Frank Nonnenmacher: Die Nachbarn verstehen (2)
Die Auferstehungsversuche von Präsident Hollande und die Geburt einer neuen Bewegung: „Nuit Debout“. Schröder und Blair haben es vorgemacht: Das Prinzip “Je schlechter wir die Menschen behandlen, desto besser für die Wirtschaft” wurde zum Erfolgsmodell – sieht man von ein paar bedauerlichen, jedoch unvermeidlichen Opfern am Rand der Gesellschaft ab. Da möchte Frankreichs Präsident nicht nachstehen und verabschiedete – mit ohnehin erstaunlicher Verspätung – eine schrödereskes Arbeitsmarktreform nach dem Gusto derer, die Arbeitnehmerrechte schon immer störend fanden. Doch es regt sich Widerstand auf den Straßen – dies vielleicht der auffälligste Unterschied zu deutschen Verhältnissen. Frank Nonnenmacher, der in Frankreich lebt und sich gut mit “Volkes Stimmung” auskennt, berichtet im zweiten Teil seiner Serie wieder aus unserem Nachbarland, das für viele noch immer unbekanntes Terrain ist. (Frank Nonnenmacher)
Seit vier Jahren ist François Hollande jetzt Präsident in Frankreich. Ein Jahr hat er noch. Schon früh hatte er versprochen: Das alles entscheidende Kriterium für eine erneute Kandidatur 2017 sei ein Erfolg im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Vier Jahre lang hat sich wenig bis nichts getan. Die Arbeitslosigkeit ist seit seinem Amtsantritt gestiegen, sie liegt bei über 10 %; 3,5 Millionen Französinnen und Franzosen sind arbeitslos.
Meine französischen Freunde und Nachbarn sind im Allgemeinen über Deutschland, vor allem über das politische System, nicht gut informiert. Eines aber wissen sie ganz genau, denn in regelmäßigen Abständen wird dieser Vergleich mit Deutschland gezogen. Während die Arbeitslosigkeit in Deutschland stetig sank (bis auf 4,5%), stiegen die Zahlen in Hollandes Amtszeit permanent. Die deutschen Zahlen, wie überhaupt die ökonomische Stärke Deutschlands („Exportweltmeister“), die in der Presse regelmäßig zitiert werden, versuche ich in den Boule-Platz-Gesprächen zu relativieren. Ich weise darauf hin, dass dieser deutsche „Erfolg“ durch die neoliberalen Schröderschen „Reformen“ erkauft wurde, durch Senkung der sozialen Standards, durch Niedriglohn-Sektoren, durch Bildung von Prekariat und Altersarmut, und ich löse oft Verwunderung aus, denn über diese Schattenseiten des immer wieder als erfolgreich dargestellten deutschen Modells liest man in den französischen Monopol-Regionalzeitungen (zum Beispiel „Midi Libre“ oder „La Provence“) wenig bis gar nichts.
Am 3. März 2016 hatte Hollande dann sein lang ersehntes Erfolgserlebnis, das er sofort für eine come-back-Inszenierung nutzte: Für das letzte Quartal des Jahres 2015 meldete „insee“ (institut national de la statistique et des études économiques) einen Rückgang der Arbeitslosigkeit von 10,2 auf 10,1%. Punktgenau packt Hollande einen Plan aus, den er offensichtlich bei dem deutschen Parteifreund Schröder abgeschaut hatte: ein Gesetzesentwurf für eine Arbeitsmarktreform, genannt nach der Arbeitsministerin El Khomri. („loi El Khomri“) wurde vorgelegt.
Und der hatte es in sich:
– Bei Entlassungen werden Entschädigungszahlungen je nach Betriebszugehörigkeit per Gesetz begrenzt, z.B. maximal 9 Monate bei einer Betriebszugehörigkeit zwischen 5 und 10 Jahren
– Die 35-Stunden-Woche, eine der Errungenschaften des französischen Sozialstaates, bleibt formal bestehen, kann jedoch „ausnahmsweise“ (bei guter Auftragslage) auf bis zu 48, in besonderen Fällen auch bis zu 60 Stunden erhöht werden.
– Überstünden müssen nicht mehr mit 25%, sondern können auch mit nur 10% Zuschlag vergütet werden.
– Alle Regelungen stehen offen für betriebsinterne Verhandlungen, was im Klartext heißt, dass die Unternehmen ihre Belegschaft mit dem Argument schlechter Auftragslage zur Akzeptanz der „notwendigen“ Entlassungen und Lohnverzicht und bei guter Auftragslage zu schlecht bezahlten Überstunden erpressen können.
– Betriebsbedingte Kündigungen werden erleichtert, insbesondere wenn dadurch die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebes verbessert wird.
Hinter allem steckt ganz offensichtlich die ordoliberale Logik: Wenn man den Unternehmen Entlassungen und Lohndumping erleichtert, erhöht sich die Bereitschaft, Menschen Arbeit und Lohn zu geben. Oder, um es mit den Worten eines der angebotsorientierten Ökonomieklassiker wie Friedrich August Hayek zu sagen: „Wenn man einem Pferd genug Hafer gibt, wird auch etwas auf die Straße durchkommen, um die Spatzen zu füttern“. Nicht verwunderlich: Ein begeisterter Befürworter („Enfin!“ = endlich) des loi El Khomri ist Pierre Gattaz, Präsident des französischen Unternehmerverbandes MEDEF (Mouvement des Entrepreneurs de France).
Ob Hollande im Parlament eine Mehrheit für sein Gesetz zusammenbringen wird, bleibt fraglich. Etwa 30 Abgeordnete seiner eigenen Partei wollen ihre Zustimmung versagen. Die Gewerkschaften und das gesamte restliche linke Lager rufen zu Protesten auf. Jean-Luc Mélenchon, viertplatzierter der letzten Präsidentschaftswahlen, Vorsitzender der „parti de gauche“ (Partei der Linken) und erklärter Kandidat für 2017 meinte: „Das El-Khomri-Gesetz schickt uns ins letzte Jahrhundert zurück“ (Libération vom 26. Febr. 2016). Angesichts der keineswegs sicheren Mehrheit hat Manuel Valls, Hollandes Regierungschef, schon mit der Anwendung des bizarren Verfassungsartikels 49(3) gedroht, wonach ein Gesetz ohne Abstimmung angenommen ist, es sei denn eine absolute Mehrheit des Parlamentes verbindet es mit einem Misstrauensvotum, das dann mit einer Parlamentsauflösung und Neuwahlen durch den Präsidenten beantwortet werden kann. Hollande kann damit rechnen, dass auch die kritischsten Abgeordneten seines Lagers daran kein Interesse haben können. Man wird sehen, wer die momentanen taktischen Spielchen gewinnen wird.
In der medialen Öffentlichkeit ist der Präsident jedenfalls entschlossen, seine Bilanz zu verteidigen und bereitet seine Kandidatur vor, die er offiziell immer noch nicht erklärt hat. Am 14. April stellte er sich in einem „bürgerschaftlichen Dialog“ zur besten Sendezeit über zwei Stunden lang im Fernsehsender „France2“ der Öffentlichkeit. Mit vier ausgesuchten „citoyens“ diskutierte er die aktuelle Situation und hatte nur eine Botschaft: „La France va mieux“ (Frankreich geht es besser). Alle Kritik ließ er an sich abprallen. Die Libération titelte: „Operation Überleben bei France2“ (Libération, 16./17. April 2016)
Am 26. April gab es dann eine Nachricht, die Hollande für sein „La France va mieux“ als Beweis in Anspruch nahm. Australien bestellte 12 U-Boote im Wert von 34 Milliarden €, und zwar nicht bei den Mitkonkurrenten Deutschland oder Japan, sondern in Frankreich: 4000 Arbeitsplätze für sechs Jahre geschaffen und gesichert.
Dann griff Hollande auf die bei allen Regierenden beliebte Methode zum Machterhalt zurück: Wahlgeschenke.
Am 11. Februar wurde die Senkung der Sozialabgaben für Landwirte bekanntgegeben (Kosten: 500 Mio €). Am 17. März der Berechnungssatz für Beamtengehälter um insgesamt 1,2´% (600 Mio €) angehoben, am 31. März eine Gehaltserhöhung für die 330 000 Grundschullehrer um 800,00 € jährlich (265 Mio €). Ein bürgerliches Massenblatt bilanziert die Wahlgeschenke hämisch auf insgesamt 4 Milliarden €. („Aujourd’hui en France“, 2. Mai 2016, S. 1-3) Ob damit in Zukunft Frankreich die Konvergenzkriterien erfüllen kann (nicht mehr als 60% Staatsschulden, nicht mehr als 3% Haushaltsdefizit, jeweils vom Brottoinlandsprodukt) bleibt fraglich, aber diese Diskussion wird auf später verschoben und Hollande kann sich dann medienwirksam gegen Schäuble und das – in der Tat asoziale – deutsche Spardiktat profilieren.
Zur Zeit wird die Regierungsbilanz in aufwändigen Werbekampagnen geschönt. Mit Video-Clips und massenhaft verteilen Postkartenserien geht es darum, ein positives Resümee zu ziehen. Die Libération hat die dabei aufgestellten Behauptungen geprüft und bewiesen, dass auch vor plumpen Manipulationen nicht halt gemacht wird. Zum Beispiel wird auf einer der Trumpfkarten behauptet: „2015 wurden in Frankreich 525 000 Unternehmen gegründet. Frankreich ist Weltmeister bei der Gründung neuer Unternehmen.“ Nicht gesagt wird, dass 95% dieser Unternehmen keinen einzigen Angestellten haben und zwei Drittel innerhalb von drei Jahren nach ihrer Gründung wieder verschwinden. (Libération, vom 4. Mai 2016, S. 3)
All diese Propagandamaßnahmen konnten und können nicht verhindern, dass gegen das „loi El Khomri“ regelmäßig und machtvoll demonstriert wird. Am 9. März waren es 500 000 Menschen, laut Angaben der Behörden „nur“ 224 000. Am 31. März laut Gewerkschaften 1,2 Millionen.
Das „loi El Khomri“ und die Demonstrationen waren auch in „meinem“ Dorf regelmäßiger, aber nicht unbedingt zu besonderer Erregtheit Anlass gebender Gesprächsstoff. Mein Nachbar Edgar (61), selbstständiger Winzer ohne Angestellte, wusste von einem Kollegen zu erzählen, der einen Marokkaner beschäftigte. Dieser sei nicht nur faul, sondern auch noch ständig mit fadenscheinigen Attesten krank. Nein, man dürfe nicht verallgemeinern, er kenne viele Fälle, wo der Kollege mit „seinen“ Arbeitern ganz zufrieden sei, aber ich solle mal überlegen, was es für einen kleinen Betrieb in der Landwirtschaft bedeute, wenn ein Hilfsarbeiter mit der 35-Studen-Woche argumentiere, sonn- und feiertags nicht arbeiten wolle und ständig „krank“ feiere. Ähnliches berichtete er von einem Bäcker im Nachbardorf, der durch einen unfähigen und unwilligen Angestellten, den er nicht los geworden sei, fast in den Ruin getrieben wurde. Da sei es für das Überleben des Betriebes notwendig, wenn gerechtfertigte Entlassungen nicht durch einen übertriebenen Schutz für den Beschäftigten verhindert würden.
Die Boule-Platz-Debatte endete mit der allseits bekräftigten Feststellung, dass erstens für die kleinen Unternehmer leichtere Entlassungsmöglichkeiten durchaus willkommen wären, dass dies ja auch nur in wenigen Fällen notwendig sei und dass der Fall ganz anders läge beim „grand capital“, also bei den großen Betrieben und Konzernen; diese hätten ja überhaupt kein soziales Gewissen und dass die Konzern- und Firmenchefs Jahresgehälter von über 10 Millionen erhielten, während sie ihre Gewinne durch Lohndumping und Entlassungen von Familienvätern erzielten, das sei wahrhaftig eine „cochonnerie“ (Sauerei) und rechtfertige den Protest. Und Hollande zu wählen, falls er es wage noch einmal zu kandidieren, das komme überhaupt nicht in Frage.
An jenem 31. März ereignete sich aber in Paris noch etwas völlig Neues. Nach dem Ende der offiziellen Demonstration gegen das „loi El Khomri“ versammelten sich mehr als tausend Menschen an der „place de la république“ in Paris, setzten sich hin und diskutierten. Und dies passiert seitdem jeden Tag. Die Bewegung „Nuit Debout“ (ungefähr zu übersetzen mit „nachts hellwach“ oder „aufrecht durch die Nacht“) war geboren. Dieser Platz, der wie kaum ein anderer in Frankreich schon unzählige Manifestationen erlebt hat, wird zur Geburtsstunde einer völlig neuartigen „Demonstration“. Hier laufen nicht Menschen ohne großen kommunikativen Austausch hinter gemeinsamen Spruchbandparolen vorbei und gehen anschließend nach Hause, hier treffen sich jeden Abend Menschen und diskutieren ihr Leben, ihre Gesellschaft, ihre Zukunftsvorstellung. Sie tun das ohne Leitung auf der Basis minimaler Regeln. Lediglich eine Redeliste wird geführt und darauf geachtet, dass niemand monologisiert. Nonverbale Zeichen bedeuten Zustimmung (Wedeln mit den Händen über dem Kopf) oder Ablehnung (Kreuzung der Unterarme vor dem Kopf). Wenn jemand eine Sache vertiefen will, schreibt er das Thema auf einen Zettel und findet sich mit Interessierten zu einer Diskussionsgruppe zusammen.
Man weiß nicht genau, was man will, man weiß nur, dass man etwas anstrebt, das zu den herrschenden Strukturen gegenläufig ist, weil eben diese herrschenden Strukturen das hervorgebracht haben, was man nicht mehr haben will: Ein System sich selbst rekrutierender Eliten der „grandes écoles“ jener Pariser Hochschulen, in welchen die einflussreichen Posten der Republik vergeben werden, eine Parteienlandschaft, in der „la droite“ ohnehin nichts gegen die soziale Schieflage der Republik tut und „la gauche“ dies vor den Wahlen verspricht und anschließend nicht hält, ein System, in dem Politik-, Wirtschafts- und Finanzkriminalität nicht wirklich geächtet sind. Viele Beiträge schwanken zwischen Antiparlamentarismus und einer Parlamentskritik, die den Parlamentarismus verändern will, kaum jemand will etwas mit den großen Parteien zu tun haben. Ideen und Aktionen werden geboren, verworfen, wieder aufgegriffen: Engagierte Nicht-Wähler plädieren für eine Aktion „öffentliche Verbrennung von Wahlbenachrichtigungskarten“, Vegetarier für die Blockade einer Fast-food-Kette. Wenn abgestimmt wird, dann sind es Meinungsbilder und knappe Mehrheiten stellen keine Entscheidung dar, sondern sind ein Grund fürs Weiterdiskutieren. Es herrscht ganz offensichtlich ein Bedürfnis nach Horizontalität in der Kommunikation, das einem ebenso tiefen Bedürfnis nach Herstellung von Horizontalität in der Gesellschaft entspricht, was dann letztlich nichts anderes wäre als das uralte Streben nach der gerechten Gesellschaft, auch wenn es dem Beobachter nicht in einem politisch-kämpferischen Sprachgewand, sondern eher als romantische Sehnsucht begegnet.
Heute am 71. März 2016 (also am 10. Mai, denn der Nuit-Debout-Kalender zählt die Märztage endlos weiter, um die Permanenz des Prozesses symbolisch auszudrücken) lebt die Bewegung täglich und nächtlich weiter. Ab Mittags um 12 Uhr tagen Arbeitsgruppen, deren Ergebnisse dann abends im Plenum vorgetragen und vertieft werden. Das Spektrum ist breit: Arbeitsrechtskritik, Rolle der Gewerkschaften, Feminismus, Islamismus, Rolle Frankreichs in Afrika, Vegetarismus, Kritik der Verfassung, Rolle der Armee, der Polizei…, digitale Plattformen werden gegründet, um die Diskussionen fortführen zu können.
Wie ist diese in Frankreich neue Bewegung nun einzuschätzen? Zunächst einmal kann man feststellen, dass sie ein weiteres Beispiel dafür ist, dass in vielen europäischen Staaten die Strategie weiter Teile der Sozialdemokratie, einen „Konsens der Mitte“ zu finden, gescheitert ist und eine „Krise der Repräsentativität“(Chantal Mouffe) hervorgebracht hat. Tony Blair mit seinem „New Labour“, Schröders „Neue Mitte“, Zapateros Gestaltungsverzicht in der Wirtschaftspolitik Spaniens, selbst die zahm gewordenen Sozialdemokratischen Parteien in Skandinavien – überall kann man diese Orientierung zur „Mitte“ feststellen. In Frankreich ist Emanuel Macron, der Wirtschaftsminister, die Galionsfigur dieser politischen Philosophie. Letzterer ist im Übrigen ein aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat, falls Hollande doch nicht kandidieren sollte; ansonsten baut er sich schon jetzt für 2022 auf. In einem Interview mit der Libération meint Chantal Mouffe: Wenn wir akzeptieren würden, dass „wir alle Mittelklasse“ (Tony Blair) sind, dann würden wir uns an der Verbreitung der „Illusion des Consensus“ (so der Titel des soeben erschienenen Buches von Chantal Mouffe) beteiligen. In der Politik herrsche per Definition der Antagonismus, der Konflikt. Man müsse deshalb die Demokratie radikalisieren („radicaliser la démocratie“), ohne unbedingt mit den Institutionen der Demokratie zu brechen. Man müsse, zum Beispiel auch bei Wahlen und durch direkte Partizipation, eine wirkliche Wahl zwischen verschiedenen politischen Projekten haben und – mit Blick auf Frankreich – stelle sich auch die Frage, ob das parlamentarische oder das präsidentielle das bessere System sei.
Mouffe vergleicht in der Libération verschiedene soziale Bewegungen wie „Occupy“, die spanischen „Indignados“ und auch „Nuit Debout“ und sieht dort ein Verlangen („une aspiration“) nach mehr Demokratie aber paradoxerweise begäben dies Bewegungen sich oft in die Logik der Konsenssuche („ils s’inscrivent le plus souvent dans une logique de recherche du consensus“). Wichtig aber sei, die sozialen Bewegungen mit bestimmten Formen des parlamentarischen Engagements zu verbinden („d’articuler le vertical et l’horizontal“). Man muss, so Mouffe weiter, das überkommene Rechts-Links-Schema überwinden und eine neue politische Frontlinie zwischen Bevölkerung und Elite finden, die man auch Linkspopulismus („populisme de gauche“) nennen könne, um so die Widerstände gegen die neoliberale Hegemonie wirksam bündeln zu können. Als Beispiel nennt sie Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland; in Frankreich könnten Bewegungen wie „Nuit Debout“ und Politiker wie Melenchon Bündnisse eingehen: „En France, ce populisme de gauche pourrait être incarné par la jonction entre des mouvements comme Nuit debout et le projet politique de Jean-Luc Melenchon.“ (alle Zitate: Chantal Mouffe in „Libération“ vom 16./17. April 2016, S. 22f)
Der Optimismus von Chantal Mouffe ist mir sehr sympathisch. Nuit Debout steht noch ganz am Anfang. Bislang ist das Prinzip der Horizontalität so dominant, dass jeder, der vor der Presseöffentlichkeit etwas über die Ziele von Nuit Debout sagt, in der nächsten Vollversammlung gerügt wird: Es gebe niemanden, der legitimiert sei, für die Bewegung zu sprechen. Die meisten meiner Freunde und Nachbarn in „meinem“ Dorf haben überhaupt keine dezidierte Meinung. Bei der Mehrheit derer, die sich „unpolitisch“ versteht, kommt die Rede oft auf die nächtlichen Auseinandersetzungen zwischen „Autonomen“ und „Schwarzem Block“ mit der wenig zimperlichen CRS-Polizei (kasernierte „republikanische Sicherheitskompanien“). Obwohl Nuit-debout-Teilnehmer alles tun, dass die Versammlungen selbst und auch das Danach friedfertig abläuft, prägen die Bilder von Gewaltakten im Fernsehen (Steinewerfer, zerbrochene Scheiben von Geschäften, Tränengasschwaden) ein negatives Urteil. André (41) aus der Modebranche, der in „meinem“ Dorf mit seiner Freundesclique ein Wochenendhaus hat, ist im Prinzip ein Sympathisant von Nuit debout. In Paris wohnt er mit Mann und zwei kleinen Kindern direkt an der Place de la République. Nach fünf Wochen täglicher Polizeipräsenz, Sirenenlärm, geschlossenen Läden und Tränengasbelästigung ziehen sie um in eine ruhigere Vorstadt.
Nuit Debout gibt es inzwischen in vielen französischen Städten. Selbst in unserem nächsten Kreisstädtchen Uzès (8500 Einwohner) versammeln sich jeden Mittwoch und Sonntag zwischen 10 und 15 Personen, besprechen lokale, nationale und internationale Probleme und sind offen für jeden neugierigen Passanten.
Auch in Nîmes, unserer Departementshauptstadt (145 000 Einwohner) wird der „rêve général“ (= allgemeiner Traum) propagiert, ein Wortspiel zu „grève général“ (Generalstreik). Hier treffen sich mal nur 70, mal über 200 Menschen regelmäßig. Jüngstes Problem: In Nîmes findet an Pfingsten die viertägige Féria statt: Umzüge, Stiertreiben in den Straßen, Feiern in den Kneipern und vor allem die besten spanischen Stierkämpfer kommen in die Arena und töten zwecks Volksbelustigung mächtige Stiere. Nuit Debout Nîmes hat überlegt, wie man sich verhalten soll. Im „midi libre“, der im Übrigen erstaunlich positiv berichtete, wird eine Aktivistin mit folgenden Worten zitiert: „Wir haben überlegt, ob wir an dem Umzug teilnehmen sollen, aber wir wissen noch nicht, mit welcher Botschaft“ („midi libre“ vom 7. Mai 2016, S. 5)