Eine Frage der Ehre

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Philosophie, Politik

In Zeiten epochalen Versagens des links-grünen Milieus kann die Besinnung auf „konservative“ Werte heilsam sein, weil diese uns als Menschen vervollständigen. Die Ehre ist ein altmodischer Wert. Wenn das Wort heute überhaupt noch Erwähnung findet, dann in ironischer Form. Man denkt an „Ehrpusseligkeit“, an Ehrenmorde oder Duelle zwischen Gentlemen im Morgengrauen, die wegen einer Nichtigkeit ihr Leben aufs Spiel setzen. Aber bräuchten wir nicht eigentlich dringend mehr Ehrgefühl? Ist es nicht gerade das Fehlen von Ehrbarkeit, woran es am schmerzlichsten mangelt und was die Grundlage so vieler Negativentwicklungen darstellt, unter denen wir derzeit leiden? Wir müssen freilich definieren, von welcher Ehre wir sprechen. Wenn wir von der uns umgebenden Gesellschaft bestimmen lassen, was „anständiges“ Verhalten ist und was nicht, führt das nur zu einem peinlich angepassten Konformismus. Ob bei dieser Anpassung etwas Gutes herauskommt, hängt von den gerade im Zeitgeist dominierenden Narrativen ab. Es sind schon Menschen auf dem „Feld der Ehre“ für völlig irrsinnige Kriegszwecke gestorben und haben Fremde aus anderen Ländern umgebracht. Richtig verstanden, bedeutet Ehre, das für richtig Erkannte zu tun, ohne durch ein Gesetz oder äußeren Druck dazu gezwungen zu sein. Und die falsche Tat zu unterlassen, selbst wenn man ihretwegen keine Bloßstellung oder Strafe befürchten müsste. So gesehen würde eine Rückkehr der Ehre in den öffentlichen Raum — nach längerer Abwesenheit — nicht weniger bedeuten als die Schaffung einer lebenswerteren Gesellschaft. Vom Autor des Buchs „Strategien der Macht“, das am 20. März im Rubikon-Verlag erscheint. Roland Rottenfußer

 

„Wo ist unsere Wut? Wo ist unsere Ehre? Wo steht geschrieben, man solle sich nicht wehren? Ist da noch Leidenschaft in unserem Herzen? Was ist unsere Heimat uns noch wert?“ Dies sang der als „Corona-Protestsänger“ bekannt gewordene Alex Olivari in seinem Musikvideo „Dieb in unserem Garten“. Als ich dieses Lied zum ersten Mal hörte, war ich gleichzeitig irritiert und „geflasht“. Waren diese Sätze nicht viel zu altbacken? Ich spürte aber, dass Olivari damit einen Nerv getroffen hatte. Wut und Leidenschaft — die haben in der Zeit der Corona-Unterdrückung zweifellos gefehlt. Dem könnten politisch Denkende verschiedenster Richtungen sicher zustimmen.

 

„Dieb in unserem Garten“ Alex Olivari

Bei der „Heimat“ werden viele aber bereits die Schotten dichtmachen. Dieser Begriff wird meist „rechts“ verortet. Dabei können wir ihn durchaus differenziert betrachten und eine Heimatverbundenheit fühlen, die nichts mit patriotisch-chauvinistischen Exzessen zu tun hat. Ein „liebevolles und aufgeklärtes Festhalten an Dingen, Orten und Menschen, denen wir — gewollt oder ungewollt — zugehören“ hatte ich es in einem älteren Artikel formuliert. Gerade den Begriff Ehre empfand ich in dem Lied aber als besonders anregend, denn ich hatte lange nichts mehr von ihr gehört, der Ehre — eher von smarten Bemühungen, sich dem jeweils Angesagten anzupassen.

Warum sollte man Aussagen wie denen Olivaris nicht mit Offenheit begegnen? Es geht nicht darum, sich mit Haut und Haaren dem „rechten Lager“ zu verschreiben — etwa den Unionsparteien oder der AfD —, sondern darum, jene Seelenanteile, die man vereinfachend als konservativ bezeichnen könnte, liebevoll zu integrieren. Und das betrifft sowohl Kräfte, die in uns selbst wirksam sind, als auch solche, die von außen, durch andere Menschen, auf uns zukommen. Wir müssen dabei nicht zu einer Karikatur des Reaktionärs werden, irgendetwas zwischen Björn Höcke, US-amerikanischen Evangelikalen und den Gästen einer Volksmusiksendung mit Florian Silbereisen. Wobei der ja neuerdings auch „woke“ ist und für seine Coverversion des Klassikers „1000 und eine Nacht“ das angeblich rassistische Wort „Indianer“ rauszensierte. Bei solchen „Progressiven“ wird Konservativismus wieder zu einer Verlockung.

Der Konservative im Schatten

Sollten wir Bewährtes bewahren oder kühn zu Neuem voranschreiten? Die Antwort ist: Es kommt darauf an. Um das zu entscheiden, braucht es wirkliche Wahlfreiheit, bei der bestimmte Entscheidungen nicht mit gesellschaftlicher Ächtung sanktioniert werden. Sodann braucht es Freiraum, das Gewählte leben zu können, ohne äußeren und profitgetriebenen Zwang, sich andauernd wieder „selbst erfinden“ zu müssen. Der Liedermacher Hannes Wader verweigert sich in einer Passage seiner Autobiografie dem Ansinnen, er müsse sich andauernd weiterentwickeln: „Nun bin ich aber kein Anhänger des Axioms, dass der Mensch bis zu seinem Ende nicht nur lernen und sich weiterentwickeln kann, sondern muss. Ich möchte im Alter eher meine Ruhe haben. Die Vorstellung, mich noch auf dem Sterbebett, in meinen letzten Zügen, röchelnd weiterentwickeln zu sollen, betrachte ich als Zumutung.“

In einer Zeit des andauernden Veränderungs- und Selbstoptimierungsdrucks ist der Entschluss, man selbst bleiben zu wollen, gewissermaßen schon revolutionär.

In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheit, den konservativen Anteil in mir zu entdecken und ihn mir endlich auch einzugestehen. Verdeckt wurde diese heimliche Neigung durch eine jahrelange einseitige Verortung im links-grünen Lager. Diese war letztlich eine Nachwirkung der geschichtlichen Erfahrung des Dritten Reiches. Natürlich, wenn die Nazis rechts waren, welche politische Richtung blieb da für einen geschichtsbewussten Menschen noch übrig? Problematisch wird dieser Linksdrall nur, wenn zusätzlich zu wirklich schlimmen rechten Ideologien wie Rassismus und Militarismus auch noch Trachtenjanker und Volkslied dämonisiert werden, gemäßigte Heimatliebe oder das Prinzip unternehmerischer Freiheit — alles Dinge, die normalerweise eher „rechts“ als „links“ verortet werden.

Was sich korrekt anfühlt, ist nicht unbedingt weise. Zu sagen: „Ich bin dies, das bin ich nicht“ kommt einer Selbstbeschneidung gleich, einer Halbierung des eigenen Wesens.

Nach dem Gesetz des Schattens kehrt das Ungelebte, also das, was wir nicht als uns zugehörig anerkennen wollen, auf Umwegen zu uns zurück. Vor allem begegnet es uns in Gestalt der „anderen“, also jener Menschen, die wir nicht mögen und ablehnen. C. G. Jung, der Entdecker des Schatten-Archetyps, sagte: „Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten, und damit kommt er in die Mitte.“ Mit Bezug auf unser Thema „Links“ und „Konservativ“ ist zu sagen: „Schatten“ meint hier nicht das Böse, das ein Guter an sich nicht wahrhaben will. Vielmehr geht es generell um das Nichtgesehene, das sich außerhalb des Lichtkegels unserer Aufmerksamkeit bewegt. Das kann für manche ein für sie selbst verstörender Hang zum Sozialen sein, für andere ist es ein verleugneter, nur verstohlen gepflegter Hang zum Konservativismus.

Corona und das Ende linker Glaubwürdigkeit

Das drastische Versagen des links-grünen Lagers während der Corona-Epoche war für mich ein Weckruf. Dieser konfrontierte mich schmerzlich mit der Frage: Will ich das Etikett „links“ oder „grün“ opfern oder jene Persönlichkeitsanteile, die mich in den Augen meiner alten Peergroup offenbar zwingend in Nazi-Nähe rückte? Angesichts der haarsträubenden, freiheitsfeindlichen Äußerungen aus den Lagern von SPD, Grünen, Linken, Attac, Gewerkschaften und zahlreicher sich „links“ positionierender Prominenter ertappte ich mich dabei, bei Videos von Bild TV, Boris Reitschuster oder Henryk M. Broder Trost und Erholung zu suchen. Diese mochten nicht in jeder Hinsicht meine Richtung vertreten, aber sie waren Oasen in der Bewusstseinswüste der großen Corona-Kampagne.

Natürlich bleibe ich ein sozial denkender Mensch, dem an Arbeitnehmer- und Angestelltenrechten gelegen ist und der auch die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft nicht vergessen will. Ich werfe also nicht das „Linkssein“ an sich von mir, sondern nur die linke Fassade, wie sie mir im Verhalten von Vertretern des linken Spektrums entgegentritt. Diese verhielten sich zwar oft linkisch und gegenüber Gegnern in der Coronafrage absolut link — an sozialem Gewissen ließen sie es jedoch schmerzlich fehlen, gerade wenn man an die wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns für Geringverdiener denkt.

Natürlich bleibe ich auch am Schutz meiner Mitwelt interessiert, der Tiere und Pflanzen vor allem, denen ich in meiner eher ländlichen Heimat immer wieder gern begegne und ohne die ich nicht leben möchte. Und ich bleibe weltoffen, auch integrativ gegenüber Menschen, die „anders“ sind — sei es wegen ihrer Herkunft, sexuellen Orientierung, ihres Behinderungsgrads oder anderer Eigenschaften. Dennoch hatte sich seit Corona etwas in mir verschoben: die Grenzen zwischen „meinem“ Lager und dem „der anderen“. Gut und Böse waren nicht mehr so klar zu verorten, jedenfalls nicht pauschal, aufgrund von Parteienzugehörigkeiten oder der Verwendung eines linken Phrasenrepertoires.

Zentral war für mich die Erfahrung des Bürgerverrats durch die linken und grünen Parteien und ähnlich gesinnter „Prominenter“, die im Kern auch Selbstverrat war. Wo früher einmal Freiheitsliebe war, wurden jetzt Impfdruck und Maskenzwang bejaht. Wo Pazifismus war, wurde jetzt über Waffensysteme und ihre dringend notwendige Lieferung in Kriegsgebiete schwadroniert und so weiter.

In dieser Epoche des Umbruchs stellen sich mir also zwei Aufgaben: erstens den „konservativen“ Anteil in mir selbst vorurteilsfrei anzuschauen, ihn, wo er vor einer kritischen Selbstprüfung Bestand hat, zu bejahen als einen legitimen Teil des eigenen Wesens; zweitens den authentischen Kern der links-grünen Weltanschauung herauszulösen aus der Verzerrung und Entstellung, den ihm real existierende Linke oder Grüne beschert haben, und das Wertvolle daran zu bewahren.

Diese beiden Aufgaben stellen sich für viele der heute politisch wachen — nicht zu verwechseln mit „woken“ — Menschen.

Aufgezwungene Disruption

Der zweite Schock für mich war und ist die übereilte, die Seele überfordernde Zwangsbeglückung durch jeweils neue Technologien und deren „Updates“, die einer fortwährenden Vertreibung aus vertrauen Zonen des Denkens und Handelns gleichkommt. Nicht Entwicklung beziehungsweise Veränderung an sich ist das Problem — die ist unvermeidlich und bereichernd, wo sie zum richtigen Zeitpunkt kommt und im eigenen Rhythmus gestaltet werden kann —, es ist dieses Gefühl des gewaltsamen vorwärts Getriebenwerdens mit der Peitsche vermeintlicher Sachzwänge.

Ein besonders abstoßendes Beispiel für diese Mentalität der Technologie-Antreiber gibt Klaus Schwab, der Gründer des World Economic Forum, in seinem Buch „Die Vierte Industrielle Revolution“. Immer scheint bei Schwab irgendetwas anderes wichtiger und mächtiger zu sein als der Wille oder die Bedürfnisse der Menschen. Die neuen Zwingherren sind bei ihm meist abstrakte Begriffe wie „die Veränderungen“: „Die Veränderungen werden tiefgreifend sein. Daher ist es unabdingbar, schonungslos zu prüfen, ob Organisationen in der Lage sind, auf diese veränderten Bedingungen schnell und agil zu reagieren.“ Oder die „Kräfte, die die Vierte Industrielle Revolution antreiben, üben auf alle einen starken Anpassungsdruck aus“. Unternehmen oder auch ganze Wirtschaftszweige würden „einem permanenten darwinistischen Anpassungsdruck unterworfen sein, und daher wird sich die Philosophie des ‚unermüdlichen Besserwerdens‘ (der ständigen Weiterentwicklung) zunehmend durchsetzen.“ Regierungen und Parlamente werden „oftmals von den Ereignissen überholt, weil sie nicht mit der Schnelligkeit des technologischen Wandels Schritt halten und seine Tragweite nicht richtig einschätzen können“ (1).i Und so weiter.

Aufgezwungene Disruption, also die Zerstörung des Vertrauten, um das Neue als Kopfgeburt einer selbst ernannten Avantgarde überfallartig zu installieren, ist stets ein Machtinstrument gewesen.

Intendiert ist eine „Kulturrevolution“, um ein Beispiel aus der chinesischen Geschichte zu verwenden. Eine Politik der Abrissbirne, um Gefühle der Desorientierung und Entwurzelung bei den ihr unterworfenen Menschen zu erzielen. Wo das Vertraute und Liebgewonnene mutwillig zerstört wird, ist Konservativismus Selbstschutz. Hier sollte der Notwehrparagraf greifen, um in einem aufgezwungenen Kampf —wenn dieser schon unvermeidlich ist — wenigstens nicht von Anfang an die Waffen zu strecken.

Karikaturen des Konservativismus

Wer heute „konservativ“ sagt, sollte dabei also nicht in erster Linie an Politiker wie Friedrich Merz, George W. Bush, Recep Tayyip Erdigan oder Silvio Berlusconi denken. Diese gleichen eher Karikaturen des Konservativismus. Politiker der Rechten bedienen aus purer Berechnung einen militaristisch-autoritären Randbereich des Spektrums. Sie fordern harte Strafen für Verlierer der Systeme, die sie selbst geschaffen haben. Sie marschieren in Länder ein, die ihnen nichts getan haben, und grüßen mit gespielter Ergriffenheit den Fetisch der Nationalflagge. Nein, danke! Der Konservative bewahrt zunächst sich selbst, und das ist unvereinbar mit einem Bild des Menschen als Ware. Konservativ zu sein heißt also vor allem, die Macht des Kommerziellen zu brechen. Es ist die Lebenslüge der sogenannten christlichen und bürgerlichen Parteien, dass sie dem Ökonomismus ihre Seele verkauft haben. Ihr Dogma, der Neoliberalismus, zerstört Heimat und Familie, Ehre und Vertrauen — keine Begriffe, die für mich heilige Kühe sind, aber Begriffe, mit denen die politische Rechte gern arbeitet.

Wer sein Herz am Eingangstor zur politischen oder journalistischen Karriere abgegeben hat, stänkert gern gegen die „Irrationalität“ traditioneller Konzepte. Er versteckt sich hinter einer gleichmütigen Fassade und professionellem Zynismus. Selbstverständlich hat Konservativsein auch etwas mit Emotionalität zu tun, die noch nicht unter Sachzwängen vergraben ist. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurden viele Menschen entwurzelt. Sie mussten ihre ländlichen Regionen verlassen und fanden sich in einer Stadtlandschaft von unfassbarer Hässlichkeit wieder. Das hat Millionen von Menschen das Rückgrat gebrochen. Sie verloren das Gefühl dafür, was ihnen guttut und was nicht. Im Kommunikationszeitalter kommen ein massiver Verfügbarkeitsdruck dazu und der Zwang zu unbegrenzter Flexibilität. Für die Karriere muss man jederzeit bereit sein, Frau, Kinder, Freunde und gewohnte Umgebung zu verlassen. Nichts gegen Reisen, aber die meisten von uns brauchen einen Ort, zu dem sie zurückkehren können.

Auch der Berufsalltag ist politisch. George Orwell erzählte in „1984“ von einem System, in dem es keine Solidarität mehr gab außer zum Großen Bruder. Der Große Bruder von heute —das sind die Machtkartelle des Turbokapitalismus: Großkonzerne, Banken, IT-Giganten und willfährige Medien. Entwurzelte Menschen sind leichter manipulierbar, deshalb versuchen die technokratischen Eliten alles vermeintlich Konservative zu ironisieren. Selbst die Behauptung, es gebe in der Regel zwei Geschlechter, Männer und Frauen, kann einen heute dem Verdacht aussetzen, ein reaktionäres Familienbild zu repräsentieren. Zu den Gräueln des „Progressiven“ gehört aber vor allem der Wachstumszwang. Dahinter steckt die Dynamik des zinsbasierten Geldes. Wachstumszwang bedeutet Veränderungszwang, und heute wächst das Tempo der Veränderung mit der Dynamik einer Exponentialkurve.

Allgemeiner Ehrverlust

Nun aber zurück zum Begriff „Ehre“. Man hört ihn heute kaum mehr — außer im Zusammenhang mit Ehrenmorden. Genau daran krankt ja unsere Gesellschaft. Ehre ist, was unser Leben lebenswert macht, weil das geschriebene Gesetz immer nur eine Annäherung an wünschenswertes Verhalten erzwingen kann.

Du kannst im Gefängnis sitzen, weil du höchst ehrenhaft gehandelt hast. Du kannst aber auch in Freiheit sein, reich und hoch angesehen, und ein Lump.

Ein Manager, der für höhere Renditen jene Mitarbeiter entlässt, denen die Aktionäre ihren Reichtum verdanken, hat seine Ehre verloren. Er müsste gesellschaftlich geächtet werden, bis er den Schaden wiedergutgemacht hat. Heute darf so ein Mensch nicht nur auf Schonung hoffen, er wird auch noch als besonders smart hofiert, und man lobt seinen Mut zu unpopulären Entscheidungen.

Ehre bedeutet, aufgrund von Weisheit, Güte und Gemeinschaftsgeist freiwillig auf Vorteile zu verzichten. Es bedeutet, Menschen auch dann gut zu behandeln, wenn sie nicht die Macht haben, uns andernfalls zu schaden.

Wir haben im Landkreis einen kleinen Bio-Hühnerhof mit Tieren, die auf einem großen Geländer frei herumlaufen. Die Bäuerin lässt die Tür zum Eierlager immer offen und legt ihren Kunden vertrauensvoll ein Portemonnaie hin, um zu bezahlen. Es wäre leicht möglich, Eier und Geld zu stehlen. Aber es wäre unehrenhaft. Deshalb bezahle nicht nur ich die entnommenen Eier — so handeln auch die meisten anderen Kunden, sodass sich das freizügige Angebot für die Bauernfamilie offenbar lohnt.

Im Film „Zeiten des Aufruhrs“ von Sam Mendes gibt es einen schönen Satz: „Im Grunde wissen wir immer, was die Wahrheit ist, egal wie lange wir ohne sie gelebt haben.“ Das gilt auch für die Ehre. Ihre Grundregeln kennt jeder in einem vergessenen Winkel seiner Seele. Wir treten nicht auf einen Schwachen ein, der am Boden liegt, wir helfen ihm auf. Wir veruntreuen kein Geld, das uns anvertraut ist, selbst wenn wir vor dem Gesetz damit durchkommen würden. Wir suchen einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen, anstatt wie ein kleines Kind andauernd „Ich!“ zu schreien. Wir stehlen die Ernte nicht von dem, der für sie hart gearbeitet hat. Wir verkaufen die Menschen, die uns vertrauensvoll zu ihren Vertretern bestellt haben, nicht für Geld an Dritte. Sie ahnen, worauf ich hinauswill? Unser politisches und ökonomisches System hat längst seine Ehre verloren.

Verrat in den Zeiten von Corona

Tausende von Menschen haben in den letzten drei Jahren ihre Freunde, Kollegen und Verwandten verraten, weil diese vielleicht ungeimpft waren oder zum Thema „Corona“ eine abweichende Meinung vertraten. Wirte und Geschäftsinhaber haben ihre Stammkunden ausgesperrt, Klinikchefs ihre fleißigsten Pfleger, Arbeitgeber ihre Mitarbeiter, die sich über viele Jahre für die Firma eingesetzt hatten. Für die Profite von Pharmafirmen wurden Menschen von „ihren“ Politikern wie eine Viehherde mit Stromstößen medialen Drucks zu den Impfzentren getrieben, wo sie einem erheblichen Gesundheitsrisiko ausgesetzt waren. Für die Profite von Rüstungsfirmen und den Ausbau der globalen Dominanz der USA sollen Bürger dazu bewegt werden, freiwillig zu frieren, zu verzichten und zu riskieren, bei einem großen Krieg ums Leben zu kommen. Es gibt schon einen guten Grund dafür, dass man den Begriff „Ehre“ in letzter Zeit selten hört. Er könnte viele Menschen schmerzhaft daran erinnern, dass sie ebendiese längst verloren haben.

Richtig verstandene Ehre ist etwas, wonach sich viele Menschen verzweifelt sehnen. Es bedeutet, vertrauen zu können und sich selbst als vertrauenswürdig zu erleben. Als Erwachsene haben wir durch bittere Erfahrung gelernt, dass wir misstrauisch sein müssen, weil Ehre unserem Gegenüber nichts bedeutet. Wenn wir in eine Geschäftsbeziehung eintreten, erwarten wir vom anderen nichts anderes, als dass er uns übervorteilt, wo er kann. Fast jeder agiert nach dem Motto: „Ich nehme von dir, was ich kriegen kann, solange ich glaube, dass du dich nicht dagegen wehren kannst.“ Firmen und Staat scheinen Tag und Nacht damit beschäftigt, Tricks zu ersinnen, wie sie uns immer weniger geben und dafür immer mehr nehmen können. Jeder kennt Beispiele dafür: Mogelpackungen, geplante Obsoleszenz von Waren, gepanschtes Essen, Abzocker-Hotlines mit Endlos-Warteschleife, erzwungene Selbstbedienung statt Service, schikanöser Steuerterror des Finanzamts, die Schließung der Stadtbücherei bei gleichzeitiger Erhöhung der Parkgebühren in Städten und so weiter, vor allem aber das endlose Geplapper der Werbe- und Manipulationsindustrie.

Es ist eine Welt, in der die Menschen einander belauern, ohne einander zu achten, weil fast jeder insgeheim weiß, dass er selbst nicht achtenswert ist.

Moral oder Gesellschaftsveränderung?

Viele werden jetzt sagen, ich argumentierte zu „moralisch“. Individuelle Moral müsste jedoch durch einen Systemwechsel ersetzt werden. Für eine Gesellschaft, in der Ehre wieder zählt, wäre es von Vorteil, wenn der Wachstumszwang in der Wirtschaft entfiele. Wir brauchen ein am Gemeinwohl orientiertes Wirtschaftssystem, basierend auf einem Geld, das anders konstruiert ist als das derzeitige. Um die Gier als psychologischen Motor der Zerstörung zu stoppen, ist es wichtig, neben den Mindestlöhnen auch Höchstlöhne festzulegen. Wenn es nicht mehr so viel zu gewinnen und zu verlieren gibt, lässt der seelische Druck nach, der uns zerreißt. Wenn wir wollen, dass Firmen ehrlich arbeiten und uns Kunden nicht mit Wegwerfprodukten und Serviceabbau quälen, müssen wir ihnen den Existenzdruck nehmen. Das bedeutet weniger globale Konkurrenz, günstige Kredite, notfalls finanzielle Förderung durch die Gemeinschaft. Den öffentlichen Kassen und gemeinwohlorientierten Unternehmen muss also mehr Geld zur Verfügung stehen, was ausschließt, dass der Reichtum fortwährend weiter von unten nach oben wandert. Auch eine Geldverschwendung in Milliardenhöhe für wahnwitzige Kriegsvorbereitung oder Strompreisbremsen — also das Stopfen von Löchern, die es ohne eine falsche Politik gar nicht gäbe — wäre damit obsolet.

Ehrenhaftes Verhalten ist das Ergebnis individueller Persönlichkeitsentwicklung — aber es wird durch kollektive Entscheidungen erleichtert. Und es kann sich ähnlich einem Schneeballsystem ausbreiten — der Anstoß kann jederzeit von jedem Einzelnen kommen. „Wo ist unsere Ehre?“, fragte Alex Olivari. Ja, wo? Die Lösung eines Problems beginnt damit, dass man sich eingesteht, dass es eines gibt.

Anzeigen von 2 Kommentaren
  • Wiebke S.
    Antworten
    Ja, richtig, Danke, gut und ehrenwert, dieses Bemühen, dem Begriff  “Ehre” wieder Ehre zu erweisen,bzw.  ihn mit Leben zu füllen, im richtigen Sinne, versteht sich.!

    Aber es geht mir mit diesem Artikel wieder so … , ähnlich wie bei dem aktuellen Palaver zwischen Sven Böttcher und Elisa Gratias, ich frage mich leise, und nur für mich,  wann endlich kommen sie drauf? Kommen sie drauf? Nein. Tappen sie  lieber weiter freundlich und zweifellos sympathisch, aber eben doch ratlos, im Dunkeln? Wollen sie es vielleicht gar nicht, gehen sie lieber absichtlich drumher? Aus welchen Gründen auch immer, es wird ja Gründe haben!  Vielleicht verträgt es sich nicht, mit dem marxistischen Materialismus? Mit dem historischen Selbstverständnis als aufgeklärtes, autonomes Individuum, oder so? Keine Ahnung!  Oder es liegt an Margot Käßmann und Annete Kurschus? Das wäre ja  nicht verwunderlich und nachvollziehbar. Ich  habe mit denen bzw. ihren allseits bekannten  Aussagen  auch nichts am Hut. Aber ich  komme für mich  immer mehr zu der Überzeugung, es steht alles in diesem einen Buch, das es schon seit rund 2000 Jahren gibt, ich habe es vor rund 2 Jahren wiederentdeckt, im Bücherregal, und möchte es gar nicht mehr missen. Warum machen wir es uns so schwer? Steht es da nicht schon alles? Wer mag  kommt Ihr ja drauf, welches Buch das sein könnte, da bin ich mir sicher, Sven bestimmt auch, ich schließe es zumindest nicht aus. Oder er hat es eben von sich gewiesen, ist ja auch OK und wäre  als Entscheidung so zu  akzeptieren, ganz klar!   Eine altertümlich anmutende  Sprache ist es , in diesem Buch,  die man aber mit etwas Geduld  immer besser versteht. Vielleicht doch mal nachsehen, und lesen, wenn etwas Ruhe ist? Nur so,  ein ganz  subjektiver, aus der zeit gefallener und möglicherweise subversiver Gedanke, –  und alles Liebe!

  • Sandra Brekenstedt-Stahl
    Antworten
    Klar, im Vergleich zu den 660 Tsd Euro, die Herr Nüßlein für seine Masken Vermittlungen in der schlimmsten Pandemie aller Zeiten erhalten haben soll, sind das nur kleine Beträge. Aber Ehre, wem Ehre gebührt. Linda Zervakis, die beliebte  und einnehmende Journalistin mit griechischen Wurzeln, bekam offenbar fast 11 Tausend Euro aus dem Kanzleramt, für ein  Interview mit Olaf Scholz. Ich denke, völlig zurecht, denn ein leistungsbezogenes Honorar sollte nicht zuletzt  unter den Aspekten Climate Justice, Sustainablility und Diversity selbstverständlich sein.

    https://www.welt.de/politik/deutschland/plus244155203/Vom-Kanzleramt-Linda-Zervakis-erhielt-fuer-Moderation-fast-11-000-Euro.html

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