Finanzieller Missbrauch

 In FEATURED, Politik, Roland Rottenfußer, Wirtschaft

Wie uns der Kapitalismus um unser Lebensglück betrügt. Wir alle kennen das „Steben nach Glück“ als ein wichtiges, in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verbrieftes Recht. Was in der Realität daraus geworden ist? Zum großen Teil eine depressive Gesellschaft, beherrscht von Existenzängsten und Geldbeschaffungsstress, von Einsamkeit und Entsolidarisierung. Für Leid gibt es gewiss jeweils „individualpsychologische“ Gründe. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, welchen Einfluss die ökonomischen Rahmenbedingungen auf unseren Seelenzustand haben. Wo unsere mit Liebe und Engagement erwirtschafteten Arbeitsbeträge beständig in die Taschen von Leuten abfließen, die das Geld gar nicht brauchen, es sich jedoch mittels struktureller Gewalt einfach nehmen, wachsen Frust und Wut. Menschen zu benutzen, um sich eigene übersteigerte Luxusbedürfnisse zu erfüllen, ist Missbrauch. Wir sollten dies endlich beim Namen nennen.  Roland Rottenfußer

„Life, liberty and the persuit of happiness“ sind die höchsten Werte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Dabei ist vor allem der Ausdruck „persuit of happiness“ (übersetzt ungefähr: Streben nach Glück) auffällig. Zwar ist damit kein staatlich verbrieftes Recht auf Glück verbunden, wohl aber das Recht, sich um Glück zu bemühen. Das deutsche Grundgesetz kennt den Begriff „Glück“ nicht. Sein zentraler Wert, die „Würde des Menschen“ ist in seiner Bedeutung unbestritten. Aber ist er ausreichend? Paragraf 1 des Grundgesetz verbietet zunächst Folter, Tötung, Zensur, Ungleichbehandlung und anderer grober Verstöße gegen die Würde des Menschen. Ein Soldat, der sich auf dem Kasernenhof durch den Schlamm jagen und von Unteroffizieren anpöbeln lassen muss, kann sich nicht auf Paragraf 1, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, berufen. Ohnehin ist die garantierte Würde also nur eine partielle, und darüber, wann sie als verletzt anzusehen ist, entscheidet die Obrigkeit, keineswegs das Empfinden des Einzelnen.

Ein Staat, der den Verzicht auf grobe Übergriffe wie willkürliche Inhaftierung garantiert, könnte sich ja auch auf den Standpunkt zurückziehen: „Was wollt ihr denn? Ihr werdet nicht gefoltert, und ihr habt die Freiheit, uns in der Presse zu kritisieren (was uns ohnehin nicht daran hindert, zu tun was wir für richtig halten). Also seid zufrieden und haltet den Mund.“ „Würde“ also ist enorm wichtig, aber der Begriff ist dehnbar und er ist als Staatsziel u.U. nicht ausreichend. „Glück“ wiederum ist im Grundgesetz gar nicht vorgesehen. Wäre es dort zu finden, könnte es viel mehr bedeuten als nur die Abwesenheit körperlicher Grausamkeit. Es könnte ein Menschenrecht auf ein erfülltes Leben konstituieren, auf ein Leben das uns die volle Entfaltung unseres menschlichen Potenzials ermöglicht. Aufgabe des Staates wäre es dann, nach Möglichkeit alle Bedingungen zu beseitigen, die das menschliche Glück behindern.

Ironischerweise finden wir das im Grundgesetz fehlende „Glück“ dann in der Nationalhymne wieder, die in jüngster Zeit eine Renaissance als Fußball-Mitgröl-Hit feiern durfte. „Einigkeit und Recht und Freiheit“, heißt es dort, seien „des Glückes Unterpfand“. Und das Vaterland solle blühen „im Glanze dieses Glückes“. Freilich, eine Hymne ist eine unverbindliche Absichtserklärung, in poetische Worte gekleidet. Sie konstituiert kein einklagbares Recht des Bürgers gegenüber seinem Staat.

Dennoch machen beide Texte, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die deutsche Hymne, auf einen Umstand aufmerksam, der immer mehr in Vergessenheit zu geraten droht: Eigentlich geht es im politischen Prozess um nichts anderes als um unser Glück. Im Mittelpunkt staatlichen Handelns sollte immer stehen, dass es uns gut geht, Ihnen und mir. Die Würde ist nur eine, wenn auch eine sehr wichtige, Grundvoraussetzung dafür. Man kann menschenwürdig leben, sein Stimmrecht (also das Recht zwischen mehreren neoliberalen Parteien zu wählen) ausüben, und dennoch ein elendes Leben in Knappheit, Scham und Bedrängnis führen, ein Leben, das dem Glückspotenzial, das der menschlichen Natur innewohnt, Hohn spricht.

Wenn Sie im Gegensatz dazu die Schlagzeilen in den Zeitungen verfolgen, haben Sie aber merkwürdigerweise nicht das Gefühl, dass Ihr Glück für die Tonangebenden einen hohen Wert darstellt. Richten Sie Ihr Augenmerk einmal auf die Lieblingsbegriffe der Politiker: Nicht „Glück“ oder „Liebe“ gilt als das schlechthin Gute und Erstrebenswerte, sondern „Wettbewerbsfähigkeit“ oder „Kaufkraft“. Der Begriff „Wettbewerbsfähigkeit“ definiert das Gute als einen Sieg, der auf Kosten Anderer errungen werden muss. „Gewinnt“ unsere deutsche Industrie in einer Wettbewerbssituation, so „verliert“ eine andere Firma, irgendwo in Frankreich, Japan oder anderswo. Die Arbeitnehmer der „nicht wettbewerbsfähigen“ Firma müssen sich also dann mit all jenen Themen auseinandersetzen (z.B. Angst vor Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen), die „unserer“ wettbewerbsfähigeren Firma noch einmal erspart geblieben ist.

Ökonomische Nullsummenspiele

Ein Nullsummenspiel: Die Demütigung Fußball-Deutschlands ist die Voraussetzung für den Jubel Fußball-Italiens, und umgekehrt. Gleiches gilt für Sieg und Niederlage beim Wettbewerb um Marktanteile. Karl Marx schreibt in seinem ersten „Ökonomisch-philosophischen Manuskript über die Konkurrenz: „Die einzigen Räder, die die Nationalökonomie in Bewegung setzt, sind die Habsucht und der Krieg unter den Habsüchtigen, die Konkurrenz.“

Während das Argument der „Wettbewerbsfähigkeit“ gern vom neoliberalen Meinungs-Mainstream in Deutschland angeführt wird – vorzugsweise, um den Widerstand von Arbeitsnehmern gegen die Erosion ihrer Rechte aufzuweichen –, sind „Kaufkraft“ und „Binnennachfrage“ gängige Begriffe der Linken. Während die neoliberal orientierten Parteien nach einer Senkung der Lohn- und Lohnnebenkosten rufen, beklagt die Linke die Erosion der „Binnennachfrage“ für den Fall, dass Arbeitnehmer immer weniger Geld in den Taschen haben.

Dieses beliebte Argumentationsschema ist insofern interessant, als es belegt, wie tief das Denken in Kategorien von Wirtschaftlichkeit und Effizienz schon in den Köpfen fast aller Menschen verankert ist. Kaum einer traut sich, höhere Löhne und Gehälter einfach deshalb zu fordern, weil etwas mehr finanzieller Spielraum die Menschen freier und glücklicher machen würde. Es geht eben nicht um das Glück der Menschen, sondern darum, inwieweit wir der Wirtschaft in unserer Funktion als Käufer zu dienen in der Lage sind. Der Mensch als fühlendes Wesen, das sich an seinem Geld für Erholungsurlaube, an seinem Budget für Kinobesuche, für gesünderes Essen, für bessere Gesundheitsvorsorge usw. erfreuen könnte, tut nichts zur Sache. Lediglich als Faktor für „Kaufkraft“ und „Binnennachfrage“ ist er von Belang.

Jenseits von Kant und Marx

Beide Lager, Neoliberale und Linke, sehen den Menschen also als Mittel zum Zweck. Die Neoliberalen betrachten uns überwiegend als „Produktionsfaktoren“. Wir sollen wenig kosten und viel bringen – nach der Logik einer Legebatterie: billiges Futter, niedrige Raum- und Heizkosten, optimale Raumausnutzung, aber möglichst viele Eier legen. Die Linken dagegen wollen uns als Mittel zum Zweck der guten Binnennachfrage. Wir sollen mit dem Geld, das man uns gelassen hat, möglichst viel kaufen.

Da hat es einmal ganz andere Auffassung der Würde des Menschen gegeben. Wegweisend für die Ethik der Aufklärung formulierte etwa Immanuel Kant: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. Dies ist die Kernforderung aller Weltanschauungen, die sich im weiteren Sinn des Wortes als „humanistisch“ verstehen: Der Mensch darf niemals nur Mittel zum Zweck sein.

Erich Fromm hat richtig angemerkt, dass die ethische Forderung Kants auch dem Menschenbild von Marx zugrunde liegt, der stets die Herabwürdigung des Menschen zur Ware kritisiert hat: „Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware.“ (Karl Marx: Ökononisch-philosophische Manuskripte, 1. Manuskript). Etwas weniger bekannt ist die Tatsache, dass Marx auch die Degradierung des Menschen zum Konsumvieh gegeißelt hat. Er unterscheidet zwischen natürlichen und (durch ökonomische Zwänge) künstlich geschaffenen Bedürfnissen des Menschen. Im Kapitalismus, sagt er, spekuliere „jeder Mensch darauf, dem anderen ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten.“

Strukturelle Schutzgelderpressung

Um nun aber zum Thema „Streben nach Glück“ zurückzukehren: Natürlich haben wir viele der Faktoren, die zum Lebensglück beitragen, selbst in der Hand. Gelingt es uns z.B., eine beglückende sexuelle und emotionale Partnerschaft aufzubauen und zu erhalten? Wir können nicht beim Staat eine gute Frau oder einen guten Mann beantragen und bei mangelhafter Lieferung gegen das Amt für Partnerbeschaffung eine Klage anstrengen. Andere Glücksfaktoren sind jedoch eher dem Verantwortungsbereich der kollektiven Strukturen unterworfen. Dazu gehört meines Erachtens vor allem das Recht, frei zu sein vor Ausbeutung und finanzieller Bedrückung, das Recht auf den vollen Ertrag der eigenen Arbeitsleistung.

In Deutschland muss man – wenn man nicht gerade auf der schwarzen Liste der CIA steht oder einem besonders skrupellosen Polizisten in die Hände fällt, der einem in einem Hinterzimmer ungestraft misshandelt – normalerweise keine Angst haben, gefoltert zu werden. Nicht ausgebeutet zu werden, ist dagegen hierzulande wesentlich schwieriger. Jemandem, der hungert, oder – was in Deutschland wahrscheinlicher ist – ein Leben unter einer erdrückenden Schuldenlast fristet, freut sich nicht tagtäglich darüber, dass er seine Regierung am Stammtisch ungestraft (aber auch völlig folgenlos) kritisieren darf.

In manchen Fällen kommt ein Leben in Not und Bedrückung sicherlich einer zermürbenden Langzeitfolter gleich. Selbst wenn in Deutschland niemand hungert, weil man sich ALDI-Reis allemal noch leisten kann, quält einen das Gefühl der Scham, das Gefühl der Enge, das Gefühl von wesentlichen menschlichen Begegnungsformen und Glücksquellen ausgeschlossen zu sein – und sei es nur der Besuch der Kleinkunstbühne von nebenan oder das gemeinschaftliche „Public Viewing“ im Biergarten.

Nun ist Armut sicherlich nur dann ein Skandal, wenn sie vermeidbar ist. Aber kann man von einer „selbst verschuldeten“ oder „unvermeidlichen“ Armut sprechen, wenn gleichzeitig die großen Geldvermögen in astronomische Höhen wachsen (zwischen 1950 und 2000 zum Beispiel ca. um das Vierfache)? Wenn man eine Tabelle betrachtet, auf der das Schulden- und das Vermögenswachstum einander gegenüber gestellt werden, zeigt sich sehr eindrucksvoll, wohin das viele Geld fließt, das im Staatsbudget und in vielen Privathaushalten an allen Ecken und Enden fehlt. Es wird auch sehr deutlich, warum ein Geldreformer wie Helmut Creutz in bewusster Abgrenzung von der marxistischen Auffassung sagt, die eigentliche Ursache der Ausbeutung liege „nicht in der Produktions-, sondern in der Zirkulationssphäre. Das heißt, nicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern tobt der heftigste Verteilungskampf („Produktionssphäre“), sondern zwischen den Leistungsträgern auf der einen und den Profiteuren der im Prozess des Geldumlaufs anfallenden Zinserträge („Zirkulationssphäre“) auf der anderen Seite.

Von seinem Arbeitgeber im Sinne des klassischen kommunistischen „Klassengegensatzes“ ausgebeutet zu werden, können Sie, wenn Sie klug sind, vielleicht vermeiden. Es ist schließlich auch Einschätzungssache, wo „Ausbeutung“ beginnt, und auch der umgekehrte Fall – ein leistungsschwacher Arbeitnehmer, dessen Gehalt eher noch zu hoch ist – ist durchaus denkbar. Nicht durch das Zinssystem ausgebeutet zu werden, ist dagegen weit schwieriger. Ein weit verbreiteter Irrtum lautet, dass wir Zinsen nur zahlen müssen, wenn wir uns bei einer Bank oder bei Privatpersonen Geld leihen. Nicht berücksichtigt ist dabei allerdings der Anteil, den wir als Steuerzahler an den Zinszahlungen aus dem Staatshaushalt haben: 38,9 Milliarden allein für Zinsen waren es 2005, bei einem Gesamtetat von 254,3 Milliarden Euro. Das heißt, mehr als jeder siebte Euro, den Sie an Steuern bezahlen, fließt in den Schuldendienst – wohlgemerkt: ausschließlich in Zinszahlungen.

Die größte Lebenslüge

Nicht berücksichtigt sind dabei natürlich auch versteckte Zinsen, die in so gut wie allen Waren und Dienstleistungen, die wir in Anspruch nehmen, enthalten sind. Es ist, wie Professor Margrit Kennedy ausführt, der „Zinsanteil, den die Produzenten der gekauften Güter und Dienstleistungen der Bank zahlen müssen, um Maschinen und Geräte anzuschaffen. Bei den Müllgebühren zum Beispiel liegt dieser Zinsanteil bei etwas 12 Prozent, beim Trinkwasserpreis bei 38 Prozent und bei der Miete im sozialen Wohnungsbau erreicht der Zinsanteil sogar 77 Prozent. Im Durchschnitt zahlen wir etwa vierzig Prozent Zinsen oder Kapitalkosten in allen Preisen und Dienstleistungen, die wir zum täglichen Leben benötigen.“ Zu diesen ca. 40% „versteckten Zinsen“ muss man natürlich die über die Steuer abgeführten Zinsen sowie – im Fall privater Verschuldung – persönliche Verbindlichkeiten aus Darlehen, Überziehungskrediten usw. addieren.

Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass der Zins der Blinde Fleck, die große Lebenslüge unserer Wirtschaftsordnung ist: Ohne hinterfragt, teilweise sogar ohne bemerkt zu werden, wirkt der Zins als großer Umverteiler und entzieht den Staaten, Gemeinschaften und Privathaushalten ständig wachsende Anteile ihres erwirtschafteten Reichtums. Um das, was der Zins übrig lässt, streiten sich dann die Parteien und Interessengruppen. Neoliberale Parteien neigen dazu, die Masse der Gering- und Normalverdiener bluten zu lassen, Linke wollen dagegen, dass die besser verdienenden Leistungsträger stärker zur Kasse gebeten werden. Es ist, als ob sich ein sizilianischer Restaurantbesitzer mit dem Kellner streitet, wer einen größeren Anteil am Schutzgeld für die Mafia bestreiten muss – anstatt dass man anfängt, die Existenzberechtigung der Mafia grundsätzlich in Frage zu stellen.

Die Duldung des zerstörerischen Zinsmechanismus durch eine schlafende Mehrheit der Bevölkerung kommt einer devoten „Abhängigkeitserklärung“ gegenüber den Gewinnern ausbeuterischer Strukturen gleich. Über 90% der Bürger würden von einer Abschaffung des Zinses mehr profitieren als sie dabei verlieren. Wenn Sie also zufällig Albrecht (Name der ALDI-Gründer) oder von Turn und Taxis heißen, dann hätte ich Verständnis dafür, dass sie die herrschende Zins-gestützte Wirtschaftsordnung prima finden. Falls Sie aber zu den ca. 90% der „wenig“ Verdienenden gehören, dann macht es keinen Sinn, brav eine der vier neoliberal orientierten Parteien zu wählen und den Zinsprofiteuren somit einen Freibrief für immer dramatischere Umverteilung des Reichtums von unten nach oben auszustellen.

Meine Energie gehört mir!

Ich hatte eine Zeit lang in meiner Wohnung ein von Vegetariern vertriebenes Poster hängen. Es zeigte ein fröhlich in die Kamera blickendes Schwein, und der Slogan lautete: „Mein Fleisch gehört mir“. Der Schlachtruf der Menschen in unserem Staat und überall auf der Welt müsste eigentlich heißen: „Meine Energie gehört mir“. Produktive Arbeit ist Einsatz von Zeit und Energie zum Zweck der Wertschöpfung. Das Vollkorn-Brot, das ich esse, die künstlerische Darbietung meines Lieblingssängers, der Stuhl, auf dem ich beim Tippen auf meiner Computer-Tastatur sitze, stellen für mich materielle und ideelle Werte dar. Man sollte meinen, es sei das selbstverständlichste von der Welt, dass dem produktiv Tätigen der gesamte Gegenwert seiner Arbeitsleistung zukommt. Doch die Arbeitsleistung eines Werktätigen ist in der Regel „mehr wert“ als sein Lohnzettel es vermuten lässt. Daher spricht Marx auch von „Mehrwert“ und meint damit den Gewinn des Unternehmers, den dieser seinen Arbeitern und Angestellten vorenthält.

Weit dramatischer ist allerdings, wie wir gesehen haben, das Ausmaß, in dem Arbeitserträge durch den Umverteilungsmechanismus des Zinses abgeschöpft werden. Neben der Umverteilung via Steuern und der Umverteilung mittels versteckter Zinsen gibt es nämlich als drittes noch die Umverteilung durch vorenthaltene Lohnanteile, die der Unternehmer, statt sie dem Arbeitnehmer auszuzahlen, den Aktieninhabern oder „Shareholdern“ zukommen lässt. Wir bekommen also als Lohn- oder Gehaltsempfänger zu viel wenig Geld für unsere Arbeit, von dem wir überdies viel zu hohe Steuern bezahlen und viel zu teure Produkte kaufen müssen. Der Zins – stellt man ihn sich einmal als eine Person vor – gleicht jenem „Alten Kaiser“, von dem Konstantin Wecker gesungen hat: „Du hast ihnen viel zu viel von ihrem Leben genommen.“

Der Zins nimmt uns täglich viel zu viel von unserem Leben, stiehlt uns andauernd Dinge und Privilegien, die zu unserem Glück beitragen könnten (soweit diese mit Geld zu tun haben). Er nimmt uns einen Teil unserer Bewegungsfreiheit, unserer Unabhängigkeit, unseres Wohlstands und unserer Gesundheit (denn bessere Nahrung und Gesundheitsversorgung kosten Geld, auch ausreichende Freizeit und Stressausgleich muss man sich leisten können.)

Kaiser Zins enttrohnen!

„Kaiser Zins“ ist der größte Ausbeuter, der schlimmste Energieräuber unserer Zeit. Der Schlachtruf, mit dem wir seine Burg erstürmen könnten, lautet: „Meine Energie gehört mir. Wir haben es schlichtweg satt, dass man uns einen Teil unseres Lebens stiehlt. Wir verstecken unseren Wunsch nach einem besseren Leben nicht länger hinter dem Argument, nur an der Steigerung der Binnennachfrage interessiert zu sein. Wir sind ebenso wenig Konsumvieh wie wir Arbeitstiere sind, die blökend darauf warten, dass man ihnen das Fell über die Ohren zieht. Wir fordern, den Zins zu entmachten, einfach, weil er schädlich ist und weil wir es so wünschen – wir das Volk, der Ausgangspunkt und Endzweck aller staatlichen Machtausübung“.

Natürlich ist der Zins in Wahrheit keine Person, hinter ihm stehen Menschen, die von diesem System profitieren. Neben den großen „Akteuren“ wie Banken und Aktiengesellschaften können durchaus auch Kleinanleger bis zu einem gewissen Grade zu den Profiteuren gehören – ohne böse Absicht, einfach, weil sie die Vorteile eines strukturellen Unrechts zu genießen versuchen. Eines jedoch ist klar: Der Zins widerspricht auf das Gröbste jenem „Pursuit of happiness“, den sich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auf die Fahnen geschrieben hat. Eben jene Unabhängigkeitserklärung besagt nicht nur, dass Freiheit, Leben und das Streben nach Glückseligkeit der „Endzweck“ aller Regierungen sei, sie sagt auch ausdrücklich, „dass zu jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solche Grundsätze zu gründen.“

Der Zins widerspricht auch dem Grundsatz, dass der Mensch nie nur Mittel zum Zweck sein darf. Im kapitalistischen System ist der Arbeitende Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung, der Ausschüttung immer höherer Renditen und der Steigerung ohnehin schon astronomisch hoher Vermögen. Eine solche Instrumentalisierung der Mehrzahl der Menschen zum alleinigen Nutzen Weniger, ist nichts anderes als Missbrauch. Wir müssen dahin kommen, das Zinssystem als finanziellen Missbrauch zu brandmarken, der dem sexuellen und emotionalen Missbrauch – wie er aus der Kriminalstatistik und der Psychotherapie bekannt ist – als verachtenswerte menschliche Verirrung an die Seite gestellt wird.

Ich habe den Begriff „Missbrauch“ durchaus mit Bedacht und nicht leichtfertig gewählt. „Wikipedia“ definiert Missbrauch beispielsweise so: „das ‚Benutzen’ von Menschen, die damit zum Objekt degradiert werden, über das jemand ohne Einverständnis verfügen kann. Damit wird die Menschenwürde dieser Personen verletzt.’“ Diese Definition trifft auf die Haltung, Manipulation und institutionalisierte Ausbeutung von „Menschenherden“ zum Zweck der Profitmaximierung zweifellos zu. Denkt man an sexuellen Missbrauch – etwa an einem Kind durch einen älteren männlichen Verwandten – so ist es Kennzeichen des Missbrauchs, dass der Täter seinen Bedürfnissen ohne jede Rücksicht auf die oft verheerenden negativen Folgen für das Opfer nachgeht. Es gibt leichtere Fälle von Missbrauch (etwa unerwünschte Berührungen) und sehr schwere, die die Seele des Opfers zeitlebens überschatten.

Man mag nun einwenden, dass etwas so alltägliches wie Zinsforderungen mit einem solch schweren Vergehen wie Missbrauch nicht vergleichbar ist. Trotzdem ist es auch für das Verhalten der Zinsprofiteure typisch, dass sie sich nicht darum kümmern, wie es ihren Opfer damit geht. Und es gibt verschieden schwere Formen der Ausbeutung durch Zins und Zinseszins. Die schwerwiegendsten führen zum Tod. „Jubilé 2000“, eine Organisation, die den Schuldenerlass für die Länder der Dritten Welt fordert, hat ausgerechnet, dass im Jahr 2004 alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren wegen der Verschuldung seines Landes stirbt. Der Grund ist (sehr verkürzt dargestellt), dass die Regierungen der Staaten der Dritten Welt für den Schuldendienst oft ein Vielfaches dessen aufwenden, was sie für die Bereitstellung grundlegender sozialer Leistung für die Ärmsten zur Verfügung haben.

Besonders krass z.B. in Kamerun, wo in den 90er Jahren für Sozialleistungen durchschnittlich 4% des Bruttoinlandsprodukts ausgegeben wurden, für Schuldendienst dagegen sage und schreibe 36,0%. Deshalb wird Jean Ziegler, der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, nicht müde, bei Interviews und in seinen Büchern zu betonen: „Wer an Hunger stirbt, stirbt als Opfer eines Mordes. Und der Mörder trägt einen Namen: Verschuldung.“ (aus: „Das Imperium der Schande“, C. Bertelsmann-Verlag)

Der gekochte Frosch

Mord oder Missbrauch? Die schlimmste Form von Missbrauch besteht doch darin, dass man einen Menschen buchstäblich zu Tode benutzt. Bei uns in Westeuropa sind die Verhältnisse im Augenblick noch weniger dramatisch. Unser durchschnittlicher Lebensstandard sinkt nur langsam, während gleichzeitig die kostenlosen Leistungen des Staates für seine Bürger zurückgefahren werden. Wir gleichen jenem Frosch, der nicht merkt, dass er gekocht werden soll, da sich die Temperatur schrittweise und fast unmerklich erhöht. Hätte der Frosch vorausschauend gehandelt, hätte er vielleicht noch die Kraft besessen, aus dem Topf zu springen. Bei uns in Europa herrscht – gerade mit Blick auf die Situation in der Dritten Welt – eine gewisse Scheu, sich zu beschweren. Solange man uns das Hemd lässt, trauen wir uns nicht, darüber zu klagen, dass man uns den Rock stiehlt.

Vielleicht fühlen wir uns in unserem Willen zum Handeln auch ein wenig durch die Tatsache gelähmt, dass wir als Konsumenten im Westen massiv von der Ausbeutung der Dritten Welt profitieren. Vereinfacht gesprochen, werden die Rohstoffpreise, z.B. für Kaffee, Tee, Zucker und Reis, in den Erzeugerländern bis zum Geht-nicht-mehr (und noch darüber hinaus) gedrückt, die Arbeiter in lebensbedrohlicher Weise ausgebeutet, damit Sie und bei ALDI billig einkaufen können.

Aber ein vernünftiges und faires Einkaufsverhalten, Schuldenerlass und das Aushebeln des Zinssystems schließen einander nicht aus – sie sind vielmehr Teile eines Pakets notwendiger Maßnahmen zur Verhinderung finanziellen Missbrauchs. Stünden dem Staatshaushalt und den Privathaushalt (also uns allen) schlagartig mehr Mittel zur Verfügung, könnten diese Mittel auch für eine erheblich höhere Entwicklungshilfe verwendet werden (Schuldenerlass für die Länder der Dritten Welt und die Vermeidung weitere Schulden immer vorausgesetzt).

Pursuit of Profit

Die Zeiten sind hart, der „Pursuit of Profit“ hat den „Pursuit of Happiness“ nicht nur in den Vereinigten Staaten längst als „unveräußerbares Recht“ abgelöst. Dieses Recht ist nichts anderes als das Recht weniger, finanziell und politisch Mächtiger, den finanziellen Missbrauch ungebremst fortzuführen. Auch „des Glückes Unterpfand“ – millionenfach in den Fußballstadien beschworen – hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Erinnern Sie sich noch an unsere drei höchsten Werte: Einigkeit und Recht und Freiheit? Aus der „Einigkeit“ ist eine unerträgliche Gleichschaltung der meisten Presseorgane im Sinne der neoliberalen Meinungsdominanz geworden. Das „Recht“ mutierte zum Recht auf leistungslose Einkommen aus verzinsten Geldanlagen. Und die „Freiheit“, nun ja, daraus ist eine schrankenlose Marktanarchie geworden, die dem Stärkeren alle Rechte und dem Schwächeren immer weniger Schutz bietet. Was folgt aus dem allen? „Höchste Zeit, aufzustehen!“

 

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