Frank Nonnenmacher: Die Nachbarn verstehen (1) – Absurditäten des französischen Wahlsystems
Wir freuen uns und fühlen uns geehrt, Frank Nonnenmacher als Autor bei HdS begrüßen zu dürfen.
Frank Nonnenmacher, geb. 1944, wurde von seinen Eltern Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre auf ein altsprachliches Gymnasium geschickt. Dort litt er unter den reaktionär-konservativen Lehrern, war aufsässig, schwänzte häufig die Schule und war ein schlechter Schüler. Mit Verspätung machte er Abitur und wurde mangels sinnvoller Zukunftsvorstellungen Soldat bei der Bundeswehr.
Dort erfuhr er 1966 eine erste unfreiwillige Politisierung, als er nämlich die abfälligen Bemerkungen der Offiziere und Unteroffiziere über „die langhaarigen Affen von Studenten“ hörte, gemeint waren die Anti-Springer-Demonstranten.
Er verließ nach zwei Jahren die Bundeswehr, wurde als Kriegsdienstverweigerer anerkannt, studierte und wurde (ausgerechnet !) Lehrer für Bildende Kunst, Deutsch und Politik. Er engagierte sich gewerkschaftlich, in der Friedensbewegung und in deren Anfangszeit bei den Grünen.
Er absolvierte ein berufsbegleitendes Zweitstudium, promovierte, habilitierte und wurde Professor für Politische Bildung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Forschungsgebiete waren die Entwicklung politikdidaktischer Konzeptionen und Analyse und Kritik herrschender Lernkulturen.
Nach seiner Emeritierung 2009 schrieb er eine Doppelbiografie über zwei Brüder, seinen Vater und dessen Halbbruder, die gleichzeitig eine zeitgeschichtliche Erzählung über das 20. Jahrhundert ist. Während der eine Bruder, Gustav, ins Waisenhaus kam und später in Hitlers Luftwaffe den gesamten Zweiten Weltkrieg knapp überlebte, wuchs der andere, Ernst, mit der Mutter in größter Armut auf, wurde kleinkriminell und kam nach Verbüßung einer Gefängnisstrafe von 1941 bis zur Befreiung in die KZ Flossenbürg und Sachsenhausen.
1989 lernte Konstantin Wecker Ernst Nonnenmacher im Mainzer Unterhaus kennen und widmete ihm das Lied „Sturmbannführer Maier“.
Seit 2001 lebt Frank Nonnenmacher mit seiner Frau Eva Fischer zu einem Drittel des Jahres in einem kleinen südfranzösischen Dorf bei Uzès im Departement Gard. Beide sind dort in einem Kulturverein tätig, der unter anderem seit vier Jahren den jährlichen Gedenktag zum Kriegsende 1918 als „11 novembre autrement qu’ailleurs“ („der 11. November anders als anderswo“), nämlich unter antimilitaristischen Vorzeichen organisiert.
Für „Hinter den Schlagzeilen“ kommentiert Frank Nonnenmacher in unregelmäßigen Abständen französische Geschehnisse aus nationaler und lokaler Perspektive und mit dem Anspruch „Die Nachbarn verstehen“.
Hier nun der erste Text zum Thema, ein weiterer folgt im Lauf der nächsten Woche.
Absurditäten des französischen Wahlsystems
Mein Nachbar ist der festen Überzeugung, dass der Bundspräsident direkt vom Volk gewählt ist, dass er bestimmt, wer Regierungschef wird und überhaupt über die wichtigsten Dinge ganz allein entscheiden kann, wie zum Beispiel über den Einsatz der Bundeswehr – im Äußern wie im Inneren – und er kann den Bundestag auflösen und so Neuwahlen zum Bundestag erzwingen. Meine Einwände sind ihm fremd: Dass wir mit einem so starken Präsident in der Weimarer Republik schlechte Erfahrungen gemacht haben, dass das Präsidialsystem letztlich mit ein Grund war, dass Hitler ohne großen Widerstand an die Macht kommen konnte, dass wir deshalb froh sind, einen Präsidenten zu haben, der nur repräsentiert und einen Regierungschef, der vom Parlament abhängig ist. Die Sichtweise meines Nachbarn erklärt sich dadurch, dass er Franzose ist, ländlicher Südfranzose zudem, denn ich lebe seit Jahren etwa ein Drittel des Jahres in einem kleinen Dorf des Languedoc. Mein Nachbar ist kein akademisch gebildeter Mensch, er sagt von sich, dass er das Interesse an Politik schon seit langem verloren hat, aber er – und weitere Nachbarn – diskutieren mit mir voller Hingabe während des abendlichen Boule-Spiels über die gesellschaftlichen Verhältnisse, mehr denn je nach den Attentaten vom 13. November 2015 in Paris und vom 22. März 2016 in Brüssel.
Wenn ich im Folgenden meine Eindrücke beschreibe, die ich von den Franzosen habe, so weiß ich wohl, dass es „den“ Franzosen genau so wenig gibt, wie wenn meine Nachbarn in mir „den“ Deutschen suchen. Ich betone immer wieder gerne, dass für mich „Sauberkeit“ nicht die oberste Tugend ist und dass ein Blick in mein Arbeitszimmer genügt, um zu beweisen, dass „Ordnung“ jedenfalls nicht eine Leitschnur meines Lebens ist.
In den Gesprächen mit französischen Nachbarn und Freunden fällt mir immer wieder auf, dass ich ein gebrochenes Verhältnis zur Nation habe. „Die“ Franzosen tun sich da leichter. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind seit 1789 normative Orientierungen die weithin geteilt und mit der französischen Nation identifiziert werden. Die Nationalhymne wird mit Inbrunst gesungen, ihre nationalistischen und martialischen Akzente locker übergangen. Als Karim Benzema, ein in Lyon geborener französischer Nationalspieler mit algerischen Wurzeln, wegen Beteiligung an einer Erpressung eines Mitspielers angeklagt wurde, wurde er suspendiert. Dieser Tage (April 2016) wurde entschieden, dass er auch für die Europameisterschaft in diesem Sommer im eigenen Land nicht nominiert wird. In Leserbriefen wurde diese Entscheidung heftig diskutiert und mehrheitlich gut geheißen, oft aber nicht so sehr aus ethischen Gründen, sondern mit dem Hinweis darauf, dass Benzema regelmäßig die Nationalhymne nicht mitsingt.
Darauf dass Frankreich auf Grund einer heute anachronistischen historischen Konstellation eine der 5 Veto-Mächte ist, ist man ebenso stolz wie auf die Rolle als Atommacht und weltweit führender Produzent von Atomstrom und Nuklearanlagen. Der Ausstieg aus der Atomnutzung verläuft jedenfalls nirgends so zögerlich wie in Frankreich, und Proteste dagegen bleiben kleinen Minderheiten überlassen.
Vielleicht ist dieser mir so fremd erscheinende Patriotismus ein Hintergrund dafür, dass Französinnen und Franzosen die schrecklichen Attentate vom 13. November nach dem ersten Schock so souverän hingenommen haben. In den Kundgebungen wurde fast trotzig die blau-weiß-rote Fahne geschwenkt und inbrünstig die Marseillaise gesungen. Als nur vier Wochen später die Wahlen zu den neuen Regionalparlamenten anstanden befürchtete ich schon das schlimmste: Ergebnisse von 40 % oder mehr für die schon vorher starke Partei der Neonazis, der Xenophoben und Antieuropäer, des „front national“ von Marine Le Pen,.
Kleiner Exkurs:
In Frankreich herrscht das personenbezogene Mehrheitswahlrecht. Wenn im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit für eine/n Kandidatin/en entsteht, entscheidet der zweite Wahlgang. Meine Nachbarin erklärte mir – einen gängigen Spruch zitierend – die typische Wählerstrategie so: „Im ersten Wahlgang wählt man mit dem Herzen, im zweiten mit dem Verstand.“ Wenn man also kein unbedingter Anhänger einer bestimmten Partei ist (und das sind in Frankreich noch viel weniger Menschen als in Deutschland) dann wählt man im ersten Wahlgang auch Vertreter kleinerer und kleinster Parteien, gerne als kritischer Mensch lokale Ökoaktivisten, engagierte Kommunisten, lange Zeit auch Trotzkisten. Der politische Sinn des Wahlverhaltens zu Gunsten aussichtsloser Bewerber lag darin, dass die Kandidaten von PS (Sozialisten) und Konservativen (früher Gaullisten, dann unter verschiedenen Namen UMP, RPR und jetzt die „Republikaner“ Sarkozys) nach dem ersten Wahlgang um die Gunst der Wählerinnen und Wähler der ausgeschiedenen Kandidaten werben müssen, um im zweiten Wahlgang eine Mehrheit zu bekommen. Im zweiten Wahlgang wählt man dann „mit dem Verstand“, das heißt, man entscheidet dann oft für das „kleinere Übel“. Bekanntestes und zugleich die Absurdität des Systems aufzeigendes Beispiel war die Situation im Jahre 2002. Überraschend war der PS-Kandidat Lionel Jospin mit nur 16,18% auf den dritten Platz gekommen, der Neofaschist Jean-Marie Le Pen (Vater der heutigen Parteivorsitzenden Marine Le Pen) erhielt 16,86% und trat im zweiten Wahlgang gegen den Konservativen Jacques Chirac (UMP) an. Welch eine Alternative: Ein reaktionärer Konservativer oder ein Neofaschist! Und was taten die „vernünftigen“ Franzosen (sofern sie nicht zu Hause blieben): Kommunisten, Ökologen, Trotzkisten, Sozialisten, Liberale und Konservative wählten im zweiten Wahlgang mit über 80% Chirac. Manche gingen mit einer Wäscheklammer in der Nase wählen, um zu demonstrieren, wie sehr die Situation zum Himmel stank.
Und nun also Wahlen zu den neu geschaffenen Regionen vier Wochen nach den schrecklichen Pariser Attentaten im Dezember 2015. Das Attentat war selbstverständlich Wasser auf die Mühlen der Xenophoben: Pauschalverdächtigungen gegen Muslime, Attacken gegen die angeblich zu lasche Polizei, Forderungen nach strengeren Gesetzen, Grenzkontrollen und Überwachungen öffentlicher Plätze wurden erhoben und fanden sowohl in den Medien als auch in der sozialistischen Regierung Widerhall. Präsident Hollande sprach davon, dass Frankreich sich „im Krieg“ befinde, ergriff die Chance und spielte den starken Mann. Er rief offiziell den „état d’urgence“ (Notstand) aus, der bis heute besteht. Mit seinem Plan, „terroristischen Straftätern“ die Nationalität abzuerkennen („déchéance de nationalité“) ist er aber nach großspurigen Ankündigungen gescheitert. War Hollande schon vor den Attentaten laut Umfragen der unbeliebteste Präsident Frankreichs, so sind die Werte nach einem kleinen Zwischenhoch fast wieder so niedrig wie vor dem Attentat.
Die Nachbarn und Freunde in „meinem“ Dorf waren von den Pariser Ereignissen vom 13. November und vom 22.März 2016 in Brüssel entsetzt. Ich habe niemanden getroffen, der sich gegen die folgende militärische Offensive in Syrien wandte. Um „les terroristes“ und „les islamistes“ zu treffen, war jedes Mittel Recht. Man stand hinter dem Präsidenten, nicht weil es Hollande war und schon gar nicht, weil es ein Sozialist war, sondern weil er eben als Präsident gehandelt hat, wie ein Präsident handeln muss. Mit Freude, ja fast mit Stolz wurde nach „Je suis Charlie“ das weltweite mit Frankreich solidarische „Je suis Paris“ zur Kenntnis genommen und ebenso, dass in allen Hauptstädten der Welt die zentralen Gebäude wie Brandenburger Tor, Collosseum, Oper in Sydney, Freiheitsstatue … in den französischen Nationalfarben erstrahlten. Auch wir Deutschen „waren Paris“ in ehrlicher Solidarität. Aber wesentlich weniger empathisch waren „wir“ Kabul, Aleppo oder Lahore, wo nicht weniger Menschen Opfer des islamischen Terrors wurden.
Nur sehr wenige meiner Freunde und Nachbarn stimmen der These zu, dass man mit Bomben keine Konflikte löst, sondern nur neue produziert, aber auch sie, die Bedenklicheren und die Kritischeren, sehen keine Alternative zum Militäreinsatz gegen „daech“, wie die Franzosen den „Islamischen Staat“ nennen.
In „meinem“ Dorf, war das dann bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 so: Über 45% blieben zu Hause; 4,3% wählten ungültig. Im 1. Wahlgang erhielt der Kandidat des „Front national“ 38,5, im zweiten Wahlgang sogar 49% der gültigen Stimmen. Auf dem Boule-Platz wurde das lokale Ergebnis mit Staunen und Verwunderung kommentiert; ich habe bis heute niemanden getroffen, der sich klar zum „Front national“ bekannt hat.
Auf der Ebene der neuen Region Languedoc-Roussillon-Midi-Pyrénées (über vier Millionen Wahlberechtigte) war es dann nicht ganz so schlimm: „Front national“-Kandidat: 31,8; die Linkskandidatin: 24,4, der konservative Kandidat: 18,8 der grüne Kandidat: 10,2% im ersten Wahlgang.
Aber das alte Spiel mit dem Herzen und der Vernunft klappte noch einmal: Im zweiten Wahlgang (hier dürfen bei Regionalwahlen nicht nur die beiden besten, sondern alle Kandidaten, die mehr als 10% erhalten haben, noch einmal antreten) erhielt die Linkskandidatin 44,8% und der Front national hatte mit 33,8 kaum Zuwachs. Ergebnis im Ganzen: Der Front National gewann in keinem einzigen der neu geschaffenen 18 Regionalparlamente die Mehrheit. Obwohl er – relativ gesehen – aktuell die stärkste Partei Frankreichs ist.
Bleibt die große Frage, ob dieses Spiel bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr noch einmal klappt. Noch weiß man nicht, wer bei den Republikanern Kandidat sein wird. Alain Juppé, Nicolas Sarkozy und Bruno Le Maire scheinen laut Umfragen die aussichtsreichsten Kandidaten der rechten Seite zu sein. In erstmals durchgeführten Vorwahlen soll das im November entschieden werden. Auf der Seite der Linken ist alles unklar. Wird es überhaupt Vorwahlen geben? Wird bzw. will Hollande noch einmal kandidieren? Will seine Partei das? Wer könnte außerdem kandidieren? Manuel Valls, der Regierungschef?, Emanuel Macron der Wirtschaftsminister?, beides rechte Sozialdemokraten. Martine Aubry?, eine eher linksliberale ehemalige Ministerin und Parteivorsitzende? Unabhängige Linke? Oder gar Nicolas Hulot, ein populärer Fernsehmoderator, Umweltschützer und Filmemacher?
Nur bei den Rechtsradikalen ist alles klar: Marine Le Pen wird für den „front national“ antreten.
Wenn ich meine Freunde im Dorf nach den Wahlen frage, dann ist eine der häufigsten Antworten: „Mir hängt dieses ganze Personalkarussell zum Halse heraus. Egal ob Sozialisten oder Republikaner, egal ob Mitterand, Sarkozy oder Hollande die haben doch alle ihre Versprechen nicht gehalten. Die bringen doch alle nur ihre Schäfchen ins Trockene. Ich gehe gar nicht mehr wählen.“ Und auf meinen Vorhalt: “Aber dann unterstützt du doch indirekt die Neofaschisten!?“ wird mir erst einmal entgegen gehalten, dass das keineswegs alle Nazis seien und überhaupt, man könne sie ja mal ‚dranlassen’, dann könnten sie mal zeigen, ob sie es besser könnten.“ Die Argumente kommen mir bekannt vor, aber ich zögere vor der Wucht meines potentiellen Einwandes zurück – will kein deutscher Besserwisser sein.
„Mein“ Dorf ist ein Winzerdorf. Die Weinbauern führen eine klare Rede, wenn sie auf die Ökonomie zu sprechen kommen. „Früher, da war alles besser. Da hat es noch anständige Preise für den Wein gegeben. Brüssel hat alles kaputt gemacht. Jetzt gibt es billigen Wein aus Bulgarien, Rumänien, aus Chile und Südafrika. Da haben wir doch keine Chance mehr. Die EU ist für uns kein Fortschritt.“ Meine Bemerkung, Frankreich sei als hochentwickeltes Industrieland doch auf den offenen Markt, zumindest in Europa, angewiesen, wird weggewischt. Man hört freundlich zu, wenn ich versuche von einem anderen Europa zu schwärmen, in dem nicht die Interessen des Großkapitals und das deutsche Spardiktat herrschen und ernte freundliches Kopfnicken, merke aber, dass ich nicht wirklich durchdringe. Das allgemeine Brüssel-bashing dominiert die einverständliche Rhetorik der Einheimischen und ich werde als Deutscher, Großstädter und Intellektueller freundschaftlich toleriert, aber in meiner Denkweise nicht ernst genommen.
Die Reflektierteren unter meinen Freunden sind wohl in der Lage, die antieuropäischen Reflexe zu kritisieren, sie beklagen die mangelnde Orientierung der Winzer Südfrankreichs an der ökologischen Landwirtschaft und fordern eine klügere Strategie des Umgangs mit der internationalen Konkurrenz. Da atme ich dann auf, um aber bald darauf wieder aufs Neue ins Grübeln zu kommen, wenn mir als unumstößlich mitgeteilt wird: „Aber wenn nächstes Jahr im zweiten Wahlgang Hollande oder gar Sarkozy gegen Le Pen zur Wahl steht … eine solche Erpressung mache ich nicht mehr mit; die Wahl zwischen einem Rechten und einem Rechtsextremen lasse ich mir nicht noch einmal aufzwingen, auch nicht mit einer Wäscheklammer in der Nase.“
Manchmal werde ich in der Erwartung, die Antwort könne nur „ja“ sein, gefragt, ob ich Frankreich liebe, ich komme schließlich immer wieder, spreche die Sprache leidlich, interessiere mich sehr für Land und Leute, für Weinbau und Stierzucht. Ich antworte dann: „Nach welchem Frankreich fragst du? Ja, ich liebe das republikanische, das aufgeklärte, das laizistische und weltoffene Frankreich. Das nationalistische, autoritäre und militaristische Frankreich liebe ich weniger.“ Und weil dann meist keine unmittelbare Reaktion erfolgt, füge ich hinzu: „Und mit Deutschland geht es mir genau so.“