemeinsam: Für eine Leistung darf man ein angemessene Gegenleistung erwarten: in Geld oder Tauschwert. Das klingt gerecht, hat aber den Nachteil, dass überall gezählt und geschachert wird. Geld erhält eine übermäßige Bedeutung, und wer sich (vielleicht auch aus Not) etwas umsonst nimmt, wird kriminalisiert.

Anders auf dem Karlshof in Brandenburg. Dort kann sich jeder beim „Kartoffelcafé“ 12-Kilo-Säcke abholen – umsonst, und ohne dass er seine Bedürftigkeit erklären muss. Das ganze nennt sich „Nichtkommerzielle Landwirtschaft“ (NKL) oder „Freie solidarische Kooperation“. In der engen Definition von Eigentum sehen die Aktivisten eine Ursache für „Unterdrückung, Ausbeutung und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlage“. Der Bibliothekswissenschaftler Peter Just (30) betrachtet sich als Wegbereiter einer neuen, bedürfnisorientierten Wirtschaftsweise: „Gratiswirtschaft“. In einer Übergangsphase werden die Verschenkaktionen durch Spenden finanziert. Längerfristig soll die Arbeit der Kartoffelanbauer schlicht dadurch ausgeglichen werden, dass die Landwirte ihre Seife, Kleidung oder Möbelstücke woanders mitnehmen – ebenfalls umsonst.

Auch Umsonst-Restaurants gibt es: Der US-amerikanische Zen-Lehrer Bernie Glassman hat eines gegründet: für Obdachlose und Menschen in sozialer Notlage. Die Essensausgabe ist eine von vielen Projekten im Rahmen der New Yorker Greyston Bakery, eines sozialen Backwarenbetriebs, der Personen in „prekärer“ Lebenslage Arbeit, Wohnung und Verpflegung vermittelt. Glasman versteht sein Unternehmen als aktivierende Sozialfürsorge und zugleich als höchst spirituell. Die enge Verbindung zwischen Zen-Unterweisung und der Zubereitung von Essen machte er durch die Titelwahl seines Buchs deutlich: „Anweisungen für den Koch“. Man muss allerdings nicht bis New York anreisen, um ein weiteres beeindruckendes Beispiel für die neue Umsonst-Kultur zu finden. In der „Freien Küche“ in Weilheim kocht Peter Frank ehrenamtlich für jeden, der seine Dienste in Anspruch nehmen möchte – ohne einen Nachweis zu verlangen, dass der Betreffende auch „arm genug“ ist.

An jedem Werktag kommt Uwe* in die Cantina, Peter Franks Miniatur-Restaurant am Stadtplatz. Uwe lässt sich eine gute Mahlzeit servieren, z.B. eine Gemüsesuppe. Er plaudert mit den anderen Gästen, steht auf und geht. Lange half er nie beim Abwasch, bezahlte keinen Cent – und dies seit es die Freie Küche gab (Dezember 2011). Wie denkt Peter Frank über seinen unkooperativen Dauergast? „Ich bin ihm dankbar“, sagt er. „Durch Uwe habe ich Erkenntnisse über die wahre Natur des Lebens gewonnen. Da ist jemand immer da und nimmt das Angebot in Anspruch. Damit ermöglicht er mir zu tun, was ich tun will: Kochen und Gastgeber sein.“

Die Cantina ist nur ein Raum, nicht größer als ein Wohnzimmer. Eine Küchennische und ein langer Tisch, an dem sich ein paar Gäste versammeln. Außer Uwe sind auch Georgi da, eine Frau mit ungarischen Wurzeln, und Ulrich, ein seriös wirkender Anwalt mit Interesse an Spiritualität. Sofort ist man im Gespräch, und Georgi bietet an, für uns Altkleider zum Second Hand-Shop zu bringen. Solche Vernetzungsversuche liegen durchaus in Peter Franks Absicht. Er möchte Menschen zusammenbringen, an der Erschaffung einer Kultur mitwirken, die auf Wertschätzung und Freigiebigkeit fußt. Die Anonymität professioneller Restaurants hat in der Cantina nichts zu suchen. Die meisten werfen einen kleinen Obolus in das Riesensparschwein am Eingang: jeder so viel er kann.

Achtsamkeit, ja Stille gehören zu den Idealen dieses Platzes, wie ein Flyer auf dem Tisch verrät. Lebhafte Gespräche und Stille sind für Peter kein Widerspruch. „Stille ist nicht einfach die Abwesenheit von Worten, sondern eine innere Verfassung: Weite. Stille kann auch da sein, wenn jemand spricht.“ Die meisten Gäste fand Peter Frank bisher im Kreis der Gleichgesinnten. Nur wenige sind in einer sozialen Notlage, so dass sie froh sind, ihr Essen umsonst zu bekommen. „Es gibt schon viele von uns“, sagt der Küchenchef. „Wir müssen uns nur besser kennen lernen und zusammen arbeiten“. Wen meint Peter mit „uns“? „Selbstermächtigte Menschen, die wissen, dass sie selbst Schöpfer sind, um eine Kultur der Liebe und des Friedens zu etablieren.“

Peters Ideale erscheinen hoch fliegend, entscheidend ist aber, dass er sie mit Leben füllt: Tag für Tag. „Die meisten fragen zuerst: ‚Wie kannst du dir das überhaupt leisten?’ Kaum einer sagt: ‚Wie schön, dass du das machst!’ Ich bin emotional fast verhungert.“ Für Peter ein Zeichen dafür, wie stark wir in Kriterien von Leistung und Gegenleistung denken. Tatsächlich ist Peters „Konzept“ vor allem ein unerschütterliches Vertrauen in das Leben. Seine Räume mitten im Stadtzentrum wurden ihm vom Vermieter umsonst überlassen. Peter ist von Haus aus Künstler, er gestaltete Steinskulpturen in der Landschaft. Außerdem beschäftigt er sich mit Geomantie, gibt Seminare. Ein Kunstwerk ist für ihn aber auch die Cantina: „Menschen als Teil einer lebendigen Skulptur“.

Bedingungsloses Schenken ist seine Grundidee. Die herkömmliche Ökonomie beruht auf dem Prinzip: „Ich muss mich verkaufen, dafür kann ich mir etwas kaufen.“ Dabei werden wir von Kindesbeinen an reich beschenkt: Zuerst von unseren Eltern und von der Natur, die uns Wasser, Luft, Boden und reichlich Früchte spendet. „Wenn es aber um Umweltschutz geht, darum, der Natur auch mal was zurückzugeben, heißt es: Dafür ist kein Geld da“, kritisiert Peter. Selbst Regionalgeld und Tauschkreise gehen dem Visionär nicht weit genug. „Da schwingt noch etwas Bedingtes mit: Gibst du mir was, gebe ich dir was.“ Die Grundlage einer neuen Zeit muss eine andere sein: „Unsere Frage sollte nicht sein: ‚Kann ich es mir leisten?’, sondern: ‚Wie ist es schön?’“ Wie erhalten meine Arbeit und ihre Ergebnisse ihre höchste und vollendete Form?

Peters Traum wäre ein Netzwerk von Projekten, die auf dem Schenken basieren und sich gegenseitig tragen, so dass Geld zunehmend überflüssig wird. Solange dies nicht Realität ist, steht Peter Frank, der Philosoph des Schenkens, fast allein auf weiter Flur. Dauergast Uwe wird gewiss wiederkommen. Und auch ich werde wiederkommen, zumal Kürbissuppe und Mangoreis bestens gemundet haben. Verdauen muss ich auch erst einmal Peters Ideen. Sie wirken ansteckend – wie Zündfunken einer neuen Zeit.

* Name geändert

Anzeigen von 2 Kommentaren
  • Hope
    Antworten
    Die Ökonomie kennt zwei Prinzipien: Das Minimalprinzip und Maximalprinzip.

    Nie war es in meinem Leben Gebot und in meinem Sinne, diese Prinzipien zur Ausbeutung anderer Menschen, die Hilfe suchten und meine Arbeit wertschätzten, zu missbrauchen.

    Geben ohne Gegenleistung wenn man kann, und das von Herzen. Danke für diesen Artikel

  • c.w.
    Antworten
    zündfunken einer neuen zeit wirken nicht nur ansteckend, sie wirken wie ein licht am ende des tunnels und schaffen sinn im wahnsinn, in dem es gilt, dem “great takeover”, nicht nur lokal verankerte sondern international vernetzte und kooperierende initiativen entgegen zu setzen.

    hier sehe ich sehr viel raum für kreativität und experimentierfreudigkeit, personen, die in allen bereichen und auf allen ebenen, lustvolle, aus eigeninitiative und zusammenarbeit getragene und tragfähige verbindungen über ein organisch entstehendes geflecht (subbereiche als gegenmacht) von “gegenstrukturen” (stichwort power to the people) herstellen.

    neben der wiederbelebung des öffentlichen raumes und der straßen geht es um nicht weniger, als dass wir uns unser selbstbestimmungs und -gestaltungsrecht über unser leben wieder aneignen.

    unser vorteil ist, dass schöpferische kreativiät, phantasie, witz und humor, auf der seite unserer gegner, so gut wie nicht vorhanden sind.

    ich zitiere mal deleuze/guattari, rhizom, s.10/11:

    “das viele (multiple) muss man machen “

    es reicht nicht zu rufen: “hoch lebe das viele!”

     

    danke.

     

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