Die Welt hinter der Welt, Teil 1/2

 In FEATURED, Philosophie, Spiritualität

Transpersonale Erfahrungen und veränderte Bewusstseinszustände werden in unserer von der Ratio dominierten Gesellschaft meist verdrängt — Zeit, sie wiederzuentdecken. Exklusivauszug aus „Kosmos“. In der Psychologie wird gewöhnlich nur der „normale“ Bewusstseinszustand untersucht, in dem jemand im Alltag gut funktionieren kann. Negative Abweichungen davon heißen dann „Krankheit“, und die Therapie soll nichts anderes bewirken, als die Normalität wieder herzustellen. Nur selten werden „höhere“ Erfahrungszustände betrachtet, Ekstase, Entrücktheit oder die Alltagswahrnehmung überschreitende Erlebnisse. Berichte über Letztere werden häufig als „unseriös“ in den Bereich des esoterischen Wahns verwiesen. Drogenerfahrungen, Traum, Rausch und „Flow“, aber auch spontane mystische Durchbrüche gewähren oft Einblicke in eine sonst unzugängliche Welt „dahinter“. Zu beweisen sind diese in der Regel nicht, für Menschen, die dergleichen erlebt haben, sind sie aber mitunter lebensverändernd. Ist die Welt, die wir im Alltagsbewusstsein wahrnehmen, wirklich alles, was existiert? Der Autor erforscht in seinem zweiteiligen Aufsatz jene Anderswelt, die unsere gewöhnliche durchdringt und auf viele Arten beeinflusst — zugleich höher und tiefer als diese. An keltische Erzählungen über Feen und Elfen muss man dabei nicht unbedingt denken. Auch nicht an ein „Jenseits“, wie es in einigen religiösen Traditionen genannt wird. Die andere Wirklichkeit ist ebenso real wie die „normale“. Sie ist nicht „dort drüben“, sondern mitten unter uns — hier und jetzt —, nur nicht für jeden jederzeit sichtbar. Wissenschaftlich verbildet, haben wir jedoch verlernt, sie wahrzunehmen, oder leugnen sogar ihre Existenz. Wenn wir die Tore zu dieser anderen Wirklichkeit öffnen wollen, müssen wir damit beginnen, sie vorurteilsfrei zu erforschen. Jochen Kirchhoff

 

Es gibt starke Indizien dafür, dass die uns so vertraute physisch-sinnliche Realität von einer anderen, wohl als „höher“ zu bezeichnenden Wirklichkeit durchdrungen, überwölbt oder getragen wird, einer Wirklichkeit, die ständig anwesend und mitwesend ist, obwohl gemeinhin verborgen, und dies nicht nur für unsere Sinnesorgane, sondern auch für die „Rasterfahndung“ des forschenden und wissenschaftlich beflügelten Geistes. „Anderswelt“ (otherworld) ist ein Wort für diese verborgene und höhere Wirklichkeit, das als Chiffre und Werkzeug taugt, wenn man sich seiner Unzulänglichkeit bewusst bleibt, die nicht aufhebbar ist, da sie an das Problem der Sprache überhaupt rührt.

In der keltischen Mythologie ist die Anderswelt kein „Jenseits“ im Sinn religiöser und spiritueller Vorstellungen eines „Anderswo“, einer unüberbrückbar von der Sinnenwelt getrennten Sphäre, sondern vielmehr das, was immer gleich nebenan, sozusagen „um die Ecke“ beginnt, ja im Grunde mitten unter uns gegenwärtig ist, wenn auch „sterblichen Augen“ entzogen. Die Kelten betrachteten diese Anderswelt als eine Art feinstoffliches Double der Erscheinungswelt. Was den Geistesaugen erkennbar war, wenn sie denn geöffnet waren, war demnach keine rätselhaft fremde und das Bewusstsein überfordernde Welt, sondern eine in der Kernsubstanz und in der Grundarchitektur vertraute, jedoch verfeinerte und sozusagen ätherisierte Sinnenwelt. Alles so wie hier — nur eben gewebt aus einem Stoff, der jeder Grobheit und Kompaktheit entbehrt. Im sogenannten Spiritismus begegnen wir ähnlichen Vorstellungen.

Ich benutze den Begriff Anderswelt ohne direkten Bezug zur keltischen Mythologie und auch ohne den hiermit verbundenen Erfahrungshorizont. Vielmehr nehme ich ihn in seiner weitestmöglichen Bedeutung als andere und höhere Wirklichkeit schlechthin. Mein Buch „Die Anderswelt“ trägt den Untertitel „Eine Annäherung an die Wirklichkeit“, um deutlich zu machen, wo der Fokus meiner Reflexionen über dieses Thema liegt: Es ist schlicht und einzig die Wirklichkeit selbst, die mich philosophisch interessiert und bewegt. Diese Position dürfte von den allermeisten Menschen geteilt werden, wenn nicht im theoretischen Bemühen, dann im praktischen Lebensvollzug.

Das Element des „Anderen“ kommt in die Wirklichkeit, weil nach meiner Überzeugung und Erfahrung die sinnlich-empirische Realität gleichsam eingehängt ist in etwas Übergreifendes, zugleich Höheres und Tieferes, uns weit Übersteigendes: eine primordiale, uns ursächlich bedingende und fundamentierende metaphysische Wirklichkeit, unsere Quellsphäre im eigentlichen Sinn, in der wir wurzeln, die wir sind und die mit uns in der Tiefe unlösbar verfugt ist.

Diese „Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit“ können wir nie verlassen, obwohl wir sie mehrheitlich vergessen haben, sie ignorieren, leugnen oder für seltsam irrelevant, ja geradezu störend erachten, wenn es um die unseren Lebensvollzug bestimmenden, „allein wichtigen Dinge“ geht.

Wie man weiß, bieten religiöse und spirituelle Glaubenssätze fertige Antworten an, die neben Verpflichtendem auch etwas Entlastendes haben, weil mit ihnen philosophische Fragen nach der eigentlichen Wirklichkeit, der Anderswelt, irgendwie müßig oder „bloß intellektuell“ erscheinen. Viele in der sogenannten westlichen Welt, die sich areligiös, agnostisch und skeptisch geben oder deren Fundamentalreligion (neben Bankkonto und Ego) die Naturwissenschaften sind, haben sich zynisch und klammheimlich darauf geeinigt, dass im metaphysischen Verständnis niemand etwas wisse und wissen könne, dass alle Wissensansprüche hier Trug und Wahn seien: „ … und weiß doch, dass wir nichts wissen können“, heißt im ersten großen Faust-Monolog.

Der immense Erfolg des Films „Matrix“ (1999) ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass im Untergrund der kollektiven Psyche der Verdacht lebt, dass die empirische Realität gar nicht das ist, als was sie sich so massiv darbietet. Dass sie vielmehr eine Welt des Trugs und des Scheins darstellt, die uns rätselhaft zum Narren hält und von der es sich zu befreien gilt, um derart zur eigentlichen Wirklichkeit vorzustoßen. Die abendländische Philosophie hat sich über zweieinhalbtausend Jahre lang an der nie gelösten Frage abgearbeitet, welcher Wirklichkeitsstatus oder welche ontologische Realität der Sinnenwelt zuzuordnen sei und ob man dem, was sich unseren Sinnesorganen zeigt, trauen könne. In anderer Konstellation und von anderen Voraussetzungen aus gilt dasselbe übrigens auch für das indische Denken.

Die Frage nach Wirklichkeit oder Schein der Raum-Zeit-StoffRealität ist nicht nur und wohl nicht einmal primär eine intellektuelle, sondern eine existenzielle, weil sie von zentraler Bedeutung für unsere Lebenspraxis ist: Was ist für mich wirklich? Hierüber hat jeder Einzelne, naturgemäß im Kontext kollektiver Wertungen und Vorgaben, seine je eigene Meinung im Gepäck. Gar nicht so selten werden hier ganz augenscheinliche Phantasmen durch den starken Glauben der Menschen zu machtvollen Wirkgrößen, ja zu quasi höheren Wirklichkeiten (zum Beispiel Papiergeld).

Seit der gescheiterten „psychedelischen Revolution“ in den 1960er-Jahren ist die Frage nach der Wirklichkeit der sogenannten veränderten Bewusstseinszustände — der hier erfahrenen anderen Zeit, des anderen Raums, des anderen und erweiterten Selbst — nicht verstummt. Hier gilt Analoges wie für die Nahtoderfahrungen und die in meditativen Zuständen erfahrbaren Veränderungen des Bewusstseins. All das hat den Blick neu geöffnet für Anderswelterfahrungen oder -näherungen überhaupt, für das riesenhafte empirische Material, das in den Weltkulturen bereitliegt. Diese Materialfülle und die Vielfalt der über psychoaktive Substanzen und meditative Praktiken erreichbaren Bewusstseinszustände haben freilich auch etwas Verwirrendes, und dies nicht nur wegen der unverkennbar pathologischen Faktoren, die hier in unterschiedlichen Graden mit eingeschlossen sind und oft für das Ganze genommen werden. Wie soll man sich dazu stellen? Wie soll man die eigene Anderswelterfahrung oder -näherung, wenn sie denn als eine solche erlebt und bewertet wird, einordnen? Ermutigungen in dieser Richtung finden sich in der herrschenden Intellektualkultur kaum. Und auch in religiösen Zusammenhängen sind sie nur sehr eingeschränkt anzutreffen, und wenn doch, dann eingebettet in moralisch-pädagogisch aufgeladene Vorgaben.

Die Anderswelt, auch im hier vertretenen erweiterten Begriffsverständnis, trägt diesen Namen, weil sie anders ist. Anders als das, was wir um uns herum über unsere Sinnesorgane und in uns im leiblichen Spüren erfahren, und auch anders als das, was uns Apparate, Fernrohre, Mikroskope, Computersimulationen und Cyberspacewelten anbieten.

Wie anders ist die Anderswelt? Dies ist eine Leit- und Schlüsselfrage, die fast etwas Mantrahaftes hat — oder zumindest so verwendet werden kann. Im Film „Matrix“ ist die wirkliche Welt keine von der Sinnenwelt strukturell gänzlich verschiedene Welt. Die bösartig fabrizierte Scheinwelt, welche die in ihr agierenden Wesen gefangen und zum Narren hält, ist nach dem Muster der wirklichen Welt gebaut, sie ist deren Abbild. Am Rande: Dieselbe Grundkonstellation liegt bereits in Rainer Werner Fassbinders berühmten Film „Welt am Draht“ von 1973 vor.

Die Frage nach der Andersheit der Anderswelt kann man auch so fassen: Wie anders ist die Wirklichkeit, die unsere Sinnenwelt durchdringt und trägt, wenn man sie mit dieser Sinnenwelt vergleicht? Gibt es überhaupt noch begehbare und verstehbare Brücken von „dort“ nach „hier“? Wenn es diese Brücken nicht gibt, weil die ontologische Differenz einfach zu gewaltig ist, dann muss uns, so könnte man zugespitzt sagen, diese andere Welt nicht ernsthaft beschäftigen. Dann ist sie während unserer inkarnierten Lebensspanne ein ohnehin nicht betretbares Land, eine hermetische Terra incognita, über die man nur vielfältig spekulieren und fabulieren kann, eben weil es keinen Zugang zu ihr gibt. Der Zustand nach dem Tod wird von vielen so bewertet.

Wenn wir hingegen annehmen, dass diese Anderswelt die eigentliche Wirklichkeit darstellt, die „Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit“ beziehungsweise unsere Quellsphäre, die — zumindest an ihren Rändern — durchaus erfahrbar ist, dann muss sie auch einen Repräsentanten in uns und in der Sinnenwelt haben, selbst wenn dieser sich zunächst einmal verbirgt und man argwöhnen könnte, es gäbe ihn gar nicht. In uns, aber auch (und das ist wichtig) in der „Welt da draußen“, muss es gewissermaßen Schlupflöcher oder „Tapetentüren“ geben, durch die hindurch wir „nach drüben“ gelangen können, zwar nicht einfach so und ohne Verwandlung, aber doch grundsätzlich. Dabei ist zu vermuten, dass unsere auf die Sinnenwelt ausgerichteten Organe und Antennen „drüben“ eher hinderlich sind: Hier bedarf es offenbar „höherer Organe“, woraus zugleich zu schließen wäre, dass solche im Menschen angelegt oder schlicht vorhanden sein müssen, wenn auch zumeist verschüttet.

Alles spricht dafür, dass der Mensch ein Doppelwesen ist; er ist Angehöriger oder Bewohner der Welt der Erscheinungen (wie Kant die Sinnenwelt nannte) und zugleich der Anderswelt, der zugleich tieferen und höheren, umfassenderen Wirklichkeit.

Und er weiß das auch in wachen Momenten, die sich einstellen können, wenn einschneidende Erlebnisse an den Koordinaten seiner Alltagserfahrung rütteln oder diese wegbrechen lassen. Von der Erscheinungswelt aus ist die Anderswelt eine „übersinnliche Welt“. Der Begriff „übersinnlich“ ist vielfältig belastet, ja fast kontaminiert, sodass man sich scheut, ihn überhaupt zu verwenden — dennoch greift er hier. Für „übersinnlich“ könnte man vielleicht auch „höhersinnlich“ sagen; ich erinnere an die angesprochenen „höheren Organe“.

Wenig beachtet wird, dass es zugleich so etwas wie das „Untersinnliche“ gibt, um einen Begriff von Schelling zu adaptieren, auf den gelegentlich auch Anthroposophen rekurrieren. Damit soll jene Dunkelzone in der Materie vor aller Gestaltenformung angesprochen werden, die nur der abstrakte Formalismus der Mathematik erreicht. Es ist eine Art von „schwarzer Anderswelt“, vielleicht gar ein Dämon, den man besser in der Flasche lässt. Der abstrakte Geist, wie er in der modernen Physik dominiert, fühlt sich in der Untersinnlichkeit seltsam heimisch. Wenn das Göttliche erkennbar ist, muss es einen Repräsentanten des Göttlichen im Menschen geben: „Gleiches wird nur von Gleichem erkannt“ (Empedokles). Dasselbe gilt auch für die „schwarze Gegenwelt“ des Untersinnlichen oder Noch-nicht-Sinnlichen. Man kann sagen: Es gilt generell, wo überhaupt etwas erkannt wird. Man erkennt wohl nur das, was man ist. Ein absolutes Außen (wenn es so etwas überhaupt geben kann), wäre prinzipiell unerkennbar; es wäre eine schwarze Wand, an der alles Innen zerschellt.

Zur Anderswelt führt streng genommen kein Weg, der zu begehen wäre: Wir müssen gar nicht gehen, weil wir schon in der Festung sind. Warum nenne ich die Anderswelt eine Festung? Die Anderswelt ist, wie die Gralsburg in Wolframs „Parzival“, gut bewehrt. Auf Unbefugte wirkt sie streng abweisend. Gierigen und auch nur neugierigen Blicken ist sie auf jeden Fall entzogen. Sie näherungsweise zu erkennen, wenn kein Gnadenakt zu ihr führt, ist an nicht hintergehbare Voraussetzungen gebunden, an eine bestimmte Bewusstseinsverfassung und wohl auch -reife. Und stets gilt, um das erneut zu betonen: Wie das anamnetisch Erinnerte muss auch das andersweltlich Erlebte und Erfahrene interpretiert und, wenn mitgeteilt, in größtmöglicher Genauigkeit sprachlich ins Bild gebracht werden. Ein unstrukturierter, affektiver „Gefühlsbericht“ reicht hier nicht aus, denn er gerät schnell in den Ruch des psychiatrisch Auffälligen. Wer Gurus folgt oder gar selbst beansprucht, als Guru zu gelten, mag den Ansprüchen an sprachliche Genauigkeit entsagen. Diese prinzipiell zu missachten, führt jedoch unweigerlich in die Nähe von anmaßender Attitüde oder gar Narretei.

Wie anders ist die Anderswelt? Damit hat auch die Frage zu tun, ob es eine „Wissenschaft der Anderswelt“ geben kann. Was ist Wissenschaft? Bezogen auf die Naturwissenschaften idealiter das Bemühen, weitgehend subjektfrei und damit objektivierend, am Leitfaden strenger Methoden den formalen Zusammenhang der Welt der Erscheinungen immanent zu beschreiben, das heißt ohne metaphysische oder gar göttliche Prinzipien heranzuziehen. Jeder Wissenschaftler, auch wenn er sich selbst als gläubig versteht, muss in methodischer Hinsicht Atheist sein. Hinzu kommt das Kriterium der Reproduzierbarkeit: Was Forscher A an Ergebnissen vorlegt, muss auch Forscher B, wenn die Ausgangslage vergleichbar oder identisch ist (etwa eine bestimmte experimentelle Anordnung), reproduzieren können.

Gelten diese Punkte in der Grundrichtung auch für die Anderswelt-Forschung, oder sind Kriterien wie Objektivierbarkeit und Reproduzierbarkeit hier nicht vielmehr unsinnig? Wenn es aber mit Blick auf die Anderswelterfahrungen und -näherungen keinerlei objektivierbare Maßstäbe gibt und vielleicht auch gar nicht geben kann — wo landen wir dann? Heißt das, dass wir uns damit prinzipiell im Bereich des Subjektiven, ja, verschärft gefasst, der bloßen Behauptungen bewegen, denen jede Verbindlichkeit fehlt? Hier betreten wir heikles Terrain. Wollen wir die Anderswelt beziehungsweise Erfahrungen in deren Nähe oder Vorhöfen nicht dem bloßen Mutmaßen und Meinen zuschlagen, dem „Glauben“ im weiten Sinn, dann muss sich Verbindlichkeit, auf die das Menschsein fraglos angelegt ist, anders konstituieren als nach dem Bezugsrahmen naturwissenschaftlicher Methoden und Prinzipien.

Wie aber soll und kann sich Verbindlichkeit auf einem so sensiblen, abgründigen und rätselhaften Gebiet wie dem der anderen und höheren Bewusstseinszustände herstellen?

In den großen Glaubenssystemen ebenso wie in vielen spirituellen Gruppierungen mit je eigenem Set an metaphysischen Grundannahmen und Prämissen gibt es für die Adepten in der Regel einen klar umrissenen Kanon dessen, was der Einzelne überhaupt erleben kann, ja in gewisser Weise darf. Die Geschichte der sogenannten Ketzer in den großen Religionen ist da recht deutlich: Wem Durchbrüche und Schauungen zuteilwurden, die in Widerspruch zu den heiligen Schriften oder Lehren standen, dem wurde im extremsten Fall die Existenzberechtigung abgesprochen.

Der moderne beziehungsweise postmoderne Mensch ist ein Vertreter der herrschenden Intellektualkultur, die über die Megatechnik den Globus regiert und in Teilen selbst Züge einer fundamentalistischen Religion aufweist. Es besteht ein allgemeiner Konsens, dass jeder, der in irgendeinem Sinn metaphysische oder spirituelle Wissensbehauptungen in die Öffentlichkeit trägt, dies tun kann und darf, solange er damit nicht übergreifende Machtansprüche verbindet oder Gefolgschaft einfordert. Es ist heute sogar legitim, ideologisches Falschgeld unter die Leute zu bringen, weil auf metaphysischem Gebiet ohnehin keiner irgendetwas Verbindliches wissen könne. Davon war schon die Rede. Da die alten Götter abgeräumt wurden oder verstummt sind und Offenbarungen eher Spott, Ironie und Misstrauen hervorrufen, sollte der Einzelne, wenn er denn meint, ihm sei eine Art Privatoffenbarung zuteilgeworden, ein altes irisches Sprichwort beherzigen: „Wenn du einem zweiköpfigen Schwein begegnest, halt den Mund!“ Das wäre manchem ins Stammbuch zu schreiben.

Die Erde jagt durch die kosmische Nacht, auf ihr der moderne beziehungsweise postmoderne Mensch, sich selbst ein quälendes Rätsel, das ihm auch und gerade die von ihm vergötzten Naturwissenschaften nicht erhellen. Die einst bergenden Sphären sind lange schon zertrümmert. Der große Kosmologe und Philosoph Giordano Bruno hat an ihre Stelle den unendlichen Weltseele-Raum gesetzt, welcher dann aber einer toten Mechanik blind umeinander herumfallender Gestirne im entseelten und nur äußeren Raum weichen musste. Von hier aus, bezogen auf die herrschende und für irreversibel erachtete Bewusstseinsverfassung der technisch hochgerüsteten Erdbewohner, konnte Peter Sloterdijk das „Projekt Weltseele“ für gescheitert erklären. Ich hingegen bezeichne dieses Universum des Nur-Außen-Raumes ohne bergendes Innen als gigantische Projektion. Gleichwohl haben wir es hier mit einer kollektiven und machtvollen Bewusstseinsrealität zu tun, der es sich zu stellen gilt und von der auch die Religionen und spirituellen Systeme nicht unberührt sind und sein können.

Wie verhält sich nun der Einzelne, wenn er in dieser kollektiven Bewusstseinslage grenzüberschreitende, transpersonale oder spirituelle Erfahrungen macht, also in die Nähe der Anderswelt gerät, vielleicht gar eine der erwähnten „Tapetentüren“ entdeckt und durchschritten hat? Erlebnisse dieser Art haben meist einen überwältigenden, die Navigationskraft des Ichs gefährdenden Charakter. Dabei ist es fast einerlei, wie diese Erlebnisse zustande kommen. Anderswelt-Nähe kann sich auf vielfache Weise herstellen. Das reicht von Techniken der Bewusstseinsschulung und Meditation über Nah-Todeserfahrungen, existenzielle Krisen und Umbrüche sowie spontane Öffnungen, die wie Gnadenakte wirken, bis hin zum Konsum bewusstseinsverändernder Stoffe als Vehikel und Werkzeuge der Innenweltforschung, wobei Letztere auf vermintes Gebiet führen, da der Grad der Verzerrung hier extrem sein kann.

Wer beispielsweise eine „Lichterfahrung der anderen Art“ macht — also subjektiv real das Empfinden hat, nicht das uns vertraute Sonnenlicht des Tages wahrzunehmen, sondern ein „Licht hinter dem Licht“, ein Anderswelt-Licht, das ihn in der Tiefe ergreift und von dem er sich gemeint fühlt, das ihm und nur ihm gilt —, und daraufhin das Bedürfnis hat, das Erlebte mitzuteilen, begibt sich in eine bedenkliche Lage, weil sofort zwei wesentliche Fragen aufbrechen:

a) Wem teile ich das Erlebte mit und warum? Eine Mitteilung, gerade auf diesem Feld, kann steigern, aber auch schwächen. Das ist abzuwägen.

b) Wie wird das in der Mitteilung ja nur noch Erinnerte sprachlich gefasst? Die Antwort auf diese Frage hängt naturgemäß vom Adressaten der Mitteilung ab. Dies festzustellen scheint trivial, ist aber von großem Gewicht: Ein falscher Zungenschlag kann hier fatale Auswirkungen haben, vornehmlich dann, wenn die Mitteilung über die „Lichterfahrung der anderen Art“ eine bestimmte Weltanschauung stützen soll oder einer solchen direkt widerspricht. Es gibt zahlreiche Beispiele, wo der Mitteilende sich in die Aura des Erlebten hüllt wie in einen Mantel, welcher Überlegenheit, tieferes Wissen oder Erwachtsein signalisieren soll. Der Faktor Sprache ist kaum zu überschätzen. Alles Erfahrene, auch das sogenannte Alltägliche, muss sprachlich kommuniziert werden, wenn es anderen Menschen, die es nicht selbst erlebt haben, zugänglich und nachvollziehbar werden soll. Wie weit aber reicht die Sprache zur adäquaten Mitteilung von Erfahrungen, die die Koordinaten der sinnlich-physischen Welt überschreiten? Ist die immer auf die „normale Sinnenwelt“ bezogene — weil aus dieser erwachsende — Sprache überhaupt geeignet zur Kommunikation von Anderswelt-Mitteilungen? Und führt die hier anzutreffende Schwierigkeit der sprachlichen „Übersetzung“, der Rückgriff auf dichterische Metaphorik, vielleicht gar nur in Form eines japanischen Haikus, nicht zwangsläufig zu einer Art Als-ob-Sprache?

Dante hat in seiner „Divina Commedia“ eine derart grandiose Jenseitsreise geschildert, die in eine Vision der himmlischen Sphären einmündet, dass die Frage naheliegt, was er im Jahr 1300 wirklich erlebt und geschaut oder auch anamnetisch erinnert haben mag. War es eine transpersonale, andersweltliche Erfahrung in Form einer kosmischen Öffnung oder Vision, die er in Bilder der ihm vertrauten christlichen Umwelt und der aristotelischen Kosmologie gekleidet hat, um sie überhaupt kommunizierbar zu machen? Die Schauung selbst könnte jenseits dieser Bilder und Traditionen angesiedelt gewesen sein. Oder waren die Visionen mehr oder weniger so, wie sie die Dichtung in unvergleichlicher Sprachkraft zum Ausdruck bringt? Es ist klar, dass sich diese Frage, so direkt und naiv gestellt, nicht beantworten lässt. Aber sie ist nicht nur legitim, sondern geradezu geboten, auch um der geistigen Redlichkeit willen, wenn es um Wahrheit und Wirklichkeit von Anderswelt-Erfahrungen geht, um deren Ontologie sozusagen. Philosophische Reflexion bedeutet stets auch „weiterfragen“, unermüdlich und bohrend und am Leitfaden der Tiefenerinnerung an unseren kosmisch-geistigen Ursprung. Platon hat hierfür den Begriff der Anamnesis in die höhere Philosophie eingeführt: Ohne Anamnesis kann es keine Philosophie geben, die diesen Namen verdient.

Auch beim „Bardo Thödol“, dem tibetischen Totenbuch, brechen ähnliche Fragen auf. Welche konkreten Erfahrungen könnten diesem unvergleichlichen Text zugrundeliegen? Auch hier können wir nicht erwarten, rundum klare und überzeugende Antworten zu finden. Dem Autor des „Bardo Thödol“, so könnte man vereinfachend und undifferenziert sagen, war es vergönnt, einen „Blick hinter die Kulissen“ zu werfen.

Andersweltliche Schauerlebnisse und Erfahrungen tiefer Meditation ließen ihm die meist undurchdringliche Wand, die das „Diesseits“ von der „übersinnlichen“ oder „höhersinnlichen“ Welt trennt, durchlässig werden und öffneten ihm das Bewusstsein für die Wahrnehmung der NachTod-Sphäre.

Die Bilder des tibetischen Totenbuchs entstammen der tantrisch-buddhistischen Vorstellungswelt, gehen aber nicht darin auf beziehungsweise sind nicht darauf reduzierbar. Der kulturell-projektive Anteil scheint insgesamt kleiner zu sein als bei der „Göttlichen Komödie“; das „Bardo Thödol“ wirkt, als sei es näher an der eigentlichen Nach-Tod-Wirklichkeit als das Dante’sche Epos.

Sprache ist von kaum auszulotender Bedeutung. Zu ihr gehört ein kultureller Kontext, gehören Bilder, Vorstellungen und Wertungen, die den jeweiligen Zeitgenossen zugänglich und vertraut sind und die sie auch benötigen, um Erfahrungen für sich und andere überhaupt verstehbar zu machen. Nun weiß man, dass gerade spirituell orientierte Menschen gerne das „Unsagbare“ heraufbeschwören, oft im Ton des Raunens und der Abwehr gegenüber phänomenologischer Genauigkeit, die irgendwie als beeinträchtigend und schmälernd empfunden wird, als wäre es illegitim, so exakt wie möglich an das andersweltliche Erlebnis heranzugehen.

Es besteht kein Zweifel, dass es das Unsagbare gibt und dass die Sprache, auch in ihrer differenziertesten und subtilsten Form Grenzen hat. Nicht selten sagt ja die Musik mehr, als Worte zu sagen vermögen, auch und gerade dann, wenn es um das Jenseits der physisch-sinnlichen Welt geht: Was für ein sprachliches Äquivalent gäbe es wohl für den langsamen Satz der Neunten Sinfonie von Beethoven oder das Adagio des C-Dur-Streichquintetts von Franz Schubert? Gleichwohl wird das Unsagbare meist entschieden zu früh ins Feld geführt, also lange bevor das erschlossen und erfasst wurde, was sich als sprachlich zugänglich erweist. Grundsätzlich plädiere ich für eine Phänomenologie des Erlebten in Anderswelt-Nähe, in veränderten Bewusstseinszuständen, die nicht sofort weltanschaulich festlegt und einengt, also vorschnell interpretiert. Es kommt vielmehr darauf an, das Bewusstseinsphänomen so genau, differenziert und lebendig wie möglich in den Blick zu nehmen und die Sprache, durchaus deskriptiv und nicht vordergründig wertend, so weit voranzutreiben, wie es nur irgend geht. Wichtig ist, dass die Sprache geschmeidig und am lebendigen Phänomen ausgerichtet bleibt und nicht ins Theoretisch-Abstrakte abgleitet. Echte Bewusstseinsphänomenologie, lebendige Phänomenologie überhaupt, ist gerade heute von zentraler Bedeutung, wo sie so spürbar auf ganzer Front fehlt. Eine „andere Bildung“ hätte auch hier anzusetzen.

 

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