Die Selfie-Gesellschaft

 In Gesundheit/Psyche, Kultur, Roland Rottenfußer

SelfieSelfpublishing, Selbstbedienung, Möbelschreinern und Banking im Do it yourself-Verfahren – was machen moderne Menschen nicht alles „self“!? Vor allem die großen Drei boomen: Selbstbeobachtung, Selbstoptimierung, Selbstvermarktung – ein Trend, der nicht gesund ist, weder für die beständig unter (Selbst-)Beobachtung stehende Seele, noch für den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft. Eine ganze Kultur der Ichbezogenheit ist zur Bedrohung für Umwelt, Frieden und Mitmenschlichkeit geworden. Und das stromlinienförmig optimierte Ego hat sich selbst an die Stelle gesetzt, an der Religionen früher Gott gesehen haben. Das Gegenmittel wäre Bescheidenheit, die Kunst auch mal von sich absehen zu können. Kaum etwas fehlt in unserer Zeit dringender als diese „altmodische Tugend“. (Roland Rottenfußer)

Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass die neue unkomplizierte Fotografiertechnik, handy- oder tabletbasiert, die Anzahl der Schnappschüsse im Alltag rasant ansteigen ließ. Interessant ist nur, wer zum wichtigstes Fotomotiv der neuen digitalen Kultur avanciert ist: der Fotografierende selbst. Das Selfie gehört neben dem Smoothie, dem Smilie, dem Quickie und anderen „-ies“ zu den großen Trends unserer Epoche. In Mode sind auch Selfie-Sticks, ausfahrbare Stäbe, mit denen man, auf Smartphones montiert, Selfies aus größerer Entfernung aufnehmen kann. Bilder, die man – früher mit ausgestrecktem Arm – von sich selbst aufgenommen hat, allein, in allen Lebenslagen oder mit Partnern, am besten gleich Prominente, denen man auf der Straße nachstellt. Als ob dies der Selbstbespiegelung nicht genug wäre, muss das Selfie dann gleich für die Followers gepostet werden, damit auch das kleinste Stirnrunzeln des Social Networkenden keinem entgeht. Die Gefahr, dabei als eitel eingestuft zu werden, ist gering. Machen ja alle so. In der Selfie-Gesellschaft fällt Narzissmus nicht mehr auf, allenfalls das Fehlen davon, was dem Betreffenden dann den Ruf einer „Spaßbremse“ einträgt.

„Lifelogging“ heißt der durch Profitinteressen vorangetriebene Trend unablässiger Selbstbeobachtung, Selbstvermessung und Selbstprotokollierung. Da gibt es z.B. Armbänder, die uns dauernd Pulsfrequenz, Temperatur und andere Körperdaten anzeigen. Und eine Stirnkamera protokolliert unser gesamtes Leben, wobei Fremde zu unfreiwilligen Nebendarstellern im Lebensfilm des Helden oder der Heldin werden. Selbst von einer „Quantified Self Bewegung“ erzählt der Kulturkritiker Stefan Selke in seinem Buch „Lifelogging“. Die Qualität des Charakters scheint darunter eher zu leiden, denn bei „Selbstbewussten“ ist es mit dem Bewusstsein für die Bedürfnisse und Gefühle der Anderen oft nicht weit her. Selbstbeobachtung bildet mit Selbstoptimierung und Selbstvermarktung den großen Symptomkomplex der Selfie-Gesellschaft. Nur mit der Selbsterkenntnis hapert es vielfach. Das liegt daran, dass das Wort „selbst“ in all diesen Begriffen eigentlich ungenau verwendet wird. Eher ist das Ego gemeint, das Oberflächen-Ich. Für die „Ich-AG“ als berufliches Kulturideal können die meisten nichts, sie wurde vom Gesetzgeber geschaffen, der an der Vereinzelung, der Entsolidarisierung in der Gesellschaft interessiert ist. Die Ich-Show wird allerdings von vielen freiwillig und bis zum Exzess zelebriert.

Eine Kultur des Hochmuts

Im Kern geht es um den dem Zeitgeist teils von Kommerzinteressen eingeprägten, teil von Konsumenten willig ergriffenen Wahn, die eigene Person sei von überragender Wichtigkeit. Freilich: Egoismus, Narzissmus, Hochmut, gar Hoffart (wie ein altmodischer Begriff heißt) sind keine Erfindungen der Gegenwart. Nie schien der Ich-Kult jedoch drastischere Formen angenommen zu haben als heute. Früher wandte man sich in wichtigen Angelegenheiten Rat suchend, Hilfe anbietend, Verabredungen planend an Andere. Heute scheint es etwas Unwichtiges im Zusammenhang mit der eigenen Person überhaupt nicht mehr zu geben. Der Einzelne steht unter Dauerbeschuss durch Bagatellnachrichten unzähliger Sich-für-wichtig-Halter. Und auch der Nicht-Narzisst ist gezwungen, in dem Zirkus mitzumischen, um nicht als einzige unwichtige Persönlichkeit in der Masse der Wichtigen unterzugehen.

Das Leben von „Otto Normalverbraucher“ als Großevent, das in jedem seiner Details und jeder Verzweigungen für die Ewigkeit konserviert wird – so wie es von Eckermann für jeden Tag im Leben des späten Goethe akribische Eintragungen gibt. Wer soll das alles noch lesen, wenn die Zahl der „Schriftsteller“ längst die der Leser übersteigt. Das Bläh-Ich als Volkskrankheit – sind wir schon so weit? Es ist eigentlich paradox: Die Vermassung, die in der Stadtlandschaft, in U-Bahnen, in Event-Tempeln und in der Arbeitswelt zu beobachten ist, scheint eher das Gegenteil nahe zu legen: Sie suggeriert eine bis zum Verschwinden geringe Wichtigkeit des Einzelnen. Und da sind wir beim Knackpunkt: Selbstbespiegelung und -Darstellung erscheinen geradezu wie ein verzweifeltes Aufbäumen gegen den Untergang des Einzelmenschen im Allgemeinen, gegen seine Funktion als Rädchen in einer gewaltigen Produktions- und Konsummaschinerie. Wir kommen aber nicht wieder ins Lot durch Überkompensation und durch einen trotzig-überspannten Ichkult. Wir können unsere tief sitzenden Zweifel bestenfalls betäuben, können das große Loch in unseren Seelen auf Dauer nicht durch Surrogate füllen.

Gesunde Bescheidenheit – das Gegengift

Was wäre das Gegengewicht zum Selbstkult? Bescheidenheit, Selbstbeschränkung – Demut gar, wie ein nicht sehr beliebter, altertümlich anmutender Begriff heißt? Freilich erscheint Bescheidenheit im Sinn von „Sich-klein-Machen“ untauglich im Lebenskampf zu sein. Bescheidenheit und Geduld können Zustimmung bedeuten zur profitgetriebenen Entwertung des Einzelmenschen, z.B. als „Produktionsmittel“. Alles ist aber – wie beim Gift – eine Frage der richtigen Dosierung. Es gibt ein schädliches Maß an Bescheidenheit, und es gibt einen schädlichen Mangel daran. Als geistige Haltung ist richtig verstandene Bescheidenheit in unserer Zeit notwendig wie kaum eine andere Tugend.

Eine grundlegende Quelle gesunder Bescheidenheit besteht in der Einsicht, dass es um uns eigentlich gar nicht so sehr geht. Dieser Gedanke ist ungewohnt, entzieht er doch allen Überlegungen, die wir gewöhnlich anstellen, den Boden: „Wie geht es mir gut?“, „Wie finde ich den Traumpartner?“ oder „Wie kann ich spirituell wachsen?“ Der Franziskaner-Pater Richard Rohr schreibt hierzu in: „Es ist seltsam, aber in unserem Leben geht es letztlich nicht um uns. Es ist Teil eines viel größeren Stroms. Ich bin überzeugt, dass der Glaube wahrscheinlich genau diese Fähigkeit ist, sich dem Strom anzuvertrauen.“ Dies mag zunächst wie „Selbsterniedrigung“ klingen; von sich abzusehen kann für die Seele jedoch in höchstem Maße befreiend sein. Die Idee von der Wichtigkeit des Ichs steht hinter allen Sorgen um „mein“ Wohlergehen – und die Sorgen verflüchtigen sich mit dieser Idee.

Wichtig ist, wer sich nicht so wichtig nimmt

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft räumte unlängst im Stern-Interview ein, sie habe in ihrem Amt auch Fehler gemacht. Immerhin, so fügte sie hinzu, könne man als Ministerpräsidentin aber auch immer wieder Menschen Freude machen. So seien Bürgerinnen und Bürger stets aufs Neue begeistert, sich mit ihr auf Selfies abzulichten. So bescheiden kann man seine Aufgabe als Ministerpräsidentin natürlich auch auffassen. Der poltische Dialog zwischen Bürgern und Politik – reduziert auf ein Verhältnis zwischen Autogrammjäger und -Gejagtem. „Ich war in der körperlichen Nähe meiner Ministerpräsidentin und kann es sogar beweisen.“ Selige Einfalt! Vielleicht sollten Politiker – statt einem argumentativ geführten Wahlkampf – nur noch Selfie-Empfänge geben, bei denen sie sich mit UntertanInnen ablichten lassen. Die gehen dann zufrieden nach Haus: „Von was für einem sympathischen Menschen ich doch regiert werde!“

Sollten wir im Ernst auf eine Renaissance von Bescheidenheit hoffen? Politisch ist der Begriff ja – ebenso wie „Demut“ – nicht unumstritten, weil er ein Sich-Fügen in die gesellschaftlich zugedachte Rolle (z.B. als schlecht bezahlter Arbeitnehmer) beinhalten kann. Oft hören wir in Reden von Gewerkschaftern und Frauenrechtlerinnen vom „Ende der Bescheidenheit“. Und ist dies nicht gut so? Ich glaube, dass man sich angesichts des momentanen Selbstdarstellungs-Overkills auf eine positive Definition des Begriffs besinnen sollte. Bescheidenheit darf nicht dem Unvermögen und der Feigheit als Mantel dienen; sie ist vielmehr die Geisteshaltung derer, die mit sich im Reinen sind und sich gerade deshalb mit anderen auf dieselbe Stufe stellen. So werden wir im Grund größer, indem wir unsere Kleinheit gelassen aushalten und selbstbewusster, indem wir uns, von uns absehend, an andere verschenken. Wir werden wichtig gerade dadurch, dass wir uns (darin die Ausnahme bildend) nicht immer so entsetzlich wichtig nehmen.

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