Die große Schieflage

 In FEATURED, HdS-Klassiker

Ursache für die Armut ist der Reichtum (und umgekehrt) „Was also derzeit dem Glück der vielen im Weg steht, ist nicht einmal das Glück der wenigen, sondern deren starker Wille, sich Vorteile zu verschaffen, die mit „Verdienst“ schon längst nichts mehr zu tun haben. Wenn man Führungskräfte nicht 500 mal so hoch bezahlt wie ihre Angestellten, dann gehen sie beleidigt ins Ausland. Ich meine aber: Menschen, denen ein Jahresgehalt von 100.000 Euro nicht genügt, gehören überhaupt nicht auf Führungspositionen, sondern eher in Behandlung.“ Menschen hungern – und Geldgurus fordern bessere Autosuggestionstechniken. Sind Armut und Reichtum wirklich nur eine Frage des Bewusstseins, oder liegt der Fehler im System?  Roland Rottenfußer

Wie entsteht Reichtum? Wie entsteht Armut? In José Saramagos Roman „Die Stadt der Blinden“ wird exemplarisch der Sündenfall geschildert, der zu einer ungleichen Verteilung der Güter führt. In einer ehemaligen Irrenanstalt ist eine Gruppe von Blinden unter Quarantäne eingeschlossen. Wer das Gelände verlässt, wird von den Wachen erschossen. Ansteckungsgefahr. Die Blinden müssen sich komplett selbst verwalten, nur das Essen wird täglich dreimal von „außen“ geliefert – für jeden ein Essenspaket, genau abgezählt. Das funktioniert eine Weile, bis es einem der Blinden gelingt, einen Revolver in die Unterkunft zu schmuggeln. Von jetzt an gibt es das Essen nicht mehr umsonst, sagt er. Von jetzt an verteilen wir das Essen, und jeder muss dafür bezahlen, wenn er nicht verhungern will. Zur Bekräftigung seines Machtanspruchs schießt er in die Luft.

Die eingeschüchterten Blinden liefern ihm ihren Schmuck, ihren spärlichen Besitz, sogar ihre Eheringe aus. Dann kommt der zweite Schock: Die neue „Führungselite“ teilt jedem seine Ration zu: nur noch die Hälfte dessen, was jeder zum Überleben braucht. Vorerst sind die Opfer gegenüber der „Mafia“ machtlos. Während sie mit Hunger und Wut im Bauch ausharren, stapeln sich die Essenspakete im Zimmer der neuen Herren. Es ist viel mehr als diese überhaupt selbst vertilgen können. Das Essen verfault und stinkt zum Himmel – so wie die Ungerechtigkeit dieser Situation …

Man braucht nicht viel Übung in der Analyse von Literatur zu haben, um zu erkennen, dass Saramago hier ein Gleichnis für die Situation auf unserem Planeten geschaffen hat. Die einen haben im Überfluss, die anderen zu wenig. Bevor das „Wirtschaftssystem“ dieser kleinen Blindengemeinschaft erkrankte, gab es einen gesunden Urzustand: jedem das Gleiche, jedem nach seiner Bedürfnis. Der Grund dafür, dass es zum „Umkippen“ der Situation kam, war rohe Gewalt, gepaart mit der menschlich nachvollziehbaren Feigheit der Mehrheit. Diese Geschichte legt verschiedene Schlussfolgerungen nahe. Zunächst zeigt sie, dass in einer Welt begrenzter Mittel die Armut des einen den Reichtum des anderen bedingt – und umgekehrt.

Man hätte die Anzahl der Essenspakete, die in der Unterkunft zur Verfügung standen, erhöhen können (das wäre dann, auf das große System übertragen, Wirtschaftswachstum); diese Möglichkeit ändert aber nichts an der Tatsache, dass eine mächtige Minderheit die Zuteilung der Rationen für die Machtlosen so gering halten kann wie es ihr beliebt (so lange die Armen dies widerstandslos zulassen). Nicht einmal die Tatsache, dass sie selbst die Überschüsse gar nicht mehr verbrauchen können, lässt die Reichen in dieser Geschichte zur Vernunft kommen. Wo Gier im Spiel ist oder gar die Lust an der Machtausübung, an der Demütigung von Hilflosen, fruchtet der Appell an die Vernunft nichts mehr.

Haben diese Beobachtungen etwas mit unserer wirklichen Welt zu tun? Wie entsteht in der Realität Reichtum, zum Beispiel der Reichtum an Grundbesitz? Ein konkretes Beispiel: In Brasilien besitzen 2 Prozent aller Grundbesitzer 43 Prozent allen fruchtbaren Bodens. Hier die Geschichte dazu: „Brasilien wurde Anfang des 16 Jahrhunderts von portugiesischen Invasoren ‚entdeckt’, soll heißen: unterworfen, besetzt und ausgeplündert. Die den indigenen Bevölkerungen gestohlenen Ländereien vergab der König von Portugal nach einer simplen Methode: Er teilte die brasilianische Atlantikküste in Parzellen auf. Alle seine Generäle, Admiräle, Bischöfe und Kurtisanen erhielten ein Stück Küste. Der neue Grundeigentümer suchte nun seinen Besitz gegen das Landesinnere hin zu vergrößern. Aller Boden, den er beim geradlinigen Vordringen ins Herz des unbekannten Kontinents betrat, gehörte ihm.“ (Quelle: Jean Ziegler: „Die neuen Herrscher der Welt“).

Eine skurril wirkende Geschichte aus grauer, barbarischer Vorzeit, möchte man meinen. Das Problem ist nun, dass diese ursprünglichen Riesengrundbesitze, capitanias genannt, zum großen Teil bis heute in den Händen der Nachkommen besagter Kapitäne und Kurtisanen sind. An die einmal getroffenen Entscheidung des portugiesischen Königs, eines Mannes, der für die Ausrottung der Indianer in Brasilien verantwortlich ist, wagte bis heute niemand zu rühren, auch nicht „demokratische“ Nachfolgerregime der portugiesischen Monarchie. Heutige Großgrundbesitzer sind noch immer berechtigt, über Riesenlandstriche zu verfügen, die sie und ihre Familien nicht annähernd privat nutzen, geschweige denn zum allgemeinen Wohl mit Nutzpflanzen bebauen können. Daher knöpfen sie den armen Bauern, die aus „ihrem“ Land tatsächlich etwas machen, hohe Pachtgebühren ab oder lassen das Land gleich ungenutzt brach liegen.

Im Gegensatz zu der Geschichte „Die Stadt der Blinden“, in der alle Beteiligten vom Staat quasi ein „Grundeinkommen“ in Form von Essenspaketen erhalten, liegt in der Realität häufig eine doppelte Ungerechtigkeit vor: Ausgerechnet die, die das Land bearbeiten, verdienen fast nichts dabei. Nicht umsonst lautete der Schlachtruf der spanischen Revolutionsbewegung um 1936: „Das Land denen, die es bebauen!“ Gibt es also einen inneren Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum? Der portugiesische Dichter Almeida Garrett schrieb: „Und ich frage die Politökonomen, die Moralisten, ob sie jemals die Zahl der Individuen errechnet haben, die zum Elend verdammt sind, zur ungleichen Arbeit, zum moralischen Verfall, zur Unmündigkeit, zur erschreckenden Unwissenheit, zur völligen Entbehrung, um einen Reichen zu produzieren.“

Solche Rechnungen sind in der Tat sehr schwer aufzustellen. Versuchen wir uns eine Vorstellung von der Größenordnung zu machen: Das Durchschnittseinkommen der Weltbevölkerung liegt bei ca. 416 Euro (Quelle: www.globalisierungsblog.de). Diese Summe erscheint sehr niedrig, man muss aber dabei die unterschiedlichen Preise und Lebensverhältnisse in den einzelnen Ländern berücksichtigen. Eine andere Quelle hat ausgerechnet, dass, wäre das Welteinkommen gleichmäßig verteilt, jeder Mensch ungefähr den Lebensstandard für sich beanspruchen könnte, der im Deutschland der 50er-Jahre üblich war. Kein schlechter Durchschnitt also, jedenfalls müsste niemand hungrig ins Bett gehen.

Nehmen wir an, es existierten auf der ganzen Welt nur 10 Menschen und 5000 Euro, und jedem stünden 500 Euro Einkommen zu. Gäbe es in diesem System einen „Reichen“, der das Doppelte (1000 Euro) für sich beanspruchte, so blieben jedem der anderen 9 Menschen 444,44 Euro übrig. Beansprucht der Reiche gar das achtfache Einkommen, 4000 Euro, bleiben für den Rest nur noch 111,11 Euro. Da wird es für die Mehrheit dann langsam knapp. Dabei ist das Beispiel noch gemäßigt: Die Verhältnis zwischen dem Besitz des ärmsten und dem reichsten Menschen der Welt betrüge hier nur 1: 36. In Wirklichkeit bewegt sich dieses Zahlenverhältnis jedoch in der Größenordnung  1 : 1.000.000.000 (eine Milliarde). Und das ist nur ein Näherungswert, bei dem ich der Einfachheit halber davon ausgehe, dass der reichste Mensch der Welt, Warren Buffet, über 47 Millarden Euro Vermögen verfügt, der ärmste über 47 Euro. Die Wahrheit ist noch ein bisschen härter: Der ärmste Mensch ist immer derjenige, der als nächstes verhungern wird – und das sind in der Minute 17 Menschen.

Es stellt sich nun natürlich die Frage, ob Reichtum wirklich immer so zustande gekommen ist, wie in dem (fiktiven) Beispiel aus „Die Stadt der Blinden“ vorgeführt. Gibt es keine reichen Menschen, die ihr Vermögen wirklich verdienen? Jeder von uns kennt Menschen, die es durch harte Arbeit, durch Qualifikation und kontinuierliche Qualität zu Wohlstand gebracht haben: ein Arzt, der als Chirurg Leben rettet; eine Pianistin, die für die Beherrschung ihres Instruments jahrzehntelang unermüdlich geübt hat und Tausenden von Zuhörern damit Freude macht; ein Unternehmer, der mit hohem Risiko und 60-Stunden-Woche eine florierende Firma aufgebaut und dutzende von Arbeitsplätzen geschaffen hat. Dürfen diese Menschen nicht reich sein? Dürfen sie nicht mehr verdienen als ein „Faulpelz“, der seine Jugend vertrödelt hat, während unsere Pianistin schon als Teenager täglich fünf Stunden Klavier übte? Dieses Bild vom redlich verdienten Reichtum („Jeder ist seines Glückes Schmied“) ist nicht grundlegend falsch. Es wird allerdings in unserer Gesellschaft zu einseitig betont, wobei die andere Hälfte der Wahrheit – die härtere und ungerechtere – unterschlagen wird.

Es kann gerecht sein, dass jemand mehr verdient als der andere – nur wie groß darf dieses Gefälle sein? In einer Liste des Magazins „Stern“ werden 100 verschiedene Berufe hinsichtlich ihres Durchschnittsverdienstes miteinander verglichen. An der Spitze stehen Piloten mit durchschnittlich 6927 Euro pro Monat (Jahresgehalt ohne Weihnachts- und Urlaubsgeld: 83.124 Euro). Es ist nachvollziehbar, warum diese Gruppe ganz oben auf der Liste steht. Es handelt sich um einen verantwortungsvollen, hoch qualifizierten Beruf. Betrachten wir zum Vergleich den Spitzenverdienst eines deutschen Topmanagers. Wenn Deutsch-Bank-Chef Josef Ackermann auf einer (etwas veralteten) Gehaltstabelle mit jährlich 7.100.000 Euro dotiert wird, so bedeutet dies: Der Manager „verdient“ fast das Hundertfache des Piloten. Eine Stunde im Leben des Josef Ackermann ist also mit hundertmal mehr Sinn, Bedeutung und gesellschaftlichem Nutzen angefüllt wie eine Stunde im Leben unseres Piloten, in dessen Hände täglich Menschenleben gegeben sind.

Nimmt man statt des Piloten einen Altenpfleger als Maßstab, so kommen wir schon auf ein Verhältnis von rund 1:500. Herr Ackermann muss also eine sagenhafte Leistung vollbracht haben, denn Altenpflege ist, wie man weiß, eine aufreibende, harte und auch qualifizierte Arbeit. Bei unserem Topmanager kann man aber immerhin sagen: Er hat eine Leistung vollbracht (wenn man sich auch über deren Ergebnisse streiten kann). Wie aber, frage ich, kommt jemand dazu, sage und schreibe 47.000.000.000 Euro (47 Milliarden) zu „verdienen“ –  das geschätzte Vermögen von Warren Buffet? Da muss eine Arbeitsstunde noch um einiges mehr „wert“ gewesen sein als bei unserem ohnehin schon an der Grenze zum Übermenschentum agierenden Herrn Ackermann. Wenn Buffet 47 Jahre berufstätig gewesen wäre, hätte er z.B. durchschnittlich eine Milliarde jährlich verdient, über den Daumen gepeilt also das 12.000-fache unseres Piloten.

Angesichts solcher Dimensionen versteht man, dass der Liedermacher Konstantin Wecker im Interview rundweg erklärte: „Man kann nicht Milliardär werden, ohne irgendwo gezockt, beschissen oder ausgebeutet zu haben. Ich habe ein Problem mit Milliardären, weil aus dem Geld folgt, dass sie zu viel Macht haben. 500 Leute auf der Welt haben mehr Geld als die Hälfte der Menschheit. Das ist nicht demokratisch.“ Hier spricht Wecker einen wesentlichen Punkt an. Oft wird ja die „naive“ Frage gestellt: „Was soll dieser Mann denn mit dem vielen Geld anfangen? Etwas 100 Schnitzel am Tag essen? Oder 100 Rolls Royce besitzen? Oder gar 100 Yachten?“ (Selbst die zahlen gestandene Milliardäre aus der Portokasse). Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: Vielleicht will ein Milliardär ja gar keine Schnitzel kaufen, sondern Menschen – z.B. Medienschaffende oder Politiker. Müsste man also Reichtum schon allein wegen dessen unkontrolliertem Machtpotenzial begrenzen, selbst wenn man es um der Armen willen nicht tun will?

Eine zweite Antwort auf die Frage „Was fangen die mit ihrem Geld an?“, wäre ganz simpel: „Sie legen es an.“ Anlegen bedeutet im Klartext: Andere Menschen müssen dafür arbeiten. Der Bestsellerautor Andreas Eschbach hat es auf den Punkt gebracht: „Ihr Geld wächst nicht, und es arbeitet auch nicht. Wenn Sie nach einer gewissen Zeit mehr Geld auf Ihrem Konto vorfinden als am Anfang, stammt dieses ‚mehr’ von anderen Leuten. Die sind es, die dafür gearbeitet haben. Man könnte sagen, diese Leute arbeiten für Sie. Sie zahlen Ihnen Tribut. Ihr Geld ist das Lehen, der Zins der Tribut.“ So ist es kein Zufall, dass das Wachstum der Schulden (private und öffentliche Haushalte) und das Wachstum der Vermögen einander spiegelbildlich entsprechen. In einem System begrenzter Ressourcen entspricht der Gewinn des einen dem Verlust des anderen. „Wirtschaftswachstum“ kann diesen Effekt nur abmildern, nicht verhindern. Der Wachstumszwang, der unsere Umwelt zerstört und die Arbeitenden einem mörderischen Leistungsdruck aussetzt, ist der verzweifelte Versuch, unbegrenztes Vermögenswachstum zu ermöglichen, ohne dass deshalb die Löhne schrumpfen müssen. Ein Wettlauf, der längst verloren ist. Denn Zinsen führen durch Verdopplung auf Dauer zu einem exponentiellen Wachstum, so dass Produktivität und menschliche Leistungsfähigkeit zunehmend hinterher hinken.

Der Zusammenhang zwischen Schuldenwachstum auf der einen und Vermögenswachstum auf der anderen Seite ist aber noch weit enger als man gemeinhin annimmt. Normalerweise denken wir: Vermögensbesitzer, die von Zinsen profitieren, sind vielleicht ein wenig egoistisch, aber schließlich ist jeder Schuldner selbst dafür verantwortlich, ob er in die Schuldenfalle tappt. Ja die „Dummheit“ der Schuldner, ihre Unfähigkeit zu Konsumzurückhaltung erscheint als Ursache des eskalierenden Vermögenswachstums. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Die „von selbst“ wachsenden Riesenvermögen erzeugen einen enormen Druck auf die Volkswirtschaft. Nicht nur die Schuldner verlangen nach Krediten, vorhandene Geldüberschüsse verlangen nach Schuldnern.

Der Geldtheoretiker Helmut Creutz hat den Zusammenhang so dargestellt: „Mit diesen immer höheren Geldvermögen nimmt jedoch nicht nur die Möglichkeit erhöhter Verschuldung zu, sondern auch der Zwang dazu. Denn im gleichen Umfang, in dem sich bei den Geldvermögensbesitzern neue Überschüsse an Kaufkraft sammeln, fehlt diese in der Wirtschaft. Da diese Lücke nur in einem geringen Umfang durch die Geldvermögensbesitzer selbst geschlossen wird, gleichgültig ob über Ausgaben oder Investitionen, muss das Gros dieser Überschüsse durch zusätzliche Kredite in den Kreislauf zurückgeschleust werden. Diese Zurückschleusungen sind jedoch wieder mit Zinsen verbunden, die ein weiteres noch beschleunigtes Wachstum der Geldvermögen bewirken.“ Man kann also nicht über Armut klagen, ohne im gleichen Atemzug den Reichtum und die Dynamik seiner Entstehung in Frage zu stellen.

Die 358 reichsten Familien der Welt besitzen die Hälfte des Weltvermögens (Quelle: Norbert Blüm, ehemaliger deutscher Arbeitsminister). Intuitiv löst eine solche Zahl bei jedem Unbehagen aus, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Kaum einer zieht aber die Schlussfolgerungen: Nehmen wir an, man könnte diese Menschen dazu zu bewegen, ihr Geld bis auf ein komfortables Existenzminimum freiwillig abzugeben. Bedeutet dies nicht, dass jeder von uns genau das Doppelte seines heutigen Einkommens beanspruchen könnte (oder dass er bei gleichem Einkommen nur die Hälfte arbeiten müsste)? Das Doppelte, das könnte für Menschen, die vom Hungertod bedroht sind, das Überleben bedeuten. Es bedeutete für heutige „Prekäre“ in Deutschland oder Österreich den Zugang zu mehr finanzieller Freiheit, zu Würde und bescheidenem Luxus. Würde man also diese 385 Familien auf ein gutes Mittelstandsgehalt reduzieren, so wäre das für die Betreffenden sicher ein Schock, ein drastischer Einschnitt in ihrem Leben. Vielleicht würden diese Menschen sogar unser Mitgefühl verdienen. Aber müsste es nicht eigentlich selbstverständlich sein, dies in Kauf zu nehmen, wenn es dafür den 6,7 Millarden anderen Menschen auf der Welt besser ginge?

Für Arme Menschen können 100 Euro den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Für Warren Buffet dagegen bedeutet der Verlust von 46 Millarden Dollar keine wirkliche Einbuße an Lebenskomfort. Er könnte immer noch essen, was er will und wohnen, wo er möchte. Ich weiß, dass solche Enteignungs-Fantasien viele Fragen aufwerfen. Wäre das der Beginn des Kommunismus, und hat der Weg des ehemaligen Ostblocks nicht auf direktem Weg in den Untergang geführt? Und wo soll das alles hinführen? Nimmt man mir am Ende noch mein redlich verdientes 1-Familienhaus weg und macht daraus ein Obdachlosen-Asyl? Solche Fragen und Ängste sind berechtigt. Ich füge nur eines hinzu: Wer den Gedanken an eine Enteignung der Reichsten für unerträglich hält, der muss begründen, warum er die momentane Verarmung des Mittelstand und den Hunger der globalen „Unterschicht“ für eher erträglich hält. Er muss, wenn er meinen Vorschlag für plump, naiv und populistisch hält, einen besseren Vorschlag machen. Solche „bessere“ Vorschläge bedeuten in der Praxis oft, dass der arbeitende Mittelstand für die Ärmsten aufkommen: durch Lohnsteuern und Spenden, durch die Alimentation von Suppenküchen und Tafeln. Dies ist der Ist-Zustand. Bei der momentanen, schon beklagenswerten Situation wird es aber nicht bleiben. Wenn nichts getan wird, schreiten Verarmung und Bereicherung spiegelbildlich weiter voran.

Mit der Eskalation der Zinsdynamik und mit Machtkonzentration in den Händen von wenigen großen Konzernen, wird zugleich das Leistungsprinzip, das ehrlich Arbeitende durchaus zu Recht hoch halten, ad absurdum geführt. Es gibt gewiss Menschen, die ihren Wohlstand verdient haben, und es wird sie auch künftig geben; zunehmend beruht Reichtum jedoch auf Vererbung und auf Ausbeutung fremder Arbeitskraft, wobei die Leistungsideologie Alibi-Charakter hat. In wenigen Fällen beruht Reichtum auch auf Glück. Jemand erlebt z.B., wie ein Produkt seiner Arbeit auf einmal eine unerwartet hohe Wertschätzung genießt. Er oder sie landet z.B. einen Bestseller oder einen Single-Hit. Aber wie viele Personen betrifft dies schon? Viel häufiger beruht Reichtum auf der Besetzung organisatorischer Schnittstellen mit hohem Erpressungspotenzial. Davon können Sie und ich nur profitieren, wenn wir zufällig in den Besitz einer Mautstelle, eines Patents oder eines Monopols gelangt sind.

Zuletzt will ich versuchen, einige häufig gestellte Fragen zur Armuts-/Reichtumsdebatte zu beantworten:

Gibt es ein „Reichtums-“ bzw. „Armutsbewusstsein“?

Diese Frage bewegt vor allem Esoteriker und die Konsumenten populärer Lebensratgeber. Wie so oft, steckt dahinter eine Teilwahrheit. Wir alle kennen das Phänomen. Wer glaubt, dass er es nicht wert ist, über genug Geld zu verfügen (oder überzeugt ist, dass er es sowieso nie schaffen wird), der stellt die Weichen unbewusst in Richtung finanzielle Knappheit. Er wird Gelegenheiten, Geld zu verdienen, nicht wahrnehmen oder nicht nutzen. Vielleicht wird er lange in eigentlich unzumutbaren Jobs ausharren, weil er glaubt, dass es dies ist, was ihm zusteht. Es gibt also ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein, das sich (in einer gerechten Gesellschaft, wohl gemerkt!) auch in materiellem Wohlstand ausdrücken kann. Maß darf aber nicht mit Übermaß verwechselt werden. Das Selbst-Bewusstsein (eigentlich: Ich-Bewusstsein) muss seine Grenzen im Wir-Bewusstsein finden. Wenn es um „meinen“ Erfolg geht, muss dabei gleichzeitig die Gesundheit des gesamten Systems im Auge behalten werden. Das unbegrenzte Wachstum einer einzelnen Zelle im Organismus kann nicht gesund sein. Die Medizin hat dafür ein Wort: Krebs.

Dr. Joseph Murphy, einer der Väter des Positiven Denkens behauptete: „Armut ist eine Krankheit des Geistes“. Solche und ähnliche Äußerungen gibt es in der esoterischen Literatur zuhauf. Millionen von „Kranke“ in der Sahelzone, den Favelas der brasilianischen Millionenstädte oder den menschenunwürdigen Müllhalden-Siedlungen am Stadtrand von Mexico City müssen sich so als Negativdenker mit Armutsbewusstsein verhöhnen lassen. Damit wird eine mental optimal trainierte Elite von „Richtigdenkern“ auch wohlfeil aus seiner gesellschaftlichen Verantwortung entlassen. Das Positive Denken wird so zum geistigen Überbau des herrschenden Wirtschaftsliberalismus, schön tönende Begleitmusik zum Chor der marktradikalen Gegner des Sozialstaats, die in soziale Not Geratenen statt Brot und Mitgefühl gern besserwisserisch Belehrungen über versäumte Eigenverantwortung zukommen lassen.

Ist Reichtumskritik „Neid“?

Von einer „Neiddebatte“ ist von Befürwortern des Sozialabbaus und des freien Marktes gern die Rede. Ist an diesem Vorwurf was dran? Zunächst ist eine Gegenfrage zu stellen: Wünschen sich tatsächlich alle Kritiker des herrschenden Wirtschaftssystem, mit einem Milliardär oder erfolgreichen Börsenspekulanten zu tauschen? Viel wahrscheinlicher ist, dass sie an Gerechtigkeit interessiert sind, an einem angemessenen Lohn für ihre Arbeit – ohne dass große Teile des erwirtschafteten Reichtums an „Absahner“ abfließen. Für sich selbst haben die meisten dieser Kritiker wohl den Wunsch, von Existenznot befreit zu sein, von entwürdigen Einschränkungen ihrer Wahl- und Bewegungsfreiheit. Viele hegen auch den Wunsch, ihren Angehörigen oder bedürftigen Personen etwas abzugeben oder das Geld in sinnvolle Projekte zu stecken. Aber Neid?

Neid im moralisch fragwürdigen Sinn würde bedeuten, dass einen das mögliche Unglück der Reichen stärker motiviert als der Wunsch nach den eigenen Glück. Es würde außerdem bedeuten, dass es einem nicht auf Gerechtigkeit und den maßvollen Wohlstand aller, sondern allein auf den eigenen Besitz (auf Kosten anderer) ankommt. Neid ist der Wunsch, mit einem anderen, den man in einer glücklichen Lage wähnt, Platz zu tauschen. Man strebt damit nicht die Abschaffung des Unrechts an, sondern dessen Aufrechterhaltung – nur mit umgekehrter Rollenverteilung. Statt auf der Opferseite wäre man nun auf die Täterseite übergewechselt. Eine solche negative Form von Neid ist mir bei keinem Kritiker des Reichtums und des herrschenden Wirtschaftssystems bekannt. Es handelt sich bei der Debatte um „Neiddebatten“ also eher um einen rhetorischen Trick, ein Scheinargument, das den privilegierten Kreisen hilft, ihre Pfründe zu verteidigen.

Ist also ein Höchstlohn sinnvoll?

Im Zusammenhang mit Managergehältern ist in letzter Zeit sogar seitens der etablierten Politik von „Höchstlöhne“ die Rede. Das geht schon in die richtige Richtung. Auffällig ist aber, dass man sich dabei stehts nur mit den mittelgroßen Fischen beschäftigt, während man die großen laufen lässt. Das leistungslose Einkommen von „Anlegern“ wird nach wie vor nicht in Frage gestellt. Wie wäre es (wenn man schon nicht das ganze System in Frage stellt) mit einer Höchstrendite? Oder – dabei wäre noch mehr zu holen – mit einem Höchstvermögen? Alles, was über ein Vermögen von über 1 Million hinausgeht, fließt wieder an die Gemeinschaft zurück, weil es ja irgendwie ursprünglich von der Gemeinschaft genommen wurde. (Die Zahl ist natürlich willkürlich gewählt, es könnte auch eine andere genannt werden).

„Enteignung“, „Kommunismus“, würden nun viele rufen. In diesem Zusammenhang stelle ich ein merkwürdiges Phänomen fest: Man wirft der menschlichen Spezies ja immer Egoismus vor. Ich stelle dagegen eine weit verbreitete, erstaunliche Selbstlosigkeit fest. Viele Normalverdiener plagt ein schlechtes Gewissen, wenn von einer möglichen Enteignung der Superreichen die Rede ist; dagegen nehmen sie ihre eigene, tatsächliche Enteignung über Zinsen, Gebühren, überhöhte Preise, vorenthaltenen Lohn usw. tagtäglich ohne Murren hin. Man muss also als Fazit sagen: Enteignung ist in unserer Gesellschaft keineswegs ein Tabu, solange sie nur die „kleinen Leute“ betrifft.

Wäre Enteignung ethisch vertretbar?

Warum also diese Angst, die großen Vermögen anzutasten? Ich kann besonders empfindsame und selbstlose Zeitgenosse beruhigen: Der Verlust würde nach psychologischen Untersuchungen nicht einmal die Laune der Übervermögensbesitzer trüben. Die Glücksforschung hat nämlich herausgefunden, dass ab einem bestimmten Niveau, bei dem die gröbste Armut überwunden ist, das Glücksniveau nicht mehr parallel zur Höhe des Gehalts anwächst. „Es besteht zwar ein riesengroßer Unterschied zwischen dem, ob man ‚überhaupt kein’ oder ‚genug’ Geld hat, aber praktisch kein Unterschied mehr zwischen dem, ob man ‚genug’ oder ‚sehr viel’ Geld hat.“ (Quelle: Webseite des Instituts für Glücksforschung)

Wir stehen nun also vor einem unfassbaren globalen Wahnsinn. Millionen von Menschen opfern (meist gezwungenermaßen, oft aber auch passiv zustimmend) das, was sie dringend zum Leben bräuchten, um es einer Minderheit von Reichen zuzuschanzen, die dieses Opfer nicht einmal glücklicher macht. Schon um des durchschnittlichen Glücksniveaus auf der Erde willen müsste jeder denkende Mensch eine Umverteilung von dort, wo sehr viel Geld vorhanden ist, nach dort erwägen, wo überhaupt kein Geld verfügbar ist. Kommunismus ist das nicht unbedingt. Eher erinnert es an die die Unabhängigkeitserklärung der USA, in der vom „Pursuit of Happiness“ die Rede ist, dem Recht, nach dem Glück zu streben. Müsste das Glück der Bürger nicht oberste Richtlinie der Politik sein?

Was also derzeit dem Glück der vielen im Weg steht, ist nicht einmal das Glück der wenigen, sondern deren starker Wille, sich Vorteile zu verschaffen, die mit „Verdienst“ schon längst nichts mehr zu tun haben. Wenn man Führungskräfte nicht 500 mal so hoch bezahlt wie ihre Angestellten, dann gehen sie beleidigt ins Ausland. Und wenn man keine maßlos hohen Renditen ausschüttet, dann wandert das Kapital, dieses „scheue Reh“, ab. Solche Befürchtungen trifft man immer wieder an. In vielen Fällen stimmt dies sicher auch. Ich meine aber: Menschen, denen ein Jahresgehalt von 100.000 Euro nicht genügt, gehören überhaupt nicht auf Führungspositionen, sondern eher in Behandlung. Solche Personen versuchen mit den in einem Führungsjob verdienten übermäßigen Gehältern ja offenbar eine innere Leere auszufüllen, die ohne diesen Job gar nicht entstanden wäre. Man sollte sie davon erlösen und ihnen die Gelegenheit geben, bei bescheidenem Lebensstandard immaterielle Werte schätzen zu lernen.

Viele Unternehmen werden offenbar von Unzufriedenen beherrscht, von Menschen, die andere Menschen antreiben, weil sie selbst Getriebene sind. Also eigentlich von Kranken. Und genauso sieht unsere Welt heute aus. Sie kann ganz offensichtlich nicht von demselben Menschenschlag aus der Krise geführt werden, der sie an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Es ist also nicht nur so, dass auch Menschen, die mit einem Jahresgehalt bis 100.000 Euro zufrieden sind, für Führungsjobs geeignet sich; ich würde eher sagen, dass nur solche Menschen geeignet sind. Es kommt einem Charaktertest gleich, ob jemand zu einem Mindestmaß an Selbstbeschränkung und Rücksicht auf das Gemeinwohl fähig ist. Es ist nicht so, dass wir bestimmten Personen ihren Selbsterfahrungstrip („Wie geht’s mir damit, zu viel Geld zu haben?“) nicht gönnen würden. Der Punkt ist eher, dass derlei Experimente uns einfach zu viel kosten. Der Flirt mit den charakterlichen Untiefen von Gier und Skrupellosigkeit, den sich eine Minderheit heute leistet, ist mit dem Schweiß, den Tränen, den zerstörten Leben von vielen erkauft.

Ist Eigentum Diebstahl?

Der Franzose Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) war für Karl Marx zugleich geschätztes Vorbild und Antipode. Proudhons bekanntes Diktum „Eigentum ist Diebstahl“ wird oft missverstanden. Gemeint ist nicht jegliche Form von privatem Besitz, sondern Eigentum als Privileg und Monopol. „Solange Eigentum Privilegien birgt, solange bedeutet privilegiertes – also erpresserisches Eigentum Diebstahl.“ Das Schwergewicht liegt bei ihm also in der Kritik an „erpresserischem Eigentum“, das zur Ausbeutung der Arbeitskraft anderer führt. Proudhons vollständige Philosophie lässt sich zusammenfassen in dem Satz: „Das Eigentum ist eine Institution der Gerechtigkeit und das Eigentum ist Diebstahl“. Der erste Halbsatz wird gern unterschlagen, denn das Gerechte am Eigentum ist seine Funktion, die Freiheit des Individuums gegenüber der Gruppe zu sichern. Eigentum ist zunächst positiv zu sehen – als Schutz gegen Übergriffe anderer auf die Gegenstände des täglichen Bedarfs und als Schutz vor Einmischung in die freie Entfaltung im unmittelbaren Lebensumfeld.

Eigentum ist nicht einmal für den Erfinder des besagten Spruches in jedem Fall „Diebstahl“. Sehr häufig ist es aber das Ergebnis von Umverteilung zum Vorteil der Besitzenden. Je drastischer die Umverteilung ausfällt und je unfreiwilliger sie erfolgt, desto mehr nähert sich Eigentum Diebstahl an. Man kann Diebstahl natürlich als ungesetzliche Aneignung von fremdem Besitz definieren. Dann steht der Aspekt der Legalität im Mittelpunkt. Wie wir alle wissen, können sich Gesetze aber ändern, und sie sind nicht unbedingt mit Gerechtigkeit identisch.

Eine zweite Definition von Diebstahl wäre die Aneignung von fremdem Besitz gegen den Willen des Besitzers. Überlegen Sie sich in diesem Zusammenhang einmal folgendes: Für welche Waren und Dienstleistungen würden Sie den üblicherweise geforderten Preis bezahlen, wenn Sie über diesen Preis frei entscheiden könnten? Solche Gedankenspiele scheinen absurd, weil unserer Alltagserfahrung widersprechen. Mir ist dadurch aber einiges klar geworden. Z.B. hätte ich für die CD meiner Lieblingsband, die ich für 5,95 Euro aus dem Regal genommen habe, ohne weiteres auch 20 Euro gegeben. Schließlich kann ich diese CD 50- oder 100mal hören, und empfinde die Leistung des Künstlers jedes Mal als ein Geschenk. Für ein Vollkornbrot zu 3,50 Euro würde ich freiwillig wahrscheinlich den gleichen Preis zahlen. Es hat ja für mich einen Wert, und es ist einsehbar, dass die Leistung des Bauern bzw. des Bäckers honoriert werden muss. Wie steht es aber mit der Stromrechnung? Sind Sie wirklich damit einverstanden, dass Ihre Miete mit Nebenkosten 40 Prozent Ihres Einkommens verschlingt? Und würden Sie Ihrer Bank freiwillig innerhalb von 20 Jahren mehr als das Doppelte des Kaufpreises für Ihr Eigenheim bezahlen, wenn Sie selbst über den Zinssatz bestimmen könnten? Warum müssen überhaupt Zinsen verlangt werden? Würden nicht auch eine Abwicklungsgebühr und ein Inflationsausgleich die Kosten der Bank decken?

Alle diese Gebühren, Zinsen und Mieten bezahlen Sie, weil man sie von Ihnen erpresst hat. Sie haben sich an diese Erpressung gewöhnt, weil die meisten Menschen gleichermaßen davon betroffen sind, weil die Erpressung in das System eingesickert ist. Niemand hält Ihnen mehr die Pistole an die Schläfe. Es genügt meist der Wink mit dem Anwalt oder mit der Einstellung der Stromlieferung. Es besteht also eine Art „Gleichheit vor dem Erpresser“. Solche erpresserische Strukturen entstehen meist durch Monopole (z.B. Patente auf Medikamente), durch Oligopole (Stromkonzerne) oder durch flächendeckende Hochpreispolitik (Mieten).

Sicher gibt es auch Menschen, die so uneinsichtig sind, dass sie freiwillig nicht mal 10 Cent für einen Laib Brot bezahlen würden. In diesem Fall ist es sinnvoll, dass Brote in dieser Preisklasse überhaupt nicht auf dem Markt zu finden sind. Wie sollte ein Bauer auch davon leben können? Der Geiz, den viele Leute im Kleinen entwickeln (z.B. bei Lebensmittel), entsteht aber auch durch den Existenzdruck, den sie empfinden. Und dieser rührt auch daher, dass bestimmte Instanzen einen übermäßigen Anteil an unserem erarbeiteten Wohlstand als Tribut erpressen.  Ob Eigentum als Diebstahl empfunden wird, hat auch eine sehr stark subjektive Komponente.

 

 

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