Dolfs Glück

 In FEATURED, Politik (Inland), Roland Rottenfußer

Das Totenhaus – eine abgeschlossene Geschichte (3). René Weberknecht, ein Vertreter der radikalen Linken, war im zweiten Teil dieser Geschichten-Reihe unter unglücklichen Umständen verstorben – nicht ohne ein letztes leidenschaftliches Bekenntnis hinterlassen zu haben: “Haltet euch an die Regeln!” So sind eben Linke heutzutage. Aber wie steht es mit der Gegenseite, den Rechten? Konnten sie von der Cornetto-Krise profitieren, die das Land seit Monaten in Atem hält und es erforderlich machte, dass alle Bürger des Landes 24 Stunden am Tag in ihren Wohnungen bleiben? Werfen wir einen Blick auf einen besonders gewöhnungsbedürftigen Nachbarn unseres Erzählers: Dolf Falkenberg. Roland Rottenfußer

Der Tod von René Weberknecht hatte natürlich eine spürbare Lücke in das Gefüge unserer Nachbarschaft gerissen, speziell auch was das politische Gleichgewicht im Block betraf. Die Linke war dort mit ihm praktisch verschwunden. Das bedeutete einen erheblichen strategischen Vorteil für Renés erklärten Gegenspieler Dolf Falkenberg. Dolf war Mitglied der Wehrsportgruppe „Arische Kameraden“. Er hieß eigentlich Rudolf, kokettierte aber wohl damit, dass Menschen, die seinen Namen zum ersten mal hörten, zu „Dolf“ eine andere Vorsilbe ergänzen würden, die ihm einen Anstrich des Verruchten gab.

Es hatte auch öfter Schwierigkeiten mit einem anderen Nachbarn gegeben, Aslan Ülüsü, den Dolf auf dem Treppenhaus als „Dattelfresser“ und „Vaterlandsüberschwemmer“ beschimpft. Ülüsü, so Dolf, habe Cornetto “eingeschleppt” und sei daher mit seinesgleichen an all den Todesfällen und Freiheits-Einschränkungen schuld. Der reagierte auf diese Anfeindungen immer sehr passiv und duldsam. Er versuchte sich nach einer Begegnung mit Dolf immer schnell in seine Wohnung zu verdrücken.

Das war kein Wunder, denn der türkischstämmige Deutsche in dritter Generation hatte in der Nachbarschaft in letzter Zeit einen schweren Stand. Obwohl er der einzige Nicht-Deutsche von 46 Bewohnern war, sprachen nicht wenige von einem „unerträglichen Ausmaß“ an Überfremdung im Wohnblock. Von immer mehr Mitbewohnern waren Aussagen zu hören, die wie Kopien der üblichen kruden Rhetorik Dolf Falkenbergs wirkten.

Anfangs versuchte ich bei solchen Äußerungen meiner Nachbarn noch rhetorisch dagegen zu halten, indem ich sagte: „Du, ich kann dich da teilweise gut verstehen, aber meinst du nicht, dass man das differenzierter sehen müsste?“ Nachdem ich mir aber mit derartigen Interventionen einige Male im übertragenen Sinn eine blutige Nase geholt hatte und als „Überfremdungs-Defätist“ und „Kanakenversteher“ beschimpft worden war, hielt ich mich in der Folgezeit ruhig. Ich pflegte auch ein erträgliches Verhältnis zu Dolf, obwohl mir seine Weltanschauung eigentlich ganz und gar nicht behagte. Mit etwas Übung gelang es mir jedoch, dass man mir meine antifaschistische Überzeugung nach außen hin in keiner Weise mehr anmerkte. Seitdem herrschte zwischen meinen Nachbarn und mir relative Harmonie – ich bin eben ein harmoniebedürftiger Mensch.

Dolf hatte eine Wohnung mit einem Balkon, der zu meinem in einem rechten Winkel stand. Auf diese Weise konnten wir uns manchmal halblaut miteinander unterhalten. Was natürlich nur mit der Gesichtsmaske möglich war, denn alle Nachbarn mit Balkonen zum Innenhof konnten uns dort stehen sehen. Mit nacktem Gesicht auf dem Balkon gesehen zu werden, hätte unweigerlich einen Besuch der Eingreiftruppe nach sich gezogen.

Am Tag nach Renés Tod, als ich wieder mal auf dem Balkon stand, rief mir Dolf zu: „Die linke Sau hat es erwischt! Ein guter Tag für Deutschland.“ Ich antwortete darauf lieber gar nichts und winkte ihm zu, wobei ich meinen Mund, den er wegen der Maske gar nicht sehen konnte, zu einem etwas gezwungenen Lächeln verzog. „Jetzt müsste nur noch der Kanakenarsch in den Tod springen“, legte Dolf nach.

Aslan Ülüsü allerdings war in der Woche zuvor in die Türkei zurückgezogen. Er hatte mir in einer Email geschrieben, er lebe lieber unter Erdogan. In der Türkei gebe es immerhin noch mehr Freiheiten als in Deutschland. Ich fand das übertrieben und polemisch. Ich weiß wirklich nicht, was gegen Deutschland in diesen Tagen einzuwenden sein soll.

Dolf wusste offenbar noch nichts von Herrn Ülüsüs Emigration. Er freute sich aber sichtlich. „Ich habe ja grundsätzlich gar nichts gegen Kanaken, solange sie bei sich zu Hause in Kanakistan bleiben und ihre Datteln fressen“, feixte er. Wieder hielt ich es für ratsam, auf Dolfs Provokation nicht zu reagieren.

Stattdessen fragte ich ihn, was seine Partei, die Arischen Kameraden, denn von den derzeitigen Cornetto-Maßnahmen der Regierung hielten. Ich hatte dabei noch Renés Aussage im Hinterkopf, die Rechten träten jetzt für unverantwortlich frühe Lockerungen ein.

„Oh, ich bin nicht mehr bei den Kameraden“.

„Wirklich?“, fragte ich. „Das überrascht mich jetzt doch. Bist Du politisch nicht mehr auf ihrer Linie?“

„Natürlich, was denkst Du von mir?“, sagte Dolf, der wegen meiner Frage fast beleidigt schien. „Aber weißt Du: eigentlich sind wir jetzt überflüssig geworden. Schließlich haben wir uns auf ganzer Linie durchgesetzt.“

Ich bat ihn, mir das näher zu erklären.

„Schau, die Grenzen sind dicht. Deutschland wird nicht länger von Flüchtlingen überflutet. Wenn jemand meint, jetzt noch unbedingt ins Mittelmeer springen zu müssen, dann soll er da ersaufen. Die deutsche Grenze jedenfalls erreicht er nicht mehr. Der kommt schon in Italien nicht mehr an Land. Außerdem: durch die scharfe Überwachung und die Ausgangssperren ist die Kriminalität stark zurückgegangen. Die Ausländer müssen alle daheim blieben.“ Er lachte. „Unser Staat hat sie einfach weggesperrt. Wie sollen die da noch ihre üblichen Ehrenmorde begehen oder einen Sprengstoff-Anschlag? Die kommen ja nicht mal mehr vor ihre eigene Haustür.“ Jetzt brach Dolf in ein glucksendes Lachen aus. „Natürlich ist es ein Schandfleck, dass diese Dattelfresser in unserem Land immer noch existieren. Aber das gute ist: Sie bleiben daheim. Wir brauchen ihre Schwarzhaar-Fressen und ihre vollverschleierten Frauen nicht mehr sehen.“

Ich wandte ein, dass diese Tatsachen seine Aussage, die „Arischen Kameraden“ hätten sich auf ganzer Linie durchgesetzt, noch nicht rechtfertigten.

„Da ist ja noch mehr“, sagte Dolf mit sichtlichem Behagen. Das Gesprächsthema schien ihm zu gefallen. „Wir haben endlich wieder einen starken Staat. Diese respektlosen Chaoten halten ihr Maul oder es geht ab ins Isolationslager. Es wird nicht mehr diskutiert, wenn die Polizei was anordnet, es wird pariert, wie es sich gehört.“

In seine Augen trat nun ein eigentümliches Leuchten, als nähme er in der Ferne etwas unfassbar Schönes wahr. „Es herrscht wieder Ordnung in Deutschland. Alle halten sich an die Regeln – und wehe, wenn nicht! Die Deutschen halten zusammen. Wer nicht mitspielt, wird denunziert. Die Obrigkeit hat sich wieder Respekt verschafft. Es gibt keinen Ort mehr, wo du noch unbeobachtet bist. Es gibt keinen Ort mehr, wo du noch frei bist. Das war es doch, was wir die ganze Zeit wollten. Wozu braucht es da noch die Arischen Kameraden? Die anderen Parteien haben uns die Arbeit abgenommen. Und sie machen das ganz famos, wenn Du mich fragst!“

Dolf kicherte wieder und blies seinen Atem stoßweise gegen die Innenseite seiner Maske. „Viele meiner Kameraden treten jetzt aus. Ich denke, die Gruppe wird sich über kurz oder lang auflösen.“

Ich verabschiedete mich höflich von Dolf. Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich war, zu erfahren, dass die faschistische Gefahr jetzt vorüber ist.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen