Es gibt nichts Gutes, außer man organisiert es
Gemeinschaften, Gemeinden und Netzwerke, können dabei helfen, dass sich Widerstand formiert – gegen von der „hohen Politik“ verursachte oder geduldete Missstände. Aber auch hier liegt der Teufel im Detail. Gut gemeint ist oft das Gegenteil von Gut. Wie können die typischen Idealisten-Fehler vermieden werden: Sektierertum, Bruderkämpfe, Burnout und erbittertes „Im-eigenen-Saft-Schwimmen“? (Roland Rottenfußer)
Es ist viel zu wenig bekannt, dass unser Grundgesetz in Artikel 20 ein Recht auf Widerstand enthält: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. (…) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Klingt gut, aber dieser Fall ist doch noch nicht gegeben! Oder? Was, wenn als „sozial“ nur noch das definiert wird, „was Arbeit schafft“ (womit man in letzter Konsequenz sogar Sklaverei als „sozial“ bezeichnen könnte)? Wenn sich Demokratie darauf beschränkt, alle vier Jahre ein Kreuzlein bei einer von vier neoliberalen Parteien machen, also zwischen verschiedenen Nuancen des Verarscht- und Ausgeplündertwerdens wählen zu dürfen? Wenn sich der Staatsstreich des Kapitals schleichend vollzieht, und der Systemwechsel von der sozialen Marktwirtschaft hin zum Wirtschaftstotalitarismus längst im Gang ist? Hätten wir dann das Recht zum Widerstand? Wenn ja, wie sähe dieser Widerstand aus, und wann ist der Punkt erreicht, wo „andere Abhilfe nicht möglich ist“?
Das Volk – der schlafkranke Riese
Ich habe in meinem Artikel „Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt“ gehen (Freitags auf dieser Webseite veröffentlicht) darauf hingewiesen, dass es zwar nicht an Regungen dumpfen Unbehagens gegen die verordnete „Reformpolitik“ fehlt, wohl aber an einer begeisternden, motivierenden Vision, die wir dem als falsch Empfundenen entgegensetzen könnten. Viele politische Scharmützel unserer Zeit drehen sich lediglich um die Verlangsamung eines allenthalben spürbaren Verfallsprozesses, um die Abmilderung – im besten Fall: Rücknahme – bereits beschlossener Negativ-Reformen (wie bei den kurzatmigen Protesten gegen die Hartz-IV-Gesetzgebung zu beobachten war). Viel zu wenig, um die Energie des Volkes, dieses schlafkranken Riesen, zu wecken.
Die Kreation einer zusammenhängenden, realisierbaren und zugleich aufregenden Vision dessen, was geschehen sollte, wäre im Grunde genommen ein Lebenswerk. Ich selbst bin im Prozess meiner persönlichen „Visionssuche“ keineswegs weit fortgeschritten. Andererseits läuft uns die Zeit davon. Nur gemeinsam, unter Einbeziehung ganz verschiedener Kompetenzen und von Lösungsansätzen, die bereits vor unserer Zeit entwickelt wurden, können wir in einem vertretbaren Tempo weiter kommen. Ich möchte deshalb – neben vielen Artikeln, die ich über Inhalte geschrieben habe und noch schreiben werde – dieses Mal über die Form, über mögliche Organisationsformen schreiben.
Das Feuer des Widerstands entfachen
Wie lässt sich dieses Feuer entzünden? Wie erfahren und lernen wir voneinander? Wie organisieren wir uns? Eine wesentliche Idee, um die neue Bewegung voran zu bringen, ist die Gründung von „Geistesfamilien2. Sie erscheint als Ergänzung zu den urprünglichen, auf biologische Verwandtschaft basierenden Familien notwendig, um den Weg aus der Isolation heraus zu finden. Das Wort „Familie“ scheint mir geeignet, um ein hohes Maß an Zusammengehörigkeitsgefühl, Solidarität und unterstützender Wärme anzudeuten. Blutsverwandtschaft darf in ihrer bindenden Kraft nicht unterschätzt werden. Ideelle Gemeinschaften, die versuchen, den Einzelnen radikal aus seinen gewachsenen Familienverbänden herauszulösen und ihn gar gegen seinen Vater, seine Mutter, seine Kinder aufzuhetzen, geraten häufig auf sektiererische Abwege und sind zum Scheitern verurteilt.
Andererseits drängt sich – wenn man nicht das seltene Glück hat, dass Vater, Mutter, Bruder und Schwester die eigenen Interessen und die eigene politische Zielsetzung teilen – das Gefühl auf, dass Blutsverwandtschaft allein nicht genügt. Während die 68er gegen „spießige“ Väter und Mütter aufbegehrten, liegt die Herausforderung ja heute oft eher darin, sich gegen reaktionäre und systemkonforme Söhne und Töchter zu behaupten. Ein Familienfest ist nicht automatisch der Ort, wo man sich mit jenen Ideen verstanden fühlt, für die man brennt.
Geistesfamilien
„Geistesfamilien“ könnten sozusagen eine dritte Stufe der Evolution menschlicher Organisationsformen markieren. Von der auf Blutsverwandtschaft basierenden „Sippe“, über das Zwischenstadium größtmöglicher individualistischer Vereinzelung und Bindungslosigkeit (wie es in vielen großstädtischen Existenzen der Gegenwart sichtbar wird), hin zum Aufbau frei gewählter, auf geistiger, emotionaler und ideeller Verwandtschaft basierender Gemeinschaften. Dabei sollen die zurückliegenden „Stadien“ (biologische Familie und autonomes Individuum) nicht „überwunden“ werden, sondern integriert – mit hinüber genommen in die „neue Welt“. Jeder, der an der Gründung einer „Geistesfamilie“ beteiligt ist, tut gut daran, seine Blutsverwandten, die Eltern, Großeltern, Geschwister und Kinder, seinen Mann oder seine Frau, zu ehren (Phase 1) und sich zugleich die Fähigkeit zu bewahren, notfalls auch auf sich allein gestellt lebensfähig zu sein (Phase 2). Zugleich sollte aber die Frage gestellt werden: Wie verbinde ich mich mit geistigen Brüdern und Schwestern, Cousins und Cousinen? (Phase 3)
Warum Menschen ungern auf Demos gehen
Ich muss es zu meiner Schande gestehen: Auf viele Demonstrationen, deren Zielsetzung ich ohne Einschränkung teilte, bin ich nicht gegangen, weil ich schlicht befürchtete, mich zu langweilen. Drei oder vier Stunden im Demonstrationszug gehen – das kann verdammt einsam sind. Nirgendwo habe ich mich oft isolierter gefühlt als in einer gewaltigen Menschenmenge von „Gleichgesinnten“. Vielleicht bin ich ja auch zu zurückhaltend, aber wie hätte ich meinen Nebendemonstranten denn ansprechen sollen? „Hey du, finde ich toll, dass du auch gegen Nazis bist!“ Natürlich ist es toll, aber wenn mich mit diesem Nicht-Nazi, den ich wahrscheinlich nie in meinem Leben wieder sehen werde, nichts anderes verbindet als ein gemeinsames (berechtigtes) Feindbild, fühle ich mich von der während dieser Demo entstandenen, zeitlich begrenzten Gemeinschaft nicht „getragen“, nicht „genährt“. Ich verlasse solche Veranstaltungen nicht selten mit einem Gefühl der Leere.
Das heißt, wenn viele so (oder annähernd so) empfinden wie ich, dann hat der mangelnde Zulauf bei Demonstrationen vielleicht auch mit solchen ganz banalen psychologischen Faktoren zu tun. Dieses Gefühl der Isoliertheit hilft natürlich vor allem dem „Gegner“, etwa den Teilnehmern der jährlichen Münchener „Sicherheitskonferenz“, die sich in dem Gefühl wiegen können, dass gegen ihre vielfach destruktiven und schäbigen politischen Entscheidungen nicht gerade ein Volksaufstand im Gange ist. Der Strom der Protestierenden gleicht – gemessen an der Bedeutung der Sache, um die es geht – oft eher einem Rinnsal. Wir müssen uns also Gedanken über engere, menschlich befriedigendere Formen des Zusammenschlusses machen – und zwar nicht nur aus Gründen größerer menschlicher „Behaglichkeit“, sondern auch um der politischen Ziele willen, um die es geht.
Der vereinsamte Aktivist
Grundsätzlich kann man drei Organisationsformen unterscheiden: Gemeinschaft (Kommune), Gemeinde und Netzwerk. Hinzu kommen als viertes lockere, eher „themenzentrierte“ Aktionsbündnisse: Von großen NGOs (Non Governmental Organisations) wie Attac und Greenpeace bis hin zu Bürgerinitiativen wie „Rettet die Bäume in der Amalienstraße!“ Kennzeichen dieser Aktionsbündnisse ist, dass sie nicht das ganze Leben eines Menschen begleiten und ideell „umschließen“ (und dies auch gar nicht für sich beanspruchen). Der Mensch wird in solchen Bündnissen (wie auch in Parteien und Vereinen) nur in einem bestimmten, begrenzten Aspekt seiner Persönlichkeit angesprochen: als Träger einer bestimmten Weltanschauung, als Befürworter der Solarenergie oder Gegner von Tierversuchen. Man klebt gemeinsam Plakate in der Fußgängerzone, fühlt sich aber in der Regel von seinen Mitstreitern nicht „getragen“, wenn man Liebeskummer hat, wenn ein Elternteil im Sterben liegt oder wenn man wegen des Leids auf der Welt mit Gott hadert. Solche Probleme tun einfach „nichts zur Sache“.
Meines Erachtens liegt hierin ein Grund für die oft kurze Lebensdauer vieler dieser Bündnisse – bzw. für die hohe personelle Fluktuation in größeren idealistischen Organisationen. Es liegt nicht allein daran, dass ehrenamtliche Arbeit energetische Verausgabung ohne Bezahlung bedeutet. Es gibt Menschen, die sich ohne erkennbare Anzeichen von „Burnout“ jahrzehntelang in ihrer Kirchengemeinde, im Fußballverein oder im Udo-Jürgens-Fanclub engagieren – natürlich ohne Bezahlung. Um einmal beim Beispiel der Kirchengemeinde zu bleiben, will ich vier mögliche Gründe dafür anführen, warum Aktionsbündnis oft nicht die selbe bindende Kraft entfalten.
Vier „Todsünden“ der Aktionsbündnisse
1. Kirchengemeinden sprechen den ganzen Menschen in seinem körperlichen, geistigen, emotionalen und spirituellen Aspekt an. Alle Lebensbereiche (z.B. Geburt, Beruf, Partnerschaft, Krankheit, Tod) werden begleitet und in einen Sinnzusammenhang eingebettet. Das Mitglied eines Aktionsbündnisses „interessiert“ dagegen nur, sofern und so lange es im Sinne des Vereinsziels einsatzfähig ist.
2. Mitglieder von Aktionsbündnissen verfallen leicht in Resignation, wenn die Aktionsziele nicht im gewünschten Ausmaß erreicht werden. Nach einer Phase der Euphorie stellt sich dann leicht ein Gefühl von „Es-hat-ja-doch-keinen-Sinn“ ein. Es kann dann sein, dass die Mitgliederzahlen nach anfänglichem raschen Emporschnellen zu bröckeln beginnen. Kirchengemeinden dagegen müssen nicht „gewinnen“. Das wäre ebenso absurd wie die Frage, wer bei einem Streichquartett den Sieg davon getragen hat. Arundhati Roy hat zwar sicher Recht, wenn sie schreibt, „Es genügt nicht, dass wir im Recht sind, wir wollen gewinnen“; bei Motivationskrisen ist es aber oft ermutigender, sich an einen Satz zu halten, den Konstantin Wecker über die Weiße Rose geschrieben hat: „Es geht ums Tun und nicht ums Siegen“.
3. Aktionsbündnisse haben oft eine ausschließlich negative Motivation, z.B. „gegen Rechts“, „gegen Atomkraft“. Selbst konstruktivere Formulierungen wie „für die Umwelt“ können oft nicht verdecken, dass der Kampf gegen das Bestehende den Alltag der Aktivisten prägt. Kirchengemeinden gehen dagegen von einem als positiv erlebten Wertekanon aus. Zunächst einmal ist das Gemeindemitglied „für Gott“, „für die Botschaft des Evangeliums“. Der Kampf „gegen“ (z.B. gegen die Sünde) ist nur sekundär und von der zugrunde liegenden Bejahung des Höchsten abgeleitet.
4. Aktionsbündnissen ist häufig eine missmutige, verbissene Grundstimmung eigen. Man stellt sich opferbereit bis zur Selbstausbeutung und freudlos in den Dienst der „Sache“, wird dünnhäutig und wittert schnell mangelnde Wertschätzung und „Verrat“ durch Mitstreiter. Nicht umsonst heißt es: Wer sich um die Gesundheit unserer Umwelt sorgt, muss sich zunächst um die der Umweltaktivisten kümmern. Kirchengemeinden haben dagegen eine traditionelle Feierkultur entwickelt. Dem Jahresverlauf und den Seelenbewegungen des Menschen folgend gibt es freudvolle (Ostern) und eher traurige (Karfreitag) Festivitäten, die aber zur ritualisierten Integration seelischer Schattenaspekte nützlich sind. Gemeinsames Singen, Essen und Feiern sind übliche Begegnungsformen, nur der Tanz und überhaupt Körper und Sinnlichkeit kommen in den meisten Gemeinden zu kurz. Hier könnte man ersatzweise Anleihen bei „heidnischen“ Jahreszeitenfesten nehmen.
Von allen lernen – auch von Kirchengemeinden
Dieser Vergleich zwischen zwei grundverschiedenen Organisationsformen mag seltsam und unpassend erscheinen, ich verfolge damit aber einen bestimmten Zweck – und der besteht natürlich nicht darin, dass ich den Ausstieg aus politischen Aktionsbündnissen und die Rückkehr auf harte Kirchenbänke predigen will (obwohl es zwischen beiden Welten erfolgreiche Bündnisse gab – man denke nur an die Leipziger Nicolaikirche und ihre Rolle bei der „Wende“ 1989). Ich bin ja von der Notwendigkeit von Widerstands gegen die kulturelle Dominanz und die faktische Gestaltungsmacht der neoliberalen Ideologie ausgegangen. Dazu ist die Bildung neuer und die Verstärkung schon bestehender Widerstandszellen notwendig, und um diese erfolgreicher zu gestalten, können wir von den positiven Erfahrungen mit anderen, quasi „artfremden“ Organisationsformen wie der Kirchengemeinde lernen.
Was es da zu lernen gibt, könnte man z.B. so zusammenfassen: Einbindung des ganzen Menschen in allen seinen Lebensaspekten, eine über die konkrete politische Stoßrichtung hinausgehende Kultur der Gemeinsamkeit, eine nicht ausschließlich erfolgsorientierte Ausrichtung (sondern Konzentration auf das Tun), Integration freudvoller, sinnlicher Elemente wie Musik, Tanz, Bildsymbole, Essen, Trinken, Feuer u.ä., eine (auch) positive Ausrichtung und die Einbettung der Einzelaktion in einen größeren ideellen Zusammenhang.
Bevor ich in meinem morgigen Artikel mein Wunschbild einer politisch aktiven Gemeinde näher ausführe, will ich noch auf zwei weitere populäre Organisationsformen eingehen und sagen, worin ich deren Stärken, aber auch deren Probleme sehe: Gemeinschaft und Netzwerk.