Eine Zukunft für Kinder

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Peter Fahr, Politik

Indisches Mädchen. Foto: Jürg Curschellas

Laut UNO-Kinderhilfswerk Unicef haben heute 263 Millionen Mädchen und Knaben keinen Zugang zu Schulbildung, namentlich wegen Armut, fehlenden Schulen, Kriegen oder Flucht. 152 Millionen Kinder – fast jedes zehnte Kind weltweit – müssen arbeiten, um zum Überleben ihrer Familien beizutragen. Das 1971 gegründete Schweizer Hilfswerk Kinderhilfe Emmaus betreut weltweit persönliche Patenschaften für Kinder, die ohne diese Unterstützung hungern, leiden und in manchen Fällen sogar sterben müssten. Der Leitspruch “Hilf zuerst dem Ärmsten!” der Emmaus-Bewegung inspiriert ihre Projekte. Der folgende Text ist eine Collage – zusammengestellt aus Leitartikeln der Publikation “Eine Welt für alle”, mit der die Kinderhilfe Emmaus über ihre Aktivitäten informiert. Geschäftsleiter dieses Hilfswerks ist Pierre Farine, der als Dichter Peter Fahr schon manchen Essay auf HdS publiziert hat.   Peter Fahr

Manchmal habe ich den Eindruck, die Zeit sei besonders grausam. Die Berichte in Zeitungen, Fernsehen und Internet sind ungeheuerlich. Was mich heute am meisten schockt, ist der Krieg in Syrien. Da werden Brand-, Splitter- und Giftgas-Bomben auf wehrlose Menschen abgeworfen. Kinder brennen in zerstörten Straßen – sie rauben mir den Schlaf. Das unermessliche Leid lässt mich verstummen. Wie kann ich dieser menschlichen Not begegnen?

Was uns heute bewegt, ist der sinnlose Tod. So viele Männer, Frauen und Kinder müssen sterben, weil die Menschlichkeit versagt. Der Tod eines unschuldigen Kindes durch Hunger, Krankheit oder Krieg ist das größte Verbrechen, das es gibt. Und die Kinder, die das alles überstehen, sind gezeichnet fürs Leben.

Obwohl wir persönlich nicht betroffen sind, schmerzt uns das Schicksal dieser Unschuldigen. Doch lassen wir uns nicht entmutigen! Räumen wir der Verzweiflung keine Macht über unsere Seele ein! Um Anderen helfen zu können, müssen wir ihre Not zuerst im eigenen Herzen fühlen. Dann erst überwinden wir die eigene Hoffnungslosigkeit, die uns wie eine Mauer von ihnen trennt, und werden fähig, menschlich zu handeln.

Was wäre, wenn …?

Wir leben in bewegten Zeiten. Wir leben im Zeitalter der Bewegung. In Beruf und Freizeit, real und digital ständig unterwegs, bewegen wir uns sozusagen global. Wir überwinden spielend Grenzen, in Autos, Zügen, Schiffen und Flugzeugen, aber auch dank Telefon, Fernsehen, Internet und Kapital. Alles ist in Bewegung, alles ist im Fluss und wir schwimmen mit.

Heute sind 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Sie flüchten vor Elend, Naturkatastrophen und Krieg. Auch sie sind unterwegs, doch ihre Reisen sind keine vergnüglichen Abenteuer wie die unseren, sondern mühselige Irrfahrten. Die Vertriebenen flüchten vor Armut und Not, Hunger und Durst, Unterdrückung und Folter, Gewehren und Bomben. Familien werden auseinandergerissen, Kinder und Eltern getrennt. Väter und Mütter landen oft im Gefängnis, Kinder in staatlichen Heimen – wie jüngst geschehen in den USA. Das sind Menschen wie wir. Sie stehen Hilfe suchend an unseren Grenzen, vor Zäunen aus Stacheldraht, rasierklingenscharf, und hoffen auf Gastfreundschaft.

Was wäre, wenn wir die Gedemütigten und Gepeinigten in unsere Gemeinschaft aufnähmen? Was wäre, wenn wir sie in das Leid zurückschickten, aus dem sie kommen? Was wäre, wenn wir die Ursachen ihrer Flucht beseitigten?

Angst und Argwohn trennen, die Liebe verbindet. Lieben macht menschlich. Ich glaube daran, dass wir fähig sind, gegenüber Menschen – in welcher Form auch immer – liebevoll und menschlich zu handeln!

Das Ich und das Du

Wir leben in einer Welt, die wir immer weniger durchschauen. Die Globalisierung hat Distanzen überwunden und uns doch voneinander entfernt. Obwohl wir immer mehr erfahren, begreifen wir immer weniger. Wir erfassen kaum mehr, wie Politik, Wissenschaft, Handel, Kapitalmärkte und soziale Medien funktionieren. Die digitale Beziehungslosigkeit macht uns zu schaffen. Wir werden von anonymen Gesellschaften, Konzernen und Geheimdiensten überwacht, beeinflusst und gelenkt. So ist es nicht verwunderlich, dass wir uns oft unsicher und überfordert fühlen.

Wir leben in einer Welt der technischen Perfektion, die Mitgefühl und Liebe erschwert. Maschinen ersetzen Menschen, Fernsehen und Internet täuschen Wirklichkeit vor, E-Mail und SMS verdrängen Gespräche. Alles muss schnell vor sich gehen. Heute benötigen wir mehr denn je Möglichkeiten, uns auch gemächlich und ganz direkt, von Mensch zu Mensch zu äußern und zu verwirklichen. Das Ich will das Du berühren, begleiten und verstehen.

Eine sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit sollte darum stets den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen. Darum betreut die Kinderhilfe Emmaus neben Familien- und Gemeinschaftshilfe in erster Linie persönliche Kinder-Patenschaften (CHF 50.– pro Kind und Monat). Es ist uns wichtig, dass Patinnen und Paten mit ihren Patenkindern eine Beziehung aufbauen und sich mit ihnen austauschen können. Manches Mal entsteht dabei eine Freundschaft, die so bedeutsam und kostbar ist wie die finanzielle Hilfe!

Bildung und Freiheit

“Wenn du jemandem einen Fisch gibst, wird er einen Tag lang essen. Aber wenn du ihm zeigst, wie man fischt, wird er ein Leben lang essen.” Dieses chinesische Sprichwort könnte das Motto unserer Entwicklungszusammenarbeit sein. Das weltweite Patenschafts-Programm der Kinderhilfe Emmaus schafft die Voraussetzungen dafür, dass hungernde, frierende und einsame Kinder den Teufelskreis von Armut und Elend durchbrechen können. Jene Mädchen und Knaben sind privilegiert, die nicht auf dem Feld oder im elterlichen Geschäft mitarbeiten müssen, sondern zur Schule gehen und einen Beruf erlernen dürfen. Unterricht und Ausbildung bereiten sie auf ihr späteres Leben vor, das sie selbständig bestehen, weil sie dafür gewappnet sind. Denn Bildung fördert nicht nur den Verstand, sondern stärkt vor allem das Selbstbewusstsein. Bildung ermöglicht die Wahl. Bildung macht frei.

Patinnen und Paten stehen den Kindern finanziell zur Seite. Dank ihrer oft jahrelangen Unterstützung entwickeln sich hilflose, junge Menschen zu eigenständigen Erwachsenen, die fähig sind, sich den persönlichen und beruflichen Herausforderungen ihres Lebens zu stellen. Eine Patenschaft ist kein Tropfen auf den heißen Stein. Eine Patenschaft ist ein starkes Zeichen der Liebe, die alle Landesgrenzen, Sprachbarrieren und kulturellen Unterschiede überwindet.

Vertrauen macht stark

Unser Patenschafts-Programm umfasst heute 1049 Kinder, die durch 573 Patinnen und Paten unterstützt werden. Die Verantwortlichen unserer 35 Partner-Institutionen in der Dritten Welt setzen sich meist unentgeltlich und bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit für hilfsbedürftige Kinder und Familien ein. Mit den meisten von ihnen arbeiten wir schon jahrzehntelang zusammen. Was sie uns berichten, bewegt und motiviert uns immer wieder zur Hilfe für die Ärmsten.

Pfarrer Agnel L., Leiter des Hilfswerks “Our Lady of Fatima Church” in Cuncolim (Indien) schrieb uns: “Einerseits sehen wir leider unerfreuliches, korruptes und unehrliches Verhalten. Anderseits gibt es Individuen und Organisationen wie die Ihre, die für eine Verbesserung der weltweiten Zustände kämpfen. Ich danke Ihnen für Ihre Großzügigkeit, auch im Namen der Kinder und Familien, die sie erfahren. Es ist so eine Sache mit der Freundschaft: Sie nimmt nicht ab durch Distanz und wächst nicht durch Nähe. Das ist nicht leicht zu verstehen. Aber Freundschaft ist so einfach, wenn man in Verbindung bleibt!”

Das gilt auch für die Beziehung zwischen den Betreuern und Patenkindern, die bis zur Selbständigkeit der Kinder anhält. Im Wort Betreuer klingt die Treue an. Treue ist ausdauernde Liebe. Sie schenkt den umsorgten Knaben und Mädchen Vertrauen. Das erhaltene Vertrauen stärkt ihr Selbstwertgefühl und ermöglicht ihnen, ihr Leben nach Abschluss von Schule, Ausbildung oder Studium selbstbestimmt zu meistern.

Ihre Spende in gute Hände

Ein Projektbesuch in Südindien führte mich nach Madurai. Im Hotel, in dem meine Begleiter und ich abstiegen, wimmelte es von Kakerlaken. Nach einer ungemütlichen Nacht fuhren wir im offenen Jeep in den Urwald. Unser Ziel war Kodaikanal, eine kleine Stadt in den Bergen. Die Fahrt über holprige Straßen und Wege dauerte vier Stunden. Einmal hielten wir kurz an, um den Ausblick auf die weite Ebene zu genießen. Ein paar Äffchen leisteten uns Gesellschaft.

In Kodaikanal trafen wir den Betreuer unseres Patenschafts-Programms. Mit ihm zusammen besichtigten wir eine Schule und besuchten die Eltern mehrerer Patenkinder. Unterwegs hatte ich eine eindrückliche Begegnung. Ein landwirtschaftlicher Tagelöhner und sein Sohn kamen von der Arbeit, sie grüßten und blieben stehen. Der Vater war in den Vierzigern, der Sohn keine zwanzig Jahre alt. Im Verlauf unseres Gesprächs sagte der Junge zu mir: “Wer zur Schule gehen darf, kann einen Beruf erlernen. Wer einen Beruf hat, findet eine Stelle. Wer ein festes Gehalt hat, kann sich ein Haus bauen. Wer ein Haus hat, kann eine Familie gründen!” Hier hielt er inne, fixierte mich mit seinen dunklen Augen und fügte trotzig hinzu: “Ich darf nicht zur Schule gehen, werde keinen Beruf erlernen und keine Stelle finden. Ich werde kein Haus, keine Frau und keine Kinder haben. Wozu lebe ich überhaupt?”

Im Herzen der Familie

Ein Mann und eine Frau begegnen sich. Sie gehen aufeinander zu, lernen sich kennen und entscheiden sich füreinander. Sie erfahren die Liebe, die alles wunderbar verwandelt. Vereint überwinden sie die Einsamkeit und schenken einem Kind das Leben. Aus zwei Menschen werden drei, aus einer Partnerschaft wird eine Gemeinschaft. Vater, Mutter und Kind bilden eine Familie.

Der Dichter Novalis hat geschrieben: “Ein Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe.” Und ein arabisches Sprichwort sagt: “Kinder sind Flügel des Menschen.” Nur im Schutz der Familie kann diese Liebe wachsen, nur im Schutz der Familie tragen diese Flügel in ein selbstbestimmtes Leben.

Die Familie ist ein zartes, zerbrechliches Wesen, sie ist vielen Belastungen ausgesetzt. Oft haben sich Eltern wie Kinder in unmenschlichen Gesellschaften und gefahrvoller Umwelt zu bewähren. Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheit und Hunger gefährden die kleine Gemeinschaft. Manche Eltern verlieren die Hoffnung, sie verzweifeln und flüchten sich in Kriminalität, Drogen und Prostitution. Ihre Kinder werden zum Betteln in die verschmutzten Straßen der Slums geschickt, wo sie verwahrlosen. Um das zu verhindern, unterstützt die Kinderhilfe Emmaus nicht nur Kinder, sondern auch Familien. Diese Hilfe soll bewirken, dass die Eltern neuen Mut fassen, die verlorene Selbstachtung wiedererlangen und zusammenhalten. Wir geben ihnen Gesundheit und Arbeit wieder – und der Familie ein Heim, in dem sie geschützt vor Wind, Regen und Kälte leben kann. Denn nur im Herzen der Familie wird Heimat möglich.

Hilf zuerst dem Ärmsten!

“Man muss nicht selbst außergewöhnlich sein, um etwas Außergewöhnliches zu tun.” Der Ausspruch von Abbé Pierre macht Mut. Der französische Priester engagierte sich während des 2. Weltkriegs in der Résistance für jüdische Flüchtlinge und gründete 1949 in Paris die Hilfsorganisation Emmaus. Heute existieren 350 Emmaus-Gruppen und -Gemeinschaften in 37 Ländern auf vier Kontinenten, darunter die Kinderhilfe Emmaus in Bern (Schweiz). Wir teilen die folgenden gemeinsamen Ziele: die Überwindung der Armut, die Behebung ihrer Ursachen und die Schaffung eines Bewusstseins, das die Bedürftigen und Benachteiligten befähigt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Abbé Pierre hat auch gesagt: “Lieben heißt: Wenn du leidest, tut es mir weh.” Wer bereit ist, sich in die schmerzliche Lage Anderer zu versetzen, wird unweigerlich Mitgefühl empfinden. Und wer Elend und Hunger, Ausbeutung und Ungerechtigkeit, Angst und Verzweiflung mitfühlt, wird die tiefe Bedeutung wahrer Liebe begreifen. Und die Erkenntnis dieser Liebe wird ihn ermutigen, aktiv zu werden, um den Leidenden beizustehen.

Spenden:
www.kinderhilfe-emmaus.ch
CH87 0900 0000 3000 8942 0

Kommentare
  • heike
    Antworten
    Vielen Dank für diese sehr herzliche Aufforderung um Hilfe.

    Noch immer stirbt aller 10 Sekunden auf unserer Erde ein Kind unter 5 Jahren an Unterernährung. Die Kinder sterben, die Familien leben weiter in ihrem Elend.

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