Franz von Assisi: Reichtum, Freude, Rebellion
Man kann reisen, um sich zu zerstreuen und zu vergnügen oder um einfach Zeit totzuschlagen, die man zuvor „hereingearbeitet“ hat. Man kann reisen, um Sensationen zu suchen, sich das höchste Gebäude, die längste Mauer anzuschauen oder den ultimativen Nightlife-Kick zu erleben. All das ist legitim, aber vielen Reisenden genügt das heute nicht mehr. Sie reisen bewusst an Orte, die anders sind als andere, gleichsam von einer dichteren Energie erfüllt. Solche Orte können uns unverhofft in einen Raum der Stille und der Gottesberührung katapultieren, wie man es sonst nur durch intensives Meditieren erreicht. Für uns ist Assisi, die Geburtsstadt des heiligen Franz, ein solcher Ort.
In der Unterkirche der Basilica San Francesco in Assisi weist ein kleines Schild mit der Aufschrift „Krypta“ den Weg in ein Kellergewölbe. Steigt man hinab, gelangt man in einen Raum mit Wänden aus rohem Stein, nur von ein paar Kerzen erleuchtet. Gebetsbänke vor einem schlichten Altar, hinter dessen turmförmigem Aufbau sich die Überreste des Franz von Assisi befinden sollen. Doch welch ein Schatz ist dort aufbewahrt! Kaum hatten wir damals die Gruft betreten, war es, als wären wir in eine „dichtere“, geradezu leuchtende Atmosphäre eingetaucht. In unseren Händen und Füßen fühlten wir ein starkes Strömen von Energie. Viel bemerkenswerter aber war die Wirkung dieses besonderen „Energiefelds“ auf unseren Geist. Ein wunderbares Gefühl von innerem Frieden, von Angekommensein breitete sich in uns aus. Egal, ob wir aufstanden und das Grab umrundeten, oder ob wir einfach still dasaßen, miteinander flüsterten oder beteten – es hörte nicht auf. Ohne dass wir es erwartet hätten, war es, als würde eine tiefe Heilung und Reinigung stattfinden. Als hätte uns der heilige Franz einen Segen erteilt.
Franz von Assisi starb im Jahr 1226. Zwei Jahre danach begann man mit dem Bau einer großen Basilika. 1230 war die Unterkirche so weit fertig, dass man den Leichnam des Heiligen aus San Giorgio hierher überführte. Aus Angst vor Grabschändung hielt man die Stätte lange geheim. Erst 1818 entdeckte man die Gebeine bei Grabungen genau unter dem Altar. Wir können also davon ausgehen, dass wir es hier mit einer echten Reliquie zu tun haben – mit den sterblichen Überresten eines heiligen Mannes.
Wir lieben seit damals diesen Heiligen, der den Vögeln predigte, Wölfe zähmte und Hymnen an die Sonne, den Wind und die Wolken verfasste. Ein Heiliger, der sich in aller Öffentlichkeit auf dem Markplatz nackt auszog, der nicht nur das Erbe seines reichen Vaters ausschlug, sondern diesem auch noch die Kleider zurückgab – zum Zeichen seines vollständigen Rückzugs aus der Welt der materiellen Dinge. Ein Heiliger, der in den Träumen des Papstes erschien und gegen große Widerstände die Anerkennung seines Ordens erlangte. Ein Heiliger, der sich mit Haut und Haar seinem geliebten Jesus übergab. Ein Heiliger, der die Wunden von Leprakranken pflegte und küsste. Dieser Heilige stellte sich hin und predigte, und von irgendwoher bekamen seine Worte eine solche Kraft, dass diejenigen, die Reichtum im Überfluss besaßen, ihre warmen Umhänge auszogen und sie den Frierenden um die Schultern legten. Oder sie zogen ihre Geldbeutel aus den Taschen und gaben sie den Bettelnden in die Hände. Und dabei weinten sie, die Reichen wie die Armen, und umarmten einander.
Nach unserem Erlebnis in der Krypta setzten wir unsere Pilgerreise fort und besuchten die meisten wichtigen Schauplätze der Lebensgeschichte des Heiligen. Wir besuchten La Verna, das nördlich des Trasimener Sees gelegene Franziskanerkloster, wo Franz die Wundmale in einer überwältigenden Lichterscheinung empfangen haben soll. Hier, in diesen zeitlosen Gemäuern, bekamen wir mehr noch als in Assisi ein Gespür dafür, wie das Leben von Franz wirklich gewesen sein könnte. In einer Waldhöhle konnten wir das „Bett“ des Heiligen besichtigen: eine Steinplatte.
In der Kapelle der Stigmata, einem sehr schlichten kleinen Gebetshaus, war das Gefühl wieder da, dieses Eintauchen in einen Raum tiefen Friedens und umfassender Güte, das zugleich mit einem strömenden Gefühl im ganzen Körper verbunden war. An allen diesen Stätten des heiligen Franz war es mehr oder weniger deutlich spürbar – dieser Anflug des „himmlischen Friedens“. Die Eremitage „Santa Maria delle Carceri“, hoch über den Hügeln von Assisi gelegen, beeindruckte uns besonders als Ort der Weltreligionen. Hier finden regelmäßig Zusammenkünfte von Vertretern verschiedenster Glaubensbekenntnisse statt. Es gibt dort eine schöne Skulptur, die den heiligen Franz inmitten eines Mandalas zeigt, in das die Zeichen der Weltreligionen eingeflochten sind.
Wie wurde aus Giovanni Battista Bernardone der heilige Franz von Assisi? Wir wissen, dass er als Sohn des Tuchhändlers Pietro und seiner französischen Mutter Pica im Jahr 1182 geboren wurde und in seiner Jugend der Anführer der gut situierten Jugend von Assisi war. Von 1198 bis 1200 nahm er an den bewaffneten Konflikten des Bürgerkrieges teil, wurde von den feindlichen Truppen gefangen genommen und blieb ein Jahr in Kriegsgefangenschaft in Perugia. Er kam verändert, krank und vielleicht auch verstört zurück.
Im Jahr 1205 zog Franz nach Apulien, um zu kämpfen und Ritter zu werden. Inspiriert von einem Traum, verschenkte er jedoch seine Rüstung, küsste einen Aussätzigen und kehrte nach Assisi zurück. Bald darauf traten die ersten Visionen in sein Leben. Jesus selbst sprach zu ihm, die Holzfigur an einem Kruzifix von San Damiano wurde lebendig und richtete eindeutige Worte an den jungen Franz: „Du sollst mein Haus wieder aufbauen!“ In den Überlieferungen ist die Rede von einem überwältigenden Verzückungserlebnis während der Erscheinung, die Franz von nun an jedes Interesse an weltlichen Dingen verlieren ließ. Dass Franz dennoch Sinn für das Praktische behielt, erkennt man daran, dass er die Worte Jesu zunächst ganz pragmatisch verstand: In den Jahren 1206 bis 1208 restaurierte er eigenhändig mit Mörtel und Backsteinen die baufälligen Kirchen von San Damiano, Santa Maria degli Angeli und San Pietro della Spina.
Er zog sich immer wieder in die Einsamkeit der Hügel Umbriens zurück und fand bald Anhänger und Freunde, die sich ihm und seiner Lehre der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams anschlossen. Die Brüder machten sich jeweils zu zweit als Wanderprediger auf den Weg. 1209 bestätigte Papst Innozenz III. nach einem prophetischen Traum die ersten Ordensregeln der Franziskaner. Die Brüder ließen sich in Portiuncula, in der Nähe von Assisi nieder.
In den Jahren von 1212 bis 1219 unternahm Franz ausgedehnte Missionsreisen, bei denen er sich zum Teil schwere Erkrankungen zuzog. 1223 entwarf er eine neue Version der Ordensregeln für die nun mehr als fünftausend Brüder. Zu Weihnachten ließ Franz eine „lebende“ Weihnachtskrippe in Greccio aufstellen und hielt eine so inspirierende Ansprache, dass mehrere Besucher meinten, ein echtes, lichtstrahlendes Jesuskind in der Krippe liegen zu sehen. 1224 fastete Franz vierzig Tage lang auf dem Berg La Verna und empfing die Wundmale. 1225 erkrankte er wiederum schwer und verfasste den berühmten Sonnengesang. Am Abend des 3. Oktober 1226 starb er. Bereits am 16. Juli 1228 wurde er von Papst Gregor IX. heiliggesprochen.
Inspirierend sind auch die Geschichten und Legenden, die sich um den Heiligen ranken. Wie mag es gewesen sein, als er mit einem Bruder unterwegs war und den Vögeln predigte, die plötzlich in großer Zahl herbeigeflogen kamen? Wie mag es für den Leprakranken gewesen sein, als einer kam und ihn, anstatt aus Angst und Ekel davonzulaufen, in die Arme nahm, ihn wusch und küsste, sanft und voller Respekt? Wie mag es gewesen sein, als die junge und schöne Klara zu ihm kam und von ihrer großen Liebe zu Jesus sprach, die sie mit ihm teilen wollte?
Der Franziskaner-Orden ist vor allem wegen seiner Armuts-Regel bekannt. Man könnte dies als Antwort auf die Neigung des menschlichen Gemüts verstehen, zu meinen, niemals genug zu haben: nicht genug zu essen, nicht genug anzuziehen, nicht genug Möbel, Wertpapiere oder Geld auf dem Bankkonto, nicht genug Erlebnisse und Genüsse. Armut ist somit eine Antwort auf die Geistesgifte Gier und Neid. Bis heute ist das Armutsgebot der Franziskaner eine Provokation für die kapitalistische Gesellschaft und auch für eine Kirche, die Reichtümer hortet und sich in Prunkentfaltung gefällt.
Das Gebot der Keuschheit erweitert diese Medizin gegen die Gier auch auf körperliche Begierden. Freilich müssen nicht alle Verehrer des heiligen Franz selbst im Zölibat leben. Aber vielleicht hat jeder von uns auch schon einmal erlebt, dass die übertriebene Fixierung auf körperlichen Genuss den Geist verwirrt und vom Wesentlichen ablenkt – nämlich von der Liebe.
Wenig beliebt ist auch der Gehorsam. Aber wem soll denn gehorcht werden? Niemand anderem als Gott selbst, und Franz war ein gutes Beispiel dafür. Seine innerste Stimme hat in ihm den Wunsch erweckt, das Leid anderer Wesen zu lindern. Wir wissen natürlich alle, dass Gehorsam, wenn er sich auf Menschen richtet, auch ein gefährlicher Irrweg sein kann – etwa in Diktaturen oder beim Militär. Zu wenig beachtet wird aber im Zeitalter des Individualismus, wie heilsam richtig verstandener Gehorsam für eine Seele sein kann, die sich zurück nach Hause sehnt.
Herausragendes Merkmal Franz von Assisis ist auch seine Naturliebe. Er sieht in allen Tieren und Pflanzen, aber auch in den Naturerscheinungen – Sonne, Mond, Wind und Meer – Schöpfungen Gottes, denen sich der Mensch in Liebe und Ehrfurcht zuwenden soll. Die unselige Spaltung zwischen dem „guten“ Geist und der „bösen“ Materiewelt ist bei Franz überwunden. Schon ein kurzer Ausschnitt aus dem berühmten „Sonnengesang“ des heiligen Franz zeigt, „wes Geistes Kind“ er ist:
Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns ernähret und trägt
und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.
Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen
und Krankheit ertragen und Drangsal.
Selig jene, die solches ertragen in Frieden, denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt werden.
Manchmal hört man, Jesus selbst habe sich in diesem Franz von Assisi verkörpert. Seine ritterliche Bereitschaft, der „Herrin der Liebe“ zu dienen und nur ihr, seine Botschaft der Liebe, die er in der Krypta hinterlassen hat, all das spricht eine eigene Sprache. Gehorsam hat mit Hören auf diese Sprache zu tun, Keuschheit mit Gefühlen innigster Liebe und Armut mit dem unendlichen Reichtum einer Seele, die ihren Weg nach Hause gefunden hat. Vielleicht ist es so einfach.
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